Im Rahmen dieser Arbeit sollen wesentliche Ursachen für die sinkende Tarifbindung in Deutschland ermittelt und untersucht werden. Hierzu werden Standpunkte aus der Literatur aufgegriffen, kritisch untereinander verglichen und zu einer Argumentationslinie zusammengeführt. Zusätzlich werden die Ergebnisse relevanter Studien und eigene Überlegungen eingebracht. Das Ziel dieser Arbeit ist nicht die Entwicklung vollumfänglicher Lösungsansätze für die identifizierten Probleme. Dennoch sollen Lösungsideen punktuell dargestellt und hinterfragt werden. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt insbesondere auf der Tarifbindung der Arbeitgeberseite, trotzdem bleibt die Arbeitnehmerseite nicht unbeachtet. Es wird zunächst Fachwissen über Tarifverträge und das Tarifvertragsgesetz vermittelt, bevor eine nähere Untersuchung der sinkenden Tarifbindung folgt.
Eine Tarifbindung geht für Arbeitnehmer mit zahlreichen Vorteilen einher. So müssen tarifgebundene Arbeitnehmer in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie nur 35 Stunden pro Woche arbeiten, haben sechs Wochen Urlaubsanspruch pro Jahr und erhalten ein zusätzliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Dagegen arbeiten Vollzeitbeschäftigte in Deutschland im Durchschnitt 41 Stunden pro Woche. Der gesetzliche Mindesturlaub umfasst lediglich vier Wochen und es besteht auch kein gesetzlicher Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Zudem erhalten tarifgebundene Arbeitnehmer häufig höhere Löhne und Gehälter.
Aber auch Arbeitgeber können in verschiedenen Hinsichten von einer Tarifbindung profitieren. Dadurch, dass die Arbeitsbedingungen kollektiv ausgehandelt werden, kann ein Unternehmen, abhängig von der Beschäftigtenzahl, unter Umständen hohe Transaktionskosten einsparen. Des Weiteren sind während der Laufzeit eines Tarifvertrags Streikmaßnahmen untersagt, sodass Produktionsausfälle reduziert und die Planbarkeit verbessert werden kann. Durch die Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen wird die Betriebsplanung zudem vereinfacht. Da die Vorteile einer Tarifbindung bei den Arbeitnehmern bekannt sind, verbessert diese außerdem das Arbeitgeberimage.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Tarifverträge und Tarifvertragsrecht
2.1 Tarifbindung
2.2 Wege aus der Tarifbindung
2.3 Flächen- und Firmentarifverträge
2.4 Abweichungen vom Tarifvertrag
3 Sinkende Tarifbindung in Deutschland
3.1 Unzureichende Flexibilität der Flächentarifverträge
3.2 Mitgliedschaften ohne Tarifbindung
3.3 Arbeitnehmerseitiges Trittbrettfahrerverhalten
4 Fazit
Anhang
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Eine Tarifbindung geht für Arbeitnehmer mit zahlreichen Vorteilen einher. So müssen tarifgebundene Arbeitnehmer in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie (M+E- Industrie) nur 35 Stunden pro Woche arbeiten, haben sechs Wochen Urlaubsanspruch pro Jahr und erhalten ein zusätzliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld (Meine, 2018, S. 131). Dagegen arbeiten Vollzeitbeschäftigte in Deutschland im Durchschnitt 41 Stunden pro Woche (Destatis, 2020). Der gesetzliche Mindesturlaub umfasst lediglich vier Wochen und es besteht auch kein gesetzlicher Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubs- oder Weihnachtsgeld (Meine, 2018, S. 131). Zudem erhalten tarifgebundene Arbeitnehmer häufig höhere Löhne und Gehälter (IG Metall, 2018).
Aber auch Arbeitgeber können in verschiedenen Hinsichten von einer Tarifbindung profitieren. Dadurch, dass die Arbeitsbedingungen kollektiv ausgehandelt werden, kann ein Unternehmen, abhängig von der Beschäftigtenzahl, unter Umständen hohe Transaktionskosten einsparen (Franzen, 2018, S. 17). Des Weiteren sind während der Laufzeit eines Tarifvertrags (TV) Streikmaßnahmen untersagt (Renneberg, 2018, S. 56), sodass Produktionsausfälle reduziert und die Planbarkeit verbessert werden kann. Durch die Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen wird die Betriebsplanung zudem vereinfacht. Da die Vorteile einer Tarifbindung bei den Arbeitnehmern bekannt sind, verbessert diese außerdem das Arbeitgeberimage.
Trotz der Vorteile für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sinkt die Tarifbindung in Deutschland seit mehr als 20 Jahren. Während im Jahr 1998 noch 53 Prozent aller Betriebe in Westdeutschland tarifgebunden waren (Bispinck et al., 2016, 1.9), lag der Wert 2019 nur noch bei 29 Prozent (Kohaut, 2020). Auch auf der Arbeitnehmerseite ist ein ähnlicher Entwicklungsverlauf zu beobachten (Biebeler & Lesch, 2015, S. 711).
Im Rahmen dieser Arbeit sollen wesentliche Ursachen für die sinkende Tarifbindung in Deutschland ermittelt und untersucht werden. Hierzu werden Standpunkte aus der Literatur aufgegriffen, kritisch untereinander verglichen und zu einer Argumentationslinie zusammengeführt. Zusätzlich werden die Ergebnisse relevanter Studien und eigene Überlegungen eingebracht. Das Ziel dieser Arbeit ist nicht die Entwicklung vollumfänglicher Lösungsansätze für die identifizierten Probleme. Dennoch sollen Lösungsideen punktuell dargestellt und hinterfragt werden. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt insbesondere auf der Tarifbindung der Arbeitgeberseite, trotzdem bleibt die Arbeitnehmerseite nicht unbeachtet. Im nachfolgenden Teil 2 wird zunächst Fachwissen über TV und das Tarifvertragsgesetz (TVG) vermittelt, welches für die in Teil 3 folgende Untersuchung der sinkenden Tarifbindung benötigt wird.
2 Tarifverträge und Tarifvertragsrecht
Im Jahr 2018 galten in Deutschland mehr als 77.000 TV (Schulten et al., 2019, 1.3). Auch wenn die Tarifbindung seit vielen Jahren sinkt, sind TV keineswegs irrelevant geworden und nehmen weiterhin eine zentrale Rolle im deutschen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis ein. In der Praxis werden in TV unterschiedlichste Vereinbarungen zur Regelung der Arbeitsbedingungen getroffen. Typischerweise zählen hierzu z.B. Vereinbarungen über die Arbeitszeiten, das Arbeitsentgelt oder berufliche Weiterbildungsmaßnahmen (Zachert, 1979, S. 115). Wie Renneberg (2018, S. 61) verdeutlicht, werden aber auch Themen wie die Altersvorsorge, Standortsicherung und der Arbeitsschutz in TV geregelt.1 Diringer (2019, S. 327) stellt dar, dass TV nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar wirken, es ist also nicht notwendig, dass im individuellen Arbeitsvertrag die Wirkung des TV noch einmal explizit vereinbart wird. Außerdem bestehe eine zwingende Wirkung des TV, d.h. es darf grundsätzlich weder durch den Arbeitsvertrag noch durch Betriebsvereinbarungen von den Vereinbarungen des TV abgewichen werden. Diese Thematik wird in Teil 2.4 erneut aufgegriffen.
In § 2 Abs. 1 TVG werden die Tarifvertragsparteien (TVParteien) bestimmt. Auf der Arbeitnehmerseite dürfen TV ausschließlich durch Gewerkschaften (GW) abgeschlossen werden. Auf der Arbeitgeberseite kann die TVPartei entweder ein Arbeitgeberverband (AGV) oder aber ein Unternehmen selbst sein.
Ein TV ist das Resultat einer erfolgreich abgeschlossenen Tarifrunde. Tarifrunden finden i.d.R. alle ein bis zwei Jahre statt und umfassen den gesamten Prozess von der Formulierung der Forderungen, über die Verhandlungsgespräche bis hin zum abgeschlossenen TV (Bispinck et al., 2009, S. 284). Während der Laufzeit des TV gilt eine Friedenspflicht. Diringer (2019, S. 326 f.) verdeutlicht, dass die (relative) Friedenspflicht die TVParteien dazu verpflichtet, während der Vertragslaufzeit keine Arbeitskampfmaßnahmen gegen bereits geregelte Themenbereiche einzuleiten.2 In Deutschland gilt die sog. Tarifautonomie, d.h. die TVParteien verhandeln und unterzeichnen TV frei von staatlichen Eingriffen (Gaugler et al., 2004, S. 1870). Die Tarifautonomie lässt sich, wie Engels (2016, II. 3.) darstellt, aus dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) ableiten.
2.1 Tarifbindung
Der § 3 Abs. 1 TVG regelt, dass die Mitglieder der GW und AGV allein durch ihre Mitgliedschaft tarifgebunden sind. Wenn also bspw. ein Unternehmen Mitglied im AGV Südwestmetall ist und Südwestmetall schließt mit einer GW für einen Geltungsbereich, in den das Unternehmen fällt, einen TV ab, dann ist das Unternehmen automatisch an diesen TV gebunden. In Teil 2.2 wird mit der Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) eine Ausnahme hiervon vorgestellt. Ebenso ist ein Unternehmen tarifgebunden, wenn es unabhängig von einem AGV direkt mit der GW einen TV abschließt (§ 3 Abs. 1 TVG).
Ein Unternehmen muss gegenüber einem Arbeitnehmer nur dann die Tarifleistungen erbringen, wenn sowohl das Unternehmen selbst, als auch der Arbeitnehmer an denselben TV gebunden sind (§ 4 Abs. 1 TVG). Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer, der für einen tarifgebundenen Arbeitgeber arbeitet, keinen rechtlichen Anspruch auf die Tarifleistungen hat, wenn er selbst nicht Mitglied der tarifschließenden GW ist. Wie Diringer (2019, S. 336) jedoch feststellt, nehmen in der betrieblichen Realität die meisten tarifgebundenen Unternehmen durch eine entsprechende Klausel im Arbeitsvertrag Bezug auf den geltenden TV. Dies führe dazu, dass auch Arbeitnehmer, welche nicht in der GW organisiert sind, die Tarifleistungen erhalten. Die Hauptgründe für dieses Vorgehen seien, dass Arbeitgeber so einheitliche Arbeitsbedingungen im Betrieb etablieren können3 und zudem ihren Mitarbeitern keinen Anreiz geben, einer GW beizutreten.4
Ein wichtiger Sonderfall der Tarifbindung sind Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Das Bundesministerium für Arbeit- und Soziales kann einen TV für allgemeinverbindlich erklären, insofern dies „im öffentlichen Interesse geboten erscheint“ (§ 5 Abs. 1 TVG).5 Es wird vorausgesetzt, dass die TVParteien gemeinsam die Allgemeinverbindlichkeit beantragen und die „Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber“ zustimmen (§ 5 Abs. 1 TVG). Nach § 5 Abs. 4 TVG ist die Folge einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung, dass auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die bisher aufgrund einer fehlenden Mitgliedschaft bei den TVParteien nicht in den Geltungsbereich des TV fielen, tarifgebunden sind.
2.2 Wege aus der Tarifbindung
In der Literatur und den Medien wird häufig von der „Tarifflucht“ gesprochen. Der Begriff beschreibt den gezielten Ausstieg eines Arbeitgebers aus der Tarifbindung (Bispinck et al., 2009, S. 283). In der Praxis kann die Tarifflucht z.B. durch einen Austritt aus dem AGV realisiert werden. Allerdings endet mit dem Verbandsaustritt nicht direkt die Tarifbindung, denn zunächst setzt in diesem Fall die sog. Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) ein. Das TVG regelt, dass die Tarifbindung solange weiterbestehen bleibt, bis der TV endet. Wie Höpfner (2016, C. I.) einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entnimmt, verfolgt die Nachbindung das Ziel, die Tarifflucht einzuschränken und das Tarifsystem abzusichern.
Rund 34 Prozent der AGV bieten auch eine OT-Mitgliedschaft an (Deinert & Walser, 2015, S. 24). Unternehmen können durch einen Wechsel aus der tarifgebundenen Mitgliedschaft (T-Mitgliedschaft) in die OT-Mitgliedschaft die Tarifbindung beenden. Da auch bei einem solchen Wechsel zunächst eine Nachbindung einsetzt, wird die Tarifbindung nicht unmittelbar beendet. Wie Deinert & Walser (2015, S. 29 f.) erläutern, können OT-Mitgliedschaften entweder über ein Stufen- oder ein Aufspaltungsmodell realisiert werden. Beim Stufenmodell würden sowohl eine T-Mitgliedschaft wie auch eine OT-Mitgliedschaft im selben Verband angeboten. Dagegen würde beim Aufspaltungsmodell ein zusätzlicher Verband ohne Tarifbindung gegründet. In der Praxis dominiere die Anwendung des Stufenmodells. Das BAG hält beide Modelle für erlaubt, solange gewährleistet wird, dass OT-Mitglieder keinen unmittelbaren Einfluss auf Entscheidungen über Tarif- und Arbeitskampfthemen nehmen können (IG Metall, 2021a).
Häufig, aber nicht immer, werden TV für eine begrenzte Laufzeit abgeschlossen.6 Insofern ein Unternehmen selbst TVPartei ist, kann die Tarifbindung beendet werden, indem das Unternehmen den Vertrag auslaufen lässt und keinen neuen Vertrag abschließt (Diringer, 2019, S. 331). Ebenso wird in TV häufig die Möglichkeit eingeräumt, den TV durch Kündigung zu beenden. Allerdings regelt § 4 Abs. 5 TVG eine sog. Nachwirkung. Auch wenn ein TV endet, gelten dessen Vereinbarungen zeitlich unbefristet weiter, bis ein nachfolgender TV abgeschlossen wird. Alternativ räumt das TVG aber, wie Bispinck et al. (2009, S. 279) aufzeigen, auch die Möglichkeit ein, die Vereinbarungen des nachwirkenden TV z.B. durch Vereinbarungen im Arbeitsvertrag abzulösen. Diringer (2019, S. 331) erläutert, dass der Arbeitnehmer durch die neuen Vereinbarungen auch schlechter gestellt werden darf als zuvor.
2.3 Flächen- und Firmentarifverträge
Wenn die TVParteien eine GW und ein AGV sind, dann handelt es sich hierbei um einen Flächentarifvertrag (FlächenTV) – oft auch Branchen- oder Verbandstarifvertrag genannt. Zu Beginn jedes TV wird im schuldrechtlichen Teil dessen Geltungsbereich definiert. Der Geltungsbereich unterteilt sich in die räumliche, sachliche, persönliche und zeitliche Dimension (Diringer, 2019, S. 329 ff.). Bei dem im Anhang A beigefügten Ausschnitt aus einem TV lässt sich am räumlichen und sachlichen Geltungsbereich erkennen, dass es sich um einen FlächenTV handelt. Der TV ist gültig für alle Betriebe in Südbaden (räumlich), die selbst bzw. deren Inhaber Mitglied im AGV Südwestmetall (sachlich) sind (IG Metall Baden- Württemberg, 2005, S. 1). Der persönliche Geltungsbereich wird so festgelegt, dass nur IG Metall Mitglieder einen Tarifanspruch haben. Der zeitliche Geltungsbereich regelt generell die Laufzeit und Kündigung, so wie es in Teil 2.2 bereits beschrieben wurde.
Insofern ein Unternehmen nicht durch eine Mitgliedschaft im AGV tarifgebunden ist und stattdessen direkt mit der GW einen individuellen TV aushandelt, wird von Firmen- bzw. Haustarifverträgen gesprochen. Wie Meine (2018, S. 122) darstellt, ist das Zustandekommen von Firmentarifverträgen (FirmenTV) sowohl für den Arbeitgeber, wie auch für die GW mit erheblichem Aufwand verbunden, weshalb beide Parteien in der Praxis meistens den Weg der FlächenTV bevorzugen. Im Jahr 2018 waren in Westdeutschland nur knapp sieben Prozent aller tarifgebundenen Betriebe durch einen FirmenTV gebunden (Schulten et al., 2019, 1.9; eigene Berechnung). Wie Meine (2018, S. 122) weiter erläutert, zeigen GW in der Praxis i.d.R. keine Bereitschaft, im Rahmen von FirmenTV die Tarifleistungen in vergleichbaren FlächenTV zu unterschreiten. Neben dem hohen Aufwand haben FirmenTV für Arbeitgeber außerdem den Nachteil, dass Tarifkonflikte direkt im eigenen Haus und nicht distanziert durch einen AGV geführt werden, worunter der Betriebsfrieden leiden kann. In FirmenTV kann generell individueller auf die Betriebssituation eingegangen werden, wie im nachfolgenden Abschnitt jedoch verdeutlicht wird, bestehen durchaus auch Möglichkeiten, den FlächenTV flexibel einzusetzen.
2.4 Abweichungen vom Tarifvertrag
Wie bereits dargestellt, dürfen in Arbeitsverträgen und Betriebsvereinbarungen grundsätzlich keine Regelungen getroffen werden, die vom TV abweichen. Durch § 4 Abs. 3 TVG wird aber die Möglichkeit eingeräumt, zugunsten des Arbeitnehmers vom TV abzuweichen. Z.B. darf im Arbeitsvertrag ein höheres Gehalt vereinbart werden. Außerdem wird die Möglichkeit zur Nutzung von Öffnungsklauseln eingeräumt, d.h. insofern der TV eine entsprechende Klausel enthält, darf im Arbeitsvertrag oder einer Betriebsvereinbarung auch zum Nachteil des Arbeitnehmers abgewichen werden (Greiner, 2016, D. II. 2.). Wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch gezeigt wird, gewinnen Öffnungsklauseln zunehmend an Bedeutung. Sie können genutzt werden, um FlächenTV flexibler zu gestalten, sodass Anpassungen an die individuelle betriebliche Situation möglich sind (Natzel, 2016, I.). Oft werden Öffnungsklauseln als sog. Härtefallklauseln ausgestaltet. Diese zielen darauf ab, Betrieben in Notsituationen eine vorübergehende Unterschreitung der Tarifleistungen zu ermöglichen (Bispinck et al., 2009, S. 280).
Abweichungen von den Vereinbarungen des FlächenTV sind außerdem durch Ergänzungstarifverträge möglich. Ergänzungstarifverträge werden von der GW und dem AGV zusätzlich zum geltenden FlächenTV für ein einzelnes Unternehmen abgeschlossen (Bispinck et al., 2009, S. 275; METALL NRW, 2004). Die darin getroffenen Vereinbarungen gelten vorrangig vor den Vereinbarungen des FlächenTV (IG Metall Baden-Württemberg, 2010). Wie Meine (2018, S. 129 f.) darstellt, schließt die IG Metall zur Vermeidung von Arbeitsplatzverlusten in Härtefällen Ergänzungstarifverträge7 ab, durch die tarifliche Einmalleistungen wie das Weihnachtsgeld temporär ausgesetzt oder reduziert werden können. Ergänzungstarifverträge würden allerdings nicht nur in Krisenfällen abgeschlossen. Betriebe könnten durch solche Verträge auch entlastet werden, um Investitionen, welche die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit und den Standort stärken, zu finanzieren.
3 Sinkende Tarifbindung in Deutschland
Eine Untersuchung der Tarifbindung verlangt eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite. Wie in Teil 2.1 dargestellt, ist die Tarifbindung der Arbeitnehmer an eine Gewerkschaftsmitgliedschaft gekoppelt, es ist also der Organisationsgrad der Arbeitnehmer in GW zu untersuchen. Zur Untersuchung der arbeitgeberseitigen Tarifbindung muss spiegelbildlich der Organisationsgrad der Arbeitgeber in AGV, zusätzlich jedoch auch das direkte Verhältnis zwischen Unternehmen und GW, analysiert werden. Obgleich ein TV nur dann verpflichtend wirkt, wenn sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer tarifgebunden sind (§ 4 Abs. 1 TVG), soll der Fokus der nachfolgenden Untersuchung auf der Arbeitgeberseite liegen. Dennoch wird in Teil 3.3 auch eine Ursache sinkender arbeitnehmerseitiger Tarifbindung erörtert, welche jedoch im Verhalten der Arbeitgeberseite ihren Ursprung findet.
Im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit führt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB, 2021) einmal jährlich das IAB-Betriebspanel durch, bei welchem ca. 16.000 zufällig ausgewählte Betriebe in West- und Ostdeutschland unter anderem zu Tarifthemen mündlich befragt werden. Die Ergebnisse des IAB-Betriebspanels, welche im Anhang B zu finden sind, zeigen, dass der Anteil der tarifgebundenen Betriebe sowohl in West- wie in Ostdeutschland in den vergangenen 20 Jahren gesunken ist. Während in Westdeutschland im Jahre 1998 noch 53 Prozent (Ostdeutschland: 30 Prozent) der Betriebe an einen TV gebunden waren (Bispinck et al., 2016, 1.9), lag der Anteil 2019 nur noch bei 29 Prozent (20 Prozent) (Kohaut, 2020).
Dagegen ist die Verteilung der Tarifbindung nach Flächen- und Firmentarifverträgen im Laufe der Jahre fast unverändert geblieben: 2019 waren über 93 Prozent der tarifgebundenen Betriebe (Westdeutschland) an einen FlächenTV gebunden (Kohaut, 2020; eigene Berechnung).
3.1 Unzureichende Flexibilität der Flächentarifverträge
In den 1990er Jahren begann einhergehend mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation ein entscheidender Wandel in der Tarifpolitik – in der Literatur wird dieser häufig als die „Krise des Flächentarifvertrags“ beschrieben (Bispinck et al., 2009, S. 65 f.). Die Arbeitgeberseite übte massive Kritik an den gegenwärtigen TV und stellte Forderungen nach flexibleren und betriebsnäheren Gestaltungsmöglichkeiten des FlächenTV auf (Bahnmüller, 2017, S. 34). Wie Bispinck et al. (2009, S. 66) darstellen, wurde in der Metallindustrie der neuen Bundesländern 1993 erstmals eine Härtefallklausel eingeführt. Diese Härtefallklausel hatte eine wichtige Signalwirkung, denn unter dem zunehmenden Druck akzeptierten die GW in den nachfolgenden Jahren mit zunehmender Häufigkeit solche Klauseln. Als entscheidendes Ereignis wird vielmals der von der IG Metall 2004 in Pforzheim abgeschlossene TV dargestellt. Durch das „Pforzheimer Abkommen“ war es erstmals möglich, dass Betriebe nicht nur in Härtefällen, sondern auch generell zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von den Tarifvereinbarungen abweichen (Südwestmetall, 2021). Die Abweichungen vom FlächenTV haben seit dem Pforzheimer Abkommen stark an Bedeutung gewonnen und laut Stettes (2008, S. 302) konnte die zunehmende Flexibilisierung das Absinken der Tarifbindung in den folgenden Jahren zunächst verlangsamen. Die IG Metall (2015, S. 126) gab bekannt, dass im Jahr 2014 in etwa 49 Prozent der an einen FlächenTV gebundenen Betriebe weitere betriebliche TV8 abgeschlossen wurden. Ein Blick in verschiedene FlächenTV der IG Metall verdeutlicht, dass auch Öffnungsklauseln mittlerweile weit verbreitet und in den meisten TV vorzufinden sind. So ermöglicht ein von der IG Metall Baden-Württemberg (2018, S. 2 f.) im Jahr 2018 abgeschlossener TV z.B. eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 35 auf bis zu 40 Stunden.
[...]
1 In der Praxis werden für unterschiedliche Regelungsbereiche oft auch unterschiedliche Tarifverträge abgeschlossen. Besonders relevant sind sog. Mantel-, Entgelt- und Rahmentarifverträge. Während Manteltarifverträge Vereinbarungen über die allgemeinen Arbeitsbedingungen beinhalten, wird in Entgelttarifverträgen die Höhe der Löhne und Gehälter festgelegt. Rahmentarifverträge ergänzen Entgelttarifverträge, indem sie Entgeltgruppen definieren und eine Zuordnung der Arbeitnehmer ermöglichen. Die Laufzeiten der verschiedenen Tarifverträge können deutlich variieren.
2 Diringer (2019, S. 326 f.) nimmt zudem eine Abgrenzung zur absoluten Friedenspflicht vor. Mit der absoluten Friedenspflicht gehe ein absolutes Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen während der Vertragslaufzeit einher. Im Gegensatz zur relativen Friedenspflicht müsse die absolute Friedenspflicht explizit im Tarifvertrag vereinbart werden.
3 Zu ergänzen ist, dass einheitliche Arbeitsbedingungen die betriebliche Planung vereinfachen. Außerdem wird so vermieden, dass sich die Arbeitnehmer untereinander vergleichen und im Falle individuell nachteiliger Arbeitsbedingungen demotivierende Effekte ausgelöst werden.
4 Zu ergänzen ist, dass Gewerkschaften ihren Mitgliedern bei der Teilnahme an einem organisierten Streik ein Streikgeld zahlen. Für Gewerkschaftsmitglieder ist die Hemmschwelle für eine Streikteilnahme somit geringer. Außerdem bieten Gewerkschaften ihren Mitgliedern i.d.R. eine kostenfreie Arbeitsrechtsschutzversicherung an (DGB, 2021), sodass Gewerkschaftsmitglieder in vielen Fällen mit einem geringen Kostenrisiko rechtlich gegen ihren Arbeitgeber vorgehen können. Unter anderem aus diesen genannten Gründen haben Arbeitgeber wenig Interesse daran, dass ihre Arbeitnehmer einer Gewerkschaft beitreten.
5 Im Jahre 2014 verabschiedete der Bundestag das Tarifautonomiestärkungsgesetz, durch welches unter anderem die Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit reduziert werden sollten. So wurde das sog. 50-Prozent-Quorum abgeschafft, welches für die Allgemeinverbindlichkeit voraussetzte, dass bei den tarifgebundenen Arbeitgebern mindestens 50 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigt sind, die zum Geltungsbereich des Tarifvertrags zählen.
6 Entgelttarifverträge werden i.d.R. für ein bis zwei Jahre abgeschlossen, während die Laufzeit von Manteltarifverträgen normalerweise wesentlich länger ist.
7 In diesem Zusammenhang auch Sanierungs-, Standortsicherungs- oder Sondertarifverträge genannt.
8 Hierzu zählen laut der Publikation Sanierungstarifverträge, Tarifverträge zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Ergänzungstarifverträge.