Das übernahmerechtliche Pflichtangebot nach den §§ 35 ff. WpÜG im Kontext der COVID-19-Krise
Zusammenfassung
Im Sog des durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufenen Corona-Crashs sind die Aktienkurse börsennotierter Gesellschaften mit überwältigender Mehrheit dahingeschmolzen. Traditionsunternehmen wie die Deutsche Lufthansa AG verzeichneten beispiellose Kursverfälle. Die Bundesregierung befürchtete unterdessen eine steigende Investitionstätigkeit insbesondere außereuropäischer Investoren, die die erheblich verminderte Marktkapitalisierung im Rahmen einer buchstäblichen Schäppchenjagd zum günstigen Beteiligungserwerb ausnutzen könnten.
Neben einer Verschärfung der Außenwirtschaftsverordnung begegnete das BMWi den wirtschaftlichen Herausforderungen der COVID-19-Krise auch durch die Etablierung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), der pandemiebedingt geschwächten Unternehmen die Möglichkeit einräumt, staatliche Stabilisierungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend unter vereinzelter Berücksichtigung der krisenbedingten Gesetzgebung auf das übernahmerechtliche Pflichtangebot nach den §§ 35 ff. WpÜG eingegangen.
Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
A. Vorbemerkung
B. Auslöser und Modalitäten der Angebotspflicht
I. Darstellung des kontextualen Verfahrensablaufs
II. Der Kontrollerwerb als konstitutives Kriterium
1. Formaler Kontrollbegriff des § 29 Abs. 2 WpÜG
2. Erlangung der Kontrolle
a) Unmittelbarer Kontrollerwerb
b) Mittelbarer Kontrollerwerb
(1) Einschaltung einer Tochtergesellschaft
(2) Erwerb einer Gesellschaft mit börsenzugelassenen Tochterunternehmen
(3) Zurechnungstatbestände des § 30 I 1 Nr. 2-6
(4) Stimmrechtszurechnung nach § 30 Abs. 2 WpÜG
c) Passive Kontrollerlangung
d) § 35 I 1 WpÜG und die Ausnahme des § 35 III WpÜG
3. Tatbestände des § 36 und § 37 WpÜG
4. Reformdiskurs
III. Umfang und Inhalt des Pflichtangebots
1. Inhalt und Veröffentlichung der Angebotsunterlage
2. Einzubeziehende Wertpapiere und Adressatenkreis
3. Bedingungsfeindlichkeit des Pflichtangebots
4. Gegenleistung
5. Besonderheiten mit Blick auf den WSF
C. Funktion der Angebotspflicht
I. Rechtsdogmatische Begründung der Angebotspflicht
1. Konzernrechtliche Schutzfunktion
2. Kapitalmarktrechtliche Schutzfunktion
II. Rechtsökonomischer Diskurs
III. Sanktionsgestützter Funktionenschutz
1. Untersagung des Angebots, § 15 Abs. 1 iVm § 39 WpÜG
2. Rechtsverlust, § 59 WpÜG
3. Bußgeld, § 60 WpÜG
4. Zinsanspruch der Zielgesellschaftsaktionäre, § 38 WpÜG
D. Rechtsschutz bei unterlassenem oder unangemessenem Pflichtangebot
I. Aufsichtsbehördliche Durchsetzbarkeit des Pflichtangebots
1. Ermächtigungsgrundlage, § 4 Abs. 1 S. 3 WpÜG
2. Kein Anspruch auf behördliches Einschreiten der BaFin
II. Zivilrechtliche Durchsetzbarkeit des Pflichtangebots
1. Anspruch auf Abnahme der Aktien gegen den Bieter
a) § 35 WpÜG als Anspruchsgrundlage
b) Unangemessene Gegenleistung
c) Gesellschaftsrechtlicher Abfindungsanspruch
2. Schadensersatzansprüche
a) § 823 Abs. 2 BGB iVm § 35 WpÜG
b) Kontrahierungszwang nach § 826 BGB
III. Ergebnis und Bewertung
E. Fazit
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das übernahmerechtliche Pflichtangebot nach den
§§ 35 ff. WpÜG im Kontext der COVID-19-Krise
A. Vorbemerkung
Im Sog des durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufenen Corona- Crashs (siehe Abb. 1) sind die Aktienkurse börsennotierter Gesell- schaften mit überwältigender Mehrheit geradezu dahingeschmolzen. Traditionsunternehmen wie die Deutsche Lufthansa AG verzeichneten beispiellose Kursverfälle. Die Bundesregierung befürchtete unterdes- sen eine steigende Investitionstätigkeit insbesondere außereuropäi- scher Investoren, die die erheblich verminderte Marktkapitalisierung im Rahmen einer buchstäblichen Schäppchenjagd zum vergleichswei- se günstigen Beteiligungserwerb ausnutzen könnten. Neben einer Ver- schärfung der Außenwirtschaftsverordnung begegnete das BMWi den wirtschaftlichen Herausforderungen der COVID-19-Krise auch durch die Etablierung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), der pan- demiebedingt geschwächten Unternehmen die Möglichkeit einräumt, staatliche Stabilisierungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Vor die- sem Hintergrund wird nachfolgend unter vereinzelter Berücksichti- gung der krisenbedingten Gesetzgebung auf das übernahmerechtliche Pflichtangebot nach den §§ 35 ff. WpÜG eingegangen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: DAX-Chart für den Zeitraum Januar 2020 - Mitte September 2020
B. Auslöser und Modalitäten der Angebotspflicht
I. Darstellung des kontextualen Verfahrensablaufs
Der Ablauf eines Übernahmeverfahrens ist chronologisch in vier Pha- sen zu untergliedern.1 Die nachfolgende Abbildung 2 dient der Dar- stellung dieser und erläutert überblicksartig die jeweiligen Verfahrens- schritte. In sämtlichen Phasen sind die allgemeinen Verfahrensgrund- sätze des § 3 WpÜG zu beachten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Chronologischer Ablauf eines Übernahmeverfahrens
II. Der Kontrollerwerb als konstitutives Kriterium
Pflichtangebote nach den §§ 35 ff. WpÜG sind Angebote, die kraft Gesetzes abgegeben werden müssen, wenn eine Person (§ 2 Abs. 4, Abs. 5 WpÜG) unmittelbar oder mittelbar, nicht auf einem Übernah- meangebot beruhende (§ 35 Abs. 3 WpÜG) Erwerbsgeschäfte die Kontrolle (§§ 29 Abs. 2, 39 WpÜG) über eine Zielgesellschaft iSd § 2 Abs. 3 WpÜG erlangt. Das die Angebotspflicht nach §§ 35 ff. WpÜG konstituierende Kriterium ist mithin die Erlangung der Kontrolle des Bieters über eine Zielgesellschaft infolge einer Kontrolltransaktion.
1. Formaler Kontrollbegriff des § 29 Abs. 2 WpÜG
§ 29 Abs. 2 WpÜG definiert den Begriff der Kontrolle als das Halten von mindestens 30% der Stimmrechte an der Zielgesellschaft. Die Kontrollschwelle orientiert sich an Regelungen in anderen europäi- schen Staaten, in denen entsprechende Grenzwerte von 30% oder ei- nem Drittel der Stimmrechte vorgesehen sind.2
Dem WpÜG liegt ein formaler Kontrollbegriff zugrunde, der an eine feste Kontrollschwelle anknüpft und die konkreten Verhältnisse bei der Zielgesellschaft tatbestandlich unberücksichtigt lässt.3 Alleinige Grundlage des übernahmerechtlich relevanten Einflusses in der Ziel- gesellschaft ist das Stimmrecht.4 Damit hält auch derjenige die Kon- trolle im Sinne des § 29 Abs. 2 WpÜG, der diese tatsächlich nicht ausüben kann, bspw. weil er die Stimmrechte wegen Rechtsverlusts nach § 44 WpHG vorübergehend nicht ausüben kann5 oder weil ein anderer Aktionär einen noch höheren Stimmrechtsanteil innehat.6
Zielgesellschaften sind nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 3 WpÜG Aktiengesellschaften oder Kommanditgesellschaften auf Aktien mit Sitz im Inland und Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraums. Der Kontrollbegriff gilt daher glei- chermaßen für die AG wie für die KGaA.7
Aus dem in § 1 WpÜG normierten Anwendungsbereich folgt, dass die übernahmegegenständlichen Wertpapiere der Zielgesellschaft zum Handel an einem organisierten Markt im Sinne des § 2 Abs. 7 WpÜG zugelassen sein müssen.8
2. Erlangung der Kontrolle
Das WpÜG statuiert keinen Numerus Clausus der Erwerbstechniken und differenziert nicht zwischen unterschiedlichen Kontrollarten.9 Al- lein entscheidend ist, dass der Zustand „Kontrolle“ hergestellt wird.10 Grundsätzlich belanglos ist daher neben der Frage, ob die Kontrolle allein oder kraft gemeinsamen Handelns erworben wird ebenso, ob ein Fall der passiven, mittelbaren oder unmittelbaren Kontrolle vorliegt. Dies stellt der Gesetzgeber mit Blick auf den mittelbaren Kontroller- werb so auch in § 35 Abs. 1 S. 1 WpÜG ausdrücklich klar.11 Im Rah- men der Berechnung des Stimmrechtsanteils des Bieters nach §§ 29 Abs. 1, 35 Abs. 1 WpÜG sieht § 30 WpÜG daher - in Orientierung an § 34 WpHG12 - die Stimmrechtszurechnung aus nicht im Eigentum des Bieters befindlichen Aktien vor. Es ist anerkannt, dass mehrere Rechtssubjekte zeitgleich Kontrollinhaber über eine Zielgesellschaft sein können.13
a) Unmittelbarer Kontrollerwerb
Im Regelfall wird die Kontrolle über die Zielgesellschaft durch den unmittelbaren Eigentumserwerb stimmberechtigter Aktien der Zielge- sellschaft erlangt werden.14 Unerheblich ist dabei, ob die Beteiligung börslich oder außerbörslich erworben wird.15
b) Mittelbarer Kontrollerwerb
Mithin kann auch die bloß mittelbare Beteiligung an der Zielgesell- schaft eine übernahmerechtlich relevante Beherrschungsmöglichkeit des Bieters begründen, vgl. § 35 Abs. 1 S. 1 WpÜG.
(1) Einschaltung einer Tochtergesellschaft
Im Fall des mittelbaren Kontrollerwerbs durch Einschaltung einer Tochtergesellschaft, die ihrerseits unmittelbar die Kontrolle an der Zielgesellschaft erwirbt, werden die Stimmrechte der Tochtergesell- schaft dem mittelbaren Kontrollerwerber nach § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WpÜG zugerechnet. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich bei der Tochtergesellschaft um ein Tochterunternehmen iSd § 2 Abs. 6 WpÜG handelt , ergo um ein Unternehmen nach § 290 HGB, auf das ein be- herrschender Einfluss ausgeübt werden kann. Rechtsform und Sitz des Tochterunternehmens sind nach § 2 Abs. 6 WpÜG dabei ebenso uner- heblich wie eine etwaige Börsenzulassung des Unternehmens. Die Verpflichtungen aus § 35 WpÜG treffen sowohl den unmittelbaren als auch den mittelbaren Kontrollerwerber, also mehrere Adressaten.16
(2) Erwerb einer Gesellschaft mit börsenzugelassenen Toch- terunternehmen
Ferner kommt ein mittelbarer Kontrollerwerb in der Konstellation in Betracht, in der die Kontrolle über eine Gesellschaft erworben wird, die ihrerseits über ein oder mehrere börsenzugelassene Tochterunter- nehmen verfügt.17 Das betreffende Tochterunternehmen muss eine Zielgesellschaft im Sinne des § 2 Abs. 3 WpÜG sein, deren Aktien gem. § 1 WpÜG zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind.18 Die Gesellschaft, über die unmittelbar die Kontrolle erworben wurde, wird in dieser Konstellation vorbehaltlich der Voraussetzungen des § 2 Abs. 6 WpÜG selbst zur Tochtergesellschaft des Bieters - mit der Konsequenz, dass deren Stimmrechte dem Bieter ebenfalls nach § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WpÜG zuzurechnen sind. Der Bieter erlangt mittelbar die Kontrolle über das oder die Tochterunternehmen der un- mittelbar erworbenen Gesellschaft.19 Adressat der Verpflichtungen aus § 35 WpÜG ist dabei der die Beteiligung erwerbende Bieter.20
(3) Zurechnungstatbestände des § 30 I 1 Nr. 2 - 6 WpÜG
Überdies werden dem Bieter Stimmrechte auf Basis der Tatbestände des § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 WpÜG (Erwerb stimmberechtigter Aktien, die für Rechnung des Bieters gehalten werden), Nr. 4 (Bestellung ei- nes Nießbrauchs), Nr. 5 (Einräumung einer dinglichen Position) und Nr. 6 (Anvertrauen von Aktien) zugerechnet. Die alleinige Verwirkli- chung von § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 WpÜG genügt hingegen nicht für den Kontrollerwerb.21
(4) Stimmrechtszurechnung nach § 30 Abs. 2 WpÜG
Im Übrigen sind dem Bieter nach § 30 Abs. 2 WpÜG auch solche Stimmrechte zuzurechnen, mit denen er sein Verhalten in Bezug auf die Zielgesellschaft auf Grund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise abstimmt, sog. acting in concert. Besonders praxisrelevant ist hierbei der Kontrollerwerb durch einen Stimmrechtspool.22
c) Passive Kontrollerlangung
Die Kontrolle über eine Zielgesellschaft kann nicht nur unmittelbar oder mittelbar erworben, sondern auch in sonstiger Weise ohne eige- nes Zutun des Kontrollerwerbers erlangt werden, sog. passive Kon- trollerlangung.23 Für die Möglichkeit dieser Art der Kontrollerlangung spricht schon der bewusst weit gefasste Tatbestand des § 35 Abs. 1 WpÜG, der darauf abzielt, sämtliche Umstände, die den Zustand
„Kontrolle“ hervorrufen könnten, zu umfassen. Als einschlägige Fall- gruppen der passiven Kontrollerlangung stehen die in Abbildung 3 dargestellten Sachverhalte im Diskurs.24
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Fallgruppen der passiven Kontrollerlangung
d) § 35 I 1 WpÜG und die Ausnahme des § 35 III WpÜG
Eine generelle Ausnahme von den Pflichten aus § 35 Abs. 1 und 2 WpÜG gilt nach § 35 Abs. 3 WpÜG jedoch für den Kontrollerwerber, der die Kontrolle über die Zielgesellschaft auf Grund eines freiwilli- gen Übernahmeangebots gem. § 29 Abs. 1 WpÜG erlangt hat. Die Regelung des § 35 Abs. 3 WpÜG reflektiert den gesetzlich angelegten Gleichlauf von Übernahme- und Pflichtangeboten.26 Die diesbezüg- lich vorgebrachte Kritik27, dass die Rahmenbedingungen von freiwil- ligen Übernahmeangeboten und Pflichtangeboten nicht immer mitein- ander vergleichbar seien, da der einzelne Aktionär bei einem Über- nahmeangebot nicht wisse, ob das Angebot tatsächlich zur Kontroller- langung des Bieters führt, überzeugt nicht. Dies träfe nur zu, wenn die sog. w eitere Annahmefrist des § 16 Abs. 2 WpÜG (vgl. Abb. 2) auch bei erfolglosen Übernahmeangeboten zur Anwendung käme.28 Zu
Recht ist diese indes nur bei erfolgreichen Übernahmeangeboten an- zuwenden29, womit die Kritik hinfällig wird. Schließlich steht den Ak- tionären auch bei Übernahmeangeboten die Möglichkeit zu, ihre Akti- en erst dann zu veräußern, wenn sie Kenntnis von der Kontrollbe- gründung des Bieters erlangen.
3. Tatbestände des § 36 und § 37 WpÜG
Auf Antrag des Bieters bleiben nach § 36 WpÜG gewisse Stimmrech- te bei der Errechnung der Höhe seines Stimmrechtsanteils an der Ziel- gesellschaft im Hinblick auf die 30%-Schwelle unberücksichtigt. Hierunter fallen die Fälle der konzerninternen Übertragung von Stimmrechten, des Erbgangs oder der unentgeltlichen Zuwendung un- ter Ehegatten, Lebenspartnern und Verwandten. Laut Begründung des Regierungsentwurfs zum WpÜG30 soll damit insbesondere die Nach- folge bei Familienunternehmen ohne Pflichtangebot ermöglicht wer- den. Liegen die Voraussetzungen für die Nichtberücksichtigung von
Stimmrechten vor und ist der Antrag auf Nichtberücksichtigung frist- gerecht, also binnen sieben Tagen nach Erlangung der Stimmrechte gestellt, muss die BaFin dem Antrag stattgeben. Die Pflichten nach § 35 Abs. 1 und 2 WpÜG entfallen ex tunc, wenn die BaFin nach Kontrollerlangung des Bieters eine Gestattung nach § 20 Abs. 1 oder § 36 WpÜG erteilt und der Antragsteller infolgedessen weniger als 30% der Stimmrechte hält.31
Darüber hinaus steht es nach § 37 Abs. 1 WpÜG im Ermessen der BaFin, den Bieter auf Antrag von der Verpflichtung zur Abgabe eines Pflichtangebots zu befreien, sofern dies im Hinblick auf die Art der Erlangung der Kontrolle, die mit der Kontrollerlangung intendierte Zielsetzung, ein nach der Kontrollerlangung folgendes Unterschreiten der Kontrollschwelle, die Beteiligungsverhältnisse an der Zielgesell- schaft oder die tatsächliche Möglichkeit zur Ausübung der Kontrolle unter Berücksichtigung der Interessen des Antragstellers und der Ak- tionäre der Zielgesellschaft gerechtfertigt erscheint. Die §§ 9 ff. WpÜG-AngVO regeln weitere Einzelheiten. Eine nach Kontrollerlan- gung behördlich erlassene Befreiung gem. § 37 Abs. 1 WpÜG bewirkt ein Erlöschen der Pflichten nach § 35 WpÜG ex nunc.32
4. Reformdiskurs
Rechtspolitisch wurde teils scharf kritisiert, dass es neben der Kon- trollschwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG keine weiteren Trigger für Pflichtangebote gebe.33
De lege lata kann derjenige, der die Kontrollschwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG überschreitet, ein Pflichtangebot zum Mindestpreis des § 31 WpÜG, also ohne Prämie, abgeben (sog. low balling) und daraufhin seine Beteiligung durch den börslichen oder außerbörslichen Erwerb weiterer Aktien der Zielgesellschaft ohne wiederkehrende Verpflich- tung zur Angebotsabgabe zu einer Mehrheit ausbauen, sog. creeping in.34 Dabei kann mit dem Überschreiten der Kontrollschwelle so lange gewartet werden, bis der Mindestpreis des § 31 WpÜG relativ niedrig ist.
Nachdem dieses Rechtsdefizit für ein grenzüberschreitendes feindli- ches Übernahmeangebot genutzt worden war35, wurde vermehrt ge- fordert, dass die Pflichten des § 35 WpÜG auch für denjenigen gelten sollten, der „unmittelbar oder mittelbar mindestens 30%, aber nicht die Mehrheit der Stimmrechte an der Zielgesellschaft hält und der in- nerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten mindestens 2% der Stimmrechte direkt oder indirekt hinzu erwirbt.“36
Im Einzelnen kann der umfangreiche Diskurs37 zu diesem Vorschlag nicht dargestellt werden. Gegen die Etablierung von derart eng gestaf- felten Auslöseschwellen de lege ferenda spricht indes vor allem, dass der sukzessive Aufbau einer kontrollierenden Beteiligung keinen Vor- gang darstellt, der die Grundlage des Investments der übrigen Aktio- näre in vergleichbar entscheidender Weise berührt wie das Überschrei- ten der 30%-Kontrollschwelle.38 Eine systemgerechte Lösung sollte ferner nicht bei der Konzeption des übernahmerechtlichen Kontroll- tatbestands sondern eher im Bereich des wertpapierhandelsrechtlichen Transparenzregimes des § 33 WpHG ansetzen.39
Neben den soeben dargestellten Rechtsdefiziten wäre de lege ferenda eine Reform des übernahmerechtlichen Kontrollregimes rechtspoli- tisch schon deshalb erwägenswert, da sich in Bezug auf die Hauptver- sammlungspräsenzen in börsennotierten Gesellschaften geradezu ein Trend zu Höchstwerten abzeichnet, vgl. Abbildung 4.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: DAX-HV-Präsenzen in % der stimmberechtigten Aktien (1998-2018)
Die Annahme des Gesetzgebers, dass mit einer Beteiligung von 30% der Stimmrechte an einer Zielgesellschaft regelmäßig Mehrheitsent- scheidungen im Rahmen der Hauptversammlung erwirkt werden kön- nen, sollte angesichts dieser Entwicklung überdacht werden. Eine ge- genläufige Entwicklung dürfte auch angesichts des vom Gesetzgeber in Reaktion auf die COVID-19-Pandemie mit Art. 2 § 1 Abs. 2 CO- VID-AbmilderungsG geschaffenen Wahlrechts, eine rein virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre unabhängig von der satzungsmäßigen Grundlage durchzuführen40, nicht zu erwar- ten sein. So registrierte bspw. die Bayer AG bei ihrer am 28. April 2020 durchgeführten rein virtuellen Hauptversammlung eine Präsenz von rund 64% des satzungsmäßigen Kapitals.41
De lege ferenda nicht zu begrüßen ist die Ergänzung der formalen Kontrollschwelle um einen an den historischen Hauptversammlungs- präsenzen ausgerichteten Tatbestand. Damit ginge eine Abkehr von internationalen Standards einher, die dem klar artikulierten Willen des Gesetzgebers widerspräche.
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