Während schon seit längerer Zeit in Bildungsdiskussionen über Chancengleichheit die Bildungsmöglichkeiten von Kindern in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft sowie ihrer Abstammung fokussiert werden, wird seit einigen Jahren ebenso der Faktor Geschlecht in Bezug auf eine Benachteiligung von Jungen betont. Vor mehreren Jahrzehnten galt das weibliche Geschlecht im Bildungswesen und Berufsleben als benachteiligt. Auch heute gibt es noch signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede in schulischen Leistungen, jedoch hat sich die Perspektive mittlerweile zuungunsten der Männer verschoben. Mehrere international vergleichende Schulleistungsuntersuchungen belegen den Rückgang des Schulerfolgs von Jungen. Allerdings fehlt es bislang für diese Tatsache an befriedigenden Erklärungen.
Die Sozialwissenschaftler Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann (2010) haben deshalb in ihrem Beitrag „Geschlecht und Schulerfolg: Ein soziales Stratifikationsmuster kehrt sich um“ nach einer Erklärung auf Grundlage der Sozialisationstheorie für diesen Zusammenhang geforscht. Demnach liegt der Grund der geschlechtsabhängigen Disparitäten in Schulleistungen an erschwerten Bedingungen für die Jungen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, welchen Individuen während des Sozialisationsprozesses gegenüberstehen. Dieser Ansatz soll in der vorliegenden Arbeit vertieft und mit weiteren Studien belegt werden.
Inhalt
1 Einleitung
2 Geschlechtsspezifische Unterschiede in Schulabschlüssen und Schulleistungen
3 Erklärungsansatz der Sozialisationstheorie
3.1 Sozialisationstheorie nach Hurrelmann
3.2 Entwicklungsaufgaben
3.3 Schwierigkeiten beim Bewältigen der Entwicklungsaufgaben
4 Interventionsmaßnahmen
5 Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Unsere heutige Gesellschaft strebt eine faire und chancengerechte Bildung an. Im Jahr 2017 war es 78 % der Deutschen wichtig, „dass jeder, unabhängig seiner sozialen Herkunft, seiner Abstammung oder seines Geschlechts, die gleichen Chancen bei Bildung und Beruf bekommt“ (Kantar Emnid 2017, zit. in: Bundeszentrale für politische Bildung 2018). So sollen alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Möglichkeiten bekommen, sich zu bilden und eine erfolgreiche berufliche Karriere einzuschlagen. Während schon seit längerer Zeit in Bildungsdiskussionen über Chancengleichheit die Bildungsmöglichkeiten von Kindern in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft sowie ihrer Abstammung fokussiert werden, wird seit einigen Jahren ebenso der Faktor Geschlecht in Bezug auf eine Benachteiligung von Jungen betont (vgl. Kuhn 2008, S. 49f.) Vor mehreren Jahrzehnten galt das weibliche Geschlecht im Bildungswesen und Berufsleben als benachteiligt. Auch heute gibt es noch signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede in schulischen Leistungen, jedoch hat sich die Perspektive mittlerweile zuungunsten der Männer verschoben. Mehrere international vergleichende Schulleistungsuntersuchungen belegen den Rückgang des Schulerfolgs von Jungen. Allerdings fehlt es bislang für diese Tatsache an befriedigenden Erklärungen. Es gibt hierfür zwar bereits Ansätze, wie beispielsweise die Rational-Choice-Theorie und die Rollentheorie. Erstere bezieht sich auf ein zweckgerichtetes Verhalten, um eigenen Nutzen aus Handlungen ziehen zu können (vgl. Braun; Gautschi 2011, S. 63). Demnach investieren Frauen besonders in ihre Bildung, um sich später im Berufsleben behaupten zu können, da sie aufgrund ungleicher Entlohnung am Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Jedoch erklärt dieser Ansatz nicht die Leistungsunterschiede in Vor- und Grundschulen, da es wenig plausibel erscheint, dass sich bereits Kinder ausführlich mit ihrer zukünftigen beruflichen Karriere auseinandersetzen. (vgl. Quenzel; Hurrelmann 2010, S. 70). Die Rollentheorie sieht die Erklärung des Leistungsunterschieds wiederum in fehlenden männlichen Vorbildern in Bildungsinstitutionen. Hierbei wird aber die Tatsache außer Acht gelassen, dass schon lange vor dem Trend des sinkenden Schulerfolgs der Jungen die Frauen diesen Arbeitsbereich dominierten (vgl. ebd., S. 71). Die Sozialwissenschaftler Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann (2010) haben deshalb in ihrem Beitrag „Geschlecht und Schulerfolg: Ein soziales Stratifikationsmuster kehrt sich um“ nach einer Erklärung auf Grundlage der Sozialisationstheorie für diesen Zusammenhang geforscht. Demnach liegt der Grund der geschlechtsabhängigen Disparitäten in Schulleistungen an erschwerten Bedingungen für die Jungen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, welchen Individuen während des Sozialisationsprozesses gegenüberstehen. Dieser Ansatz soll in der vorliegenden Arbeit vertieft und mit weiteren Studien belegt werden. Dafür werden zunächst die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Schulleistungen basierend auf den Ergebnissen der PISA-Studie von 2018 dargestellt. Ebenso werden hierbei die Unterschiede in Bildungsabschlüssen thematisiert. Um einen Überblick zu bekommen, worauf die Annahme für die schlechteren schulischen Leistungen der Jungen basiert, werden zentrale Fakten der Sozialisationstheorie nach Hurrelmann zusammengefasst und anschließend die vier Entwicklungsaufgaben beschrieben, deren Bewältigung aus soziologischer Perspektive als entscheidend für schulischen Erfolg gilt. Darauf folgt die Erläuterung möglicher Schwierigkeiten, die sich bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben für Jungen ergeben können. Hierfür wird eine Vielzahl an Studien und Statistiken zur Begründung hinzugezogen. Letztendlich werden aus den Ergebnissen Interventionsmaßnahmen für Bildungsinstitutionen und Erziehung abgeleitet, mit welchen dem weiteren Rückgang des Schulerfolgs von Jungen entgegenwirkt werden kann.
2 Geschlechtsspezifische Unterschiede in Schulabschlüssen und Schulleistungen
Noch in den 1960er Jahren absolvierten deutlich weniger Frauen als Männer ihr Abitur. Diese Disparität wurde seitdem jedoch sukzessiv abgebaut und mittlerweile sogar umgekehrt. Das bedeutet, dass die Mädchen in der Leistungsbilanz allgemeinbildender Schulen die Jungen überholt haben (vgl. Hurrelmann 2006, S. 225). Heutzutage erzielen sie im Durchschnitt bessere Noten in der Schule und erreichen höhere Bildungsabschlüsse. Ergebnisse aus dem Mikrozensus zeigen, dass von den im Jahr 2009 befragten 20 bis 25-jährigen Personen 24,5 Prozent der Männer einen Hauptschulabschluss erlangten, bei den Frauen waren es lediglich 15 Prozent. Gleichzeitig erreichten von den befragten Männern nur 37 Prozent die Hochschulreife, während es bei den Frauen 45,6 Prozent waren (vgl. Statistisches Bundesamt 2010, S. 9). Den Rückgang des Schulerfolgs von Jungen im Vergleich zu den Mädchen bestätigen auch aktuelle Statistiken. So zeigt sich, dass Jungen häufiger als Mädchen eine Klasse wiederholen. Im Schuljahr 2016/2017 betrug der Prozentsatz für Klassenwiederholungen 3,8 bei den Jungen und 1,8 bei den Mädchen (vgl. ebd. 2018 S. 24). Der geschlechtsspezifische Unterschied wird zudem vor allem durch die Anteile von Mädchen und Jungen an Förderschulen deutlich. Laut dem Statistischen Bundesamt besuchten 2018 Jungen deutlich öfter diese Form der Bildungsinstitution als Mädchen. Der Anteil der Schülerschaft an Förderschule betrug demnach in diesem Jahr 65 Prozent Schüler und nur 35 Prozent Schülerinnen (vgl. ebd., S. 16). Betrachtet man außerdem die Daten von international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen der letzten Jahre, so werden auch erhebliche Geschlechtsdifferenzen bezüglich der Schulleistungen erkennbar. Nach den PISA-Ergebnissen aus dem Jahr 2018 erreichen Mädchen im Vergleich zu Jungen erheblich höhere Werte in der Lesekompetenz. Dies gilt für alle Staaten, welche an der Studie teilnahmen (vgl. Weis; Doroganova; Hahnel et al. 2019, S. 62). Ebenso in den Naturwissenschaften erzielen Mädchen in vielen Ländern höhere Kompetenzwerte als Jungen, obwohl dieser Bereich lange Zeit als Männerdomäne galt (vgl. ebd., S. 228). Darüber hinaus ist bei den Jungen eine Abnahme der naturwissenschaftlichen Kompetenzen zu beobachten (vgl. ebd. S. 236). Eine Ausnahme im Leistungsunterschied zugunsten der Mädchen bildet nach wie vor das Fach Mathematik, in welchem Jungen höhere Leistungswerte erbringen. Jedoch ist in Deutschland der Leistungsvorsprung der Jungen im Vergleich zur PISA-Studie von 2012 zurückgegangen. Während die Leistung der Jungen im Bereich Mathematik in den letzten Jahren stark abgenommen hat, ist bei den Mädchen von einer überwiegend gleichbleibenden Kompetenz auszugehen (vgl. ebd., S. 205). Die referierten Befunde der genannten Statistiken und Studien ergeben, dass das Qualifikationsniveau der jungen Männer in den letzten Jahren zurückgegangen ist.
3 Erklärungsansatz der Sozialisationstheorie
3.1 Sozialisationstheorie nach Hurrelmann
Unter Sozialisation versteht man den „Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in produktiver Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen (der »inneren Realität«) und mit der sozialen und physikalischen Umwelt (der »äußeren Realität«)“ (Hurrelmann 2015, S. 7). Demnach wird der Mensch also durch seine Umwelt beeinflusst, jedoch gestaltet er diese durch seine eigenen Aktivitäten und Handlungen auch mit. Hurrelmann geht davon aus, dass der Mensch sich sein Leben lang mit sich und seiner Umwelt auseinandersetzt und dabei seine Persönlichkeit entwickelt. Nach seinem Modell ist der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung abhängig von der inneren und äußeren Realität. Die innere Realität bezieht sich auf die genetische Veranlagung, die körperliche Konstitution, die Intelligenz, das psychische Temperament und die Grundstrukturen der Persönlichkeit. Die äußere Realität meint bedeutende Sozialisationsinstanzen wie Familie, Freunde, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, Massenmedien, Arbeits- und Wohnbedingungen sowie die physikalische Umwelt (vgl. ebd., S. 26f.).
Für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist ein reflektiertes Selbstbild sowie der Aufbau einer „Ich-Identität“ notwendig. Das Selbstbild beinhaltet alle Einstellungen, Bewertungen und Einschätzungen, über die ein Individuum in Bezug auf seine persönlichen Handlungsmöglichkeiten in der äußeren Realität verfügt. Um ein reflektiertes Selbstbild aufbauen zu können, müssen die Gegebenheiten der inneren Realität, also körperliche und psychische Potenziale realistisch wahrgenommen werden. Die Entwicklung einer Identität erfolgt durch die „[…] Kontinuität des Selbsterlebens auf der Grundlage des positiv gefärbten Selbstbildes“ (ebd., S. 38f.). Die Identität ist von zentraler Relevanz bei der Entwicklung der Persönlichkeit. Wenn bei einem Individuum starke Abweichungen zwischen persönlichen Interessen und Bedürfnissen auf der einen Seite und den Erwartungen der Gesellschaft auf der anderen Seite herrschen, so kann es zu Störungen bei der Identitätsbildung kommen. Das wiederum kann zur Minderung des Selbstvertrauens führen und folglich sozial unangemessenes Verhalten hervorrufen. Um die Identitätsbildung positiv zu beeinflussen sind Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten sowie Fertigkeiten zur Bewältigung von sozialen und psychischen Problemen notwendig (vgl. ebd., S. 39).
Im Laufe des Prozesses des Aufbaus einer Identität müssen mehrere Entwicklungsaufgaben bewältigt werden, welchen Individuen in verschiedenen Lebensphasen begegnen.
3.2 Entwicklungsaufgaben
Um den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in schulischen Leistungen basierend auf der Sozialisationstheorie darzustellen, muss zunächst das Konzept der Entwicklungsaufgaben näher erläutert werden. Dieses basiert auf der Idee von Havinghurst (1981), welcher Entwicklungsaufgaben als kulturelle und gesellschaftliche Anforderungen beschreibt, denen Individuen in einem bestimmten Lebensabschnitt gegenüberstehen. Sie dienen der persönlichen Entwicklung der Menschen sowie dem Erhalt der Gesellschaftsfunktion. In jeder Lebensphase wird von einem Individuum die Wahrnehmung körperlicher und psychischer Veränderungen erwartet. Jene Veränderungen müssen sie verarbeiten und daraus neue Verhaltensweisen ableiten. Darüber hinaus wird von einem Menschen verlangt, sich auf dieser Grundlage selbständig in die Gesellschaft zu integrieren (vgl. Hurrelmann 2015, S. 35f.).
Die Entwicklungsaufgaben, welche dem Lebensabschnitt der Jugend zugeordnet werden, lassen sich nach Hurrelmann (2007) in vier Cluster unterteilen. Die erste Entwicklungsaufgabe ist demnach die „Qualifikation“. Diese bezieht sich auf die Schulung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um Anforderungen im schulischen und beruflichen Kontext gerecht zu werden. Hierbei wird das Ziel verfolgt, mit einer Erwerbsarbeit die Voraussetzung für die eigene Existenz zu schaffen. Das Individuum nimmt hierbei eine Mitgliedschaftsrolle in der Leistungsgesellschaft ein und kann somit für zur Aufrechterhaltung der „ökonomischen Reproduktion“ beitragen.
Die zweite Entwicklungsaufgabe ist die „Bindung“. Hier geht es darum, die Veränderungen von Körper sowie Psyche und das daraus schließende Selbstbild anzunehmen, um eine Geschlechtsidentität zu entwickeln. Des Weiteren sollen Bindungen zu Gleichaltrigen beider Geschlechter und eine heterosexuelle oder homosexuelle Partnerbeziehung mit potenzieller Grundlage für Familienbildung aufgebaut werden. Diese Entwicklungsaufgabe soll dazu dienen, die „biologische Reproduktion“ der Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Die dritte Entwicklungsaufgabe ist die „Regeneration“. Diese handelt von eigenständigen Strategien zur Nutzung von Konsumgütern, um sich die Fähigkeit zum Umgang mit Wirtschafts-, Freizeit-, und Medienangeboten anzueignen. Hierbei geht es um die Teilhabe an der Konsumwirtschaft sowie der Regeneration der Arbeitskraft, was als Voraussetzung zur Erfüllung der ersten Entwicklungsaufgabe „Qualifikation“ gilt.
Die vierte Entwicklungsaufgabe ist die „Partizipation“. Hier wird auf den Aufbau eines individuellen Werte- und Normsystems sowie die Entwicklung eines zum eigenen Verhalten stimmigen ethischen und politischen Bewusstseins eingegangen. Diese Entwicklungsaufgabe zielt darauf ab, dass ein Individuum zur verantwortungsbewussten Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen befähigt wird. Dies dient wiederum der Teilhabe des Menschen am Reproduktionsprozess von Kultur und Politik einer demokratisch verfassten Gesellschaft (vgl. ebd., S. 27).
Die einzelnen Entwicklungsaufgaben stehen im direkten Zusammenhang zueinander und sind von gleicher Wichtigkeit zu betrachten, um eine kompetente Entwicklung der Persönlichkeit und damit einen erfolgreichen Sozialisationsprozess zu erreichen. Dafür muss jede Entwicklungsaufgabe in der entsprechenden Lebensphase angemessen bewältigt werden. Die Nichtbewältigung einer Entwicklungsaufgabe führt zwangsläufig dazu, dass eine andere entweder schwer oder sogar gar nicht zu bewältigen ist (vgl. Quenzel; Hurrelmann 2010, S. 73).
3.3 Schwierigkeiten beim Bewältigen der Entwicklungsaufgaben
Auf Grundlage der Sozialisationstheorie wird die Behauptung, dass sich der Schulerfolg der Jungen verringert hat, damit erklärt, dass das männliche Geschlecht Schwierigkeiten bei der Bewältigung aller vier Entwicklungsaufgaben aufweist (ebd., S. 83). Im 2. Kapitel wurden bereits die geschlechtsspezifischen Unterschiede in Schulabschlüssen und Schulleistungen näher erläutert. Damit wurde verdeutlicht, dass männliche Jugendliche Probleme damit haben, sich alltags- und berufsrelevante Kenntnisse anzueignen, was die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe „Qualifikation“ erschwert.
Auch bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgabe „Bindung“ ergeben sich für die Jungen Schwierigkeiten. Dies ist unter anderem auf die Öffnung unserer Werte- und Normsysteme zurückzuführen. Frauen und Männer haben in der heutigen Gesellschaft erheblich mehr Freiheiten hinsichtlich ihres Bindungsverhaltens und damit auch zur Deutung ihrer Geschlechtsrolle. Dies sehen männliche Jugendliche weniger als Chance, sondern viel mehr als „Verlust von traditionellen männlichen Biographiemustern“ (ebd., S. 74). Durch die Emanzipationsbewegung der Frauen dringen diese in die bislang männerdominierten Berufsfelder vor, wodurch sich gängige Erwerbsmöglichkeiten für Männer verringern. Damit wird dem klassischen Verständnis aus der Nachkriegszeit vom Rollenbild des Mannes als Alleinverdiener entgegengewirkt. Die Bildung einer Geschlechtsrollenidentität wird dadurch für die Jungen erschwert. Dies gilt jedoch als Grundlage für die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe „Bindung“ (vgl. ebd.). Kindern eignen sich geschlechtsspezifische Verhaltensweise weitestgehend selbst an. Im Prozess der Entwicklung einer geschlechtsbezogenen Identität informieren sich Kinder deshalb in ihrem sozialen Umfeld nach angemessenen Verhaltensweisen für ihr eigenes Geschlecht (vgl. Endepohls-Ulpe 2011, S. 21). Damit werden Anhaltspunkte von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ durch ihr Lebensumfeld an sie herangetragen. So werden von Mädchen beispielsweise emotionale Charakterzüge sowie die Fähigkeit zum Kochen erwartet, während den Jungen unter anderem dominante Eigenschaften und handwerkliches Geschick zugeschrieben werden. Diese geschlechtsspezifischen Stereotype haben jedoch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Frauen können heutzutage auch Rollen übernehmen, die früher nur für Männer vorgesehen waren, ohne ihre weibliche Identität anzweifeln zu müssen. Für die Durchsetzung in männerdominierten Berufen wird ihnen sogar Anerkennung entgegengebracht. Auch das Männerbild hat sich in vergangener Zeit gewandelt, insofern sie nun oftmals eine aktivere Vaterrolle einnehmen und sich in Arbeitsfeldern betätigen, welche früher den Frauen vorbehalten waren. Anders als bei den Frauen wird dies jedoch nicht mit gleicher Anerkennung wertgeschätzt, was den Aufbau der eigenen Geschlechtsidentität komplizierter gestalten kann. Eine weitere Ursache dafür, dass Jungen mehr Probleme mit der Entwicklung einer geschlechtsbezogenen Identität als Mädchen haben, könnte auch an fehlenden männlichen Vorbildern liegen. Laut dem Familienreport 2017 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibt es in Deutschland 1,6 Millionen Alleinerziehende – fast 90 Prozent davon sind alleinerziehende Mütter (vgl. BMFSFJ 2017, S. 18). Seit 1984 ist die Anzahl alleinerziehender Mütter kontinuierlich gestiegen (vgl. Ott; Hancioglu; Hartmann 2011, S. 13). Das bedeutet, dass für einen immer größer werdenden Anteil der Kinder der Vater keine Bezugsperson darstellt, was besonders für männliche Jugendliche zum Nachteil werden kann. Denn ohne Vaterfigur fehlt für die Jungen eine männliche Identifikationsperson und auch der Aufbau einer stabilen sexuellen Identität wird dadurch beeinträchtigt (vgl. Franz 2005, S. 822). Laut der Düsseldorfer Studie über Alleinerziehende (Franz; Lensche 2003) weisen Jungen von alleinerziehenden Müttern erheblich stärkere Verhaltensstörungen auf, was sich ebenfalls negativ auf schulische Leistungen auswirken kann. Hinzu kommt, dass Jungen Misserfolge in Bezug auf Schulleistungen häufig mit Bindungen innerhalb einer Clique kompensieren. Ihnen ist es besonders wichtig, ihre Freizeit mit mehreren Freunden zu verbringen, während Mädchen lieber in Gesellschaft einer guten Freundin sind (vgl. (Erbeldinger 2003, S. 221, S. 264). Innerhalb von Jungengruppen herrscht eine allgemeine Vorstellung von Männlichkeit, welche für sie als Orientierung dient. Dadurch können sich männliche Jugendliche von Mädchen abgrenzen, was die Entwicklung der Geschlechtsidentität stark beeinflusst (vgl. Blank-Mathieu 1996, S. 70 f.).
[...]