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Die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher. Die Individualisierungsdimensionen nach Ulrich Beck als Ansatz

©2020 Hausarbeit 20 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit zeigt auf, inwiefern sich Individualisierungsprozesse in der modernen Wohlstandsgesellschaft für Nachkommen muslimischer Einwanderungsfamilien darstellen und wie Besonderheiten in diesen Individualisierungsprozessen dazu führen können, dass junge MuslimInnen sich sukzessive von der westlichen Aufnahmegesellschaft entfernen und Wiedereinbindung in radikalen, die westliche Kultur und Lebensweise ablehnenden islamistischen Gruppierungen suchen. Die theoretische Grundlage der Arbeit bildet die Individualisierungstheorie nach Ulrich Beck, die entlang empirischer Befunde zu islamischer Radikalisierung im Jugendalter erklärend auf die Zielgruppe bezogen wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Individualisierungstheorie nach Ulrich Beck
2.1. Individualisierung- Folgen undAuswirkungenfür dieAkteurlnnen

3. Die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher- Stand der Forschung und wissenschaftlicher Diskurs
3.1. Islamische Radikalisierung, radikaler Islam: Begriffsklärungen
3.2. Muslimische Jugendliche in der Mehrheitsgesellschaft

4. Analyse des Forschungsgegenstandes

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Längst sind Kinder und Jugendliche1 mit Migrationshintergrund2 ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Alltags in der Bundesrepublik Deutschland. Junge Muslime und Musliminnen der zweiten und dritten Generation sind in der modernen pluralisierten Gesellschaft aufgewachsen und haben Zugang zu deren schier grenzenlosen Handlungsoptionen. Gleichwohl werden Integrationsschwierigkeiten insbesondere derjenigen Jugendlichen deutlich, die traditionell- konservativen Elternhäusern entstammen (Mafaalani und Toprak 2017: 9). Der religiös- kulturelle Kontext muslimischer Herkunftsfamilien prägt Orientierungsmuster und Identitätsentwürfe der Heranwachsenden. Der Islam erscheint als milieubildende Kraft, wobei diese einerseits aus der kollektiven Identität der religiösen Gemeinschaft resultiert, zum anderen aus Segregationserfahrungen der Jugendlichen in der Mehrheitskultur (Wensierski und Lübcke 2007: 8).

Desintegrationsproblematiken junger MuslimInnen stehen im Kontext der Gleichzeitigkeit von sozialer Modernisierung und der (Gast-) Arbeiterzuwanderung der 1960er und 70er Jahre. So konnte die erste Zuwanderergeneration von der Wohlstands- und Bildungsexpansion im Aufnahmeland nicht hinreichend profitieren, was die gesellschaftliche Etablierung für die nachfolgende Generation noch heute beeinflusst. Jugendliche muslimischer Herkunftsmilieus erfahren oft autoritäre Erziehung, einhergehend mit Erfolgs- und Loyalitätserwartungen sowie der verpflichtenden Bindung an Tradition, Gemeinschaft und die islamische Religion (vgl. ebd.: 11). Die Handlungsmöglichkeiten und -zwänge der Moderne stellen für junge MuslimInnen eine besondere Herausforderung dar, da zum einen Sprach- und Bildungsdefizite bestehen, zum anderen das eigene Handeln in der Mehrheitsgesellschaft risikoreich und unsicher erscheint. (vgl. Frindte et al.

2011: 34). Eine Herauslösung aus den traditionellen Herkunftsverhältnissen ist für diese Jugendlichen im Vergleich zu autochtonen Gleichaltrigen erschwert, Desorientierung aufgrund erlebter Exklusion wahrscheinlicher. Das Spannungsfeld zwischen elterlichen Erfolgserwartungen und institutionellen Zugangsbarrieren verweist auf das Risiko der Radikalisierung, da im Anerkennungsvakuum eine Einbindung über Jugendszenen radikalislamischer Orientierung durchaus attraktive Momente bietet. Die kollektive Identifizierung in Jugendgangs vermittelt jungen MuslimInnen Schutz vor Orientierungsverlust sowie das Gefühl von Zugehörigkeit und Anerkennung. Die Religiosität dient als gemeinsame Projektionsfläche, auf der Stärke und Überlegenheit demonstriert werden können (vgl. ebd., S. 13). Mitunter wird dem Akkulturationsdruck der Aufnahmegesellschaft mit einer Fixierung auf und Verstärkung der gemeinsamen ethnischen Herkunft begegnet. Die, aus geteilter Religiosität und geteilten Exklusionserfahrungen entstehen Dynamiken fördern die Genese von Denk- und Handlungsschemata, welche sich gegen die Werte und Normen Mehrheitsgesellschaft richten (Wensierski und Lübcke 2007: 13).

Das ambivalente Verhältnis zwischen Freisetzung, Entzauberung und Reintegration unter den Lebensbedingungen der Moderne ist zentraler Bestandteil der Individualisierungsthorie des Soziologen Ulrich Beck. Die Individualisierungsthese stellt einen zentralen Aspekt der durch Beck entworfenen „Risikogesellschaft“ dar und wird anhand dreier konstituierender Dimensionen strukturiert. Die Individualisierungstheorie verweist auf die Folgen und Risiken sozialer Modernisierung für die/ den Einzelne(n) und dient in vorliegender Arbeit als Bezugsrahmen, um Radikalisierungsprozesse jugendlicher Musliminnen deduktiv zu erklären (vgl. 1986, 1994). Es wird aufgezeigt, inwiefern in der Bundesrepublik sozialisierte MuslimInnen gesellschaftliche Risikolagen erleben und diese unter den Bedingungen traditionsorientierter Sozialisationsmilieus verarbeiten. Die Individualisierungsdimensionen werden im Hinblick auf Abweichungen vom Beck'schen Konstrukt untersucht, um aufzuzeigen, inwiefern sich Spezifika im Individualisierungsprozess junger Musliminnen darauf auswirken, dass die Jugendlichen radikalislamische Denkweisen subjektiv anerkennen und dieser Anerkennung durch die Zugehörigkeit zu radikalislamischen Gruppierungen Ausdruck verleihen. Die dargelegten Zusammenhänge werden anhand folgender Fragestellung konkretisiert: „Inwiefern können Radikalisierungsprozesse jugendlicher Muslimlnnen über die Individualisierungstheorie nach Ulrich Beck erklärt werden?“

Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Nach in der einleitenden Hinführung in die Forschungsthematik wird im zweiten Kapitel die Individualisierungsthese nach Ulrich Beck als grundlagentheoretischer Bezug der Arbeit ausführlich dargelegt. Nach der Klärung zentraler Begriffe wird im dritten Kapitel dargestellt, welche Bedingungen im Sozialisationsprozess muslimischer Jugendlicher die Entstehung radikalislamischer Denk- und Handlungsschemata ermöglichen und fördern. Im vierten Kapitel wird das untersuchte Phänomen anhand dessen Bezugnahme auf das Individualisierungstheorem analysiert, zudem findet hier die Beantwortung der Forschungsfrage statt. Die Arbeit schließt mit einer kritischen Reflexion der eigenen Forschung Fazit, in welchem die Autorin das eigene Vorgehen resümiert und auf Forschungslücken verweist.

2. Die Individualisierungstheorie nach Ulrich Beck

Unter Berücksichtigung der eigenen Fragestellung wird Im folgenden Kapitel die Individualisierungstheorie nach Ulrich Beck als grundlagentheoretischer Bezugsrahmen der Hausarbeit in ihrem gesamttheoretischen Kontext erläutert.

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck analysiert die Transformation sozialer Praxis unter den Bedingungen der sich rapide wandelnden postmodernen Gesellschaft. In seinen Werken „Risikogesellschaft“ (1986) und „Riskante Freiheiten“, welches er gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Soziologin Elisabeth Beck-Gernersheim verfasste, entwirft Beck eine kritische Gegenwartsdiagnose und fragt danach, wie „Verunsicherungen des Zeitgeistes [...] in einem soziologisch inspirierten Denken zu verstehen, zu begreifen sind“ . Beck ( 1986: 12) beschreibt eine „Wirklichkeit [...], die aus den Fugen zu geraten scheint“ und betont das ihr immanente Gefährdungspotenzial. So sei die, aus der Industriegesellschaft hervorgegangene, Postmoderne durch die Produktion und Verteilung von Risiken gekennzeichnet, welche auf Arbeitsmarktdynamiken, auf die zunehmende Globalisierung sowie auf technisch- wissenschaftliche Überentwicklung zurückzuführen sind und die Wirtschaft und Natur, Umwelt und Gesundheit sowie das Zusammenleben der Menschen maßgeblich beeinflussen (vgl. ebd.: 25). Modernisierungsrisiken werden als Natur- und Umweltbedrohungen, als Krankheiten sowie gesellschaftliche Problemlagen manifest. Sie sind, so Beck (1986: 46), klassenspezifisch und in den bildungs- wie einkommensschwachen Bevölkerungsschichten besonders hoch konzentriert. Im Hinblick auf soziale Ungleichheit kommt den Risiken der Moderne eine verschärfende Rolle zu, welche auf deren reziproker Beziehung zum gesellschaftlichen Reichtum basiert. Modernisierungsrisiken verhalten sich umgekehrt proportional zur gesellschaftlichen Reichtumsverteilung. Sie sind für Angehörige bildungs- und einkommensstarker Milieus weniger einschneidend und leichter zu vermeiden als für AkteurInnen des unteren sozialen Segments, die häufig über weitaus weniger Ressourcen zur Risikobewältigung verfügen (Beck 1986: 46-47). Der negativen Logik der Risikoverteilung entsprechend sind Modernisierungsrisiken und deren Folgen insbesondere dort wirkungsvoll, wo Gruppen und Individuen von der Partizipation am sozialen Wohlstands- und Bildungszuwachs exkludiert sind. So sind sozial benachteiligte AkteurInnen stärker von drohender und realer Arbeitslosigkeit, von Prekarität sowie Einkommensverlust bedroht als sozial priorisierte. Sie bewohnen häufiger sozial schwache Bezirke, haben ungünstigere Zugangschancen im Ausbildungssystem, können Flexibilitätsanforderungen des Arbeitsmarkts weniger gerecht werden und besitzen insgesamt ungünstigere Voraussetzungen, Risikolagen zu erkennen und sie zu kompensieren (vgl. ebd.:46).

In seinen Ausführungen beschreibt Beck (vgl. 1986: 115) die Gefährdung durch ökonomische, wissenschaftliche, und technologische Nebenfolgen der Modernisierung als wesentliche, wenngleich nicht einzige Dimension sozialer Modernisierung. Im Hinblick auf die biographische, die Subjektebene implementiert Beck (ebd:205-206) den Begriff der Individualisierung, welche er als „kategorialen Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ begreift. Die Individualisierungstheorie verknüpft objektive Aspekte des sozialen Wandels mit dessen subjektiver Komponente. Sie schärft den Blick für die Widersprüchlichkeit des sozialen Fortschritts, der einerseits eine Anhebung des individuellen Lebensstandards ermöglicht, andererseits Risikolagen erzeugt (vgl. Beck 1986: 251).

Unter Individualisierung begreift Beck (vgl. 1986: 115) die Herauslösung der Menschen aus den Sozialformen der Industriegesellschaft. Ausschlaggebend für den Individualisierungsprozess seien der wirtschaftliche Aufschwung sowie die Bildungsexpansion in den 1960-er und 70-ger Jahren, in deren Rahmen sich soziale Sicherheiten und materielle Lebensbedingungen für breite Teile der Bevölkerung erheblich verbessert haben. Beck (ebd.) diagnostiziert einen „Gesellschaftswandel innerhalb der Moderne [...], in dessen Verlauf die Menschen aus traditionellen Versorgungszusammenhängen- „Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen- freigesetzt werden". Koordinaten, welche die Lebensführung sozialer AkteurInnen ehemals entscheidend bestimmten, werden brüchig und verlieren ihre strukturierende Funktion. Die Individuen werden aus dem sicheren Orientierungsrahmen von Familie, Nachbarschaft und Berufsrolle herausgelöst und hinsichtlich ihrer Lebensgestaltung auf die eigenen Entscheidungen verwiesen (Beck 1986: 116). Sie werden zugleich- hierin liegt der Doppelcharakter der Individualisierung- in neue Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden (Beck/ Beck-Gernsheim 1994: 12-13). Beck verweist diesbezüglich auf den sogenannten institutionellen Wandel in Gestalt von an die Individuen adressierter sozialer und politischer Grundrechte, in Form veränderter Ausbildungsvoraussetzungen und steigender Arbeitsmarktmobilität. Die institutionellen Steuerungselemente stellen soziale AkteurInnen vor eine nie dagewesene Herausforderung, denn sie besitzen den „besonderen Aufforderungscharakter, ein eigenes Leben zu führen" (ebd.).

Moderne Handlungsvorgaben existieren als wohlfahrtstaatliche Regelungen, Voraussetzungen und Beschränkungen. Sie finden sich in Massenmedien sowie Massenkonsum und fordern das Individuum auf, ja zwingen es, sich im Labyrinth der Optionen zu entscheiden und unter Einsatz von Eigeninitiative, Durchsetzungsvermögen sowie Leistung mit jeder neuen Entscheidung die eigene Biographie zu kreieren (Beck/ Beck-Gernsheim 1994: 13). Im Hinblick auf Risiken der Moderne erhält der Verlust der traditionellen Instanzen eine besondere Brisanz, da weder auf tradiertes Handlungswissen zurückgegriffen werden kann noch ein soziales Sicherheitsnetz die Individuen auffängt. Die modernen Vorgaben sind hochkomplex und schwer zu durchschauen. Sie sind ständigen Veränderungen unterworfen und bieten weder Bindung noch Orientierung hinsichtlich „falscher" Entscheidungen. Diesbezüglich betont Beck (1986: 13), dass die, von ihm benannte, „Bastelbiographie" zugleich eine Risiko- ,eine „Drahtseilbiographie" sei.

Entsprechend der Differenziertheit des Individualisierungsprozesses wird dieser anhand dreier analytischer Dimensionen beschrieben:

1. Freisetzungsdimension

Herauslösung der Individuen aus historisch gewachsenen Sozialformen und Bindungen. Die Auflösung stabiler wie stabilisierender Lebenszusammenhänge geht mit einer Erweiterung gesellschaftlicher Handlungsoptionen einher, da den AkteurInnen ein „kollektives Mehr“ an gesellschaftlichen und materiellen Ressourcen zur Verfügung steht (Beck 1986: 122). Die Freisetzungsdimension verweist auf die, der Individualisierung immanente, Chance der selbstbestimmten Lebensführung. Das Individuum wird zur zentralen Planungsund Reproduktionseinheit des Sozialen, zum Gestalter der eigenen Biographie (vgl. ebd.: 209). Im Hinblick auf die Transformation von Familienstrukturen verweist Beck (ebd.) auf die Stellung von Kindern und Jugendlichen sowie intergenerationelle Konflikte.

2. Entzauberungsdimension

Aus der Auflösung der traditionellen Strukturen resultiert Orientierungsverlust, da verlässliche Beziehungsformen sowie leitende Routinen, Normen und Werte brüchig werden und ihre biographische Relevanz einbüßen. Der Verlust von Sicherheiten bezüglich der Lebensplanung lässt Handeln unvorhersehbar und unsicher erscheinen, zumal alle Handlungsentscheidungen- auch Nicht- und Fehlentscheidungen dem Individuum zugeschrieben werden, welches die Folgen zu verantworten hat (vgl. Beck 1986: 206). Die

Entzauberungsdimension beinhaltet die Schattenseiten der Freisetzung, sie „entzaubert“ letztere gleichsam und lässt die Beschaffenheit der neuen Freiheiten als „riskante Freiheiten“ zutage treten.

3. Reintegrationsdimension

In der Reintegrationsdimension wird das Doppelgesicht der Individualisierung offenbar. Das freigesetzte Individuum wird institutionellen Vorgaben unterstellt und in seiner Entscheidungsfreiheit beschränkt, es wird „arbeitsmarktabhängig und deshalb bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von

sozialstaatlichen Regelungen und Versorgungen [..]. Beck (1986: 214) sieht die Krisenanfälligkeit der institutionsabhängigen Individuallagen in den institutionellen Zugangsbeschränkungen und -bedingungen begründet. So sei die Teilhabe an der Gesellschaft als Partizipation an Bildung und Beschäftigung an zertifizierte Leistung gebunden und könne, mit verheerenden Folgen für Lebensverläufe, benachteiligten Individuen vorenthalten werden.

[...]


1 Um der Ausdifferenzierung und Veränderungen der Lebensphase Jugend gerecht zu werden, wird diese im Vorliegenden im Alter zwischen 12 und 30 Jahren verortet (Hurrelmann und Quenzel 2016: 45) .

2 Unter Bezugnahme auf das statistische Bundesamt werden „Personen mit Migrationshintergrund“ als Personen definiert, die „ nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland Geborenen mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (statistisches Bundesamt 2018) .

Details

Seiten
20
Jahr
2020
ISBN (eBook)
9783346406934
ISBN (Paperback)
9783346406941
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
FernUniversität Hagen – Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Note
1,0
Schlagworte
Ulrich beck Individualisierung Radikalisierungsprozesse jugendliche MuslimInnen
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Titel: Die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher. Die Individualisierungsdimensionen nach Ulrich Beck als Ansatz