Im Rahmen dieser Hausarbeit möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern man nach Youngs Modell der sozialen Verbundenheit für die Ursachen von Flucht und Migration in die Verantwortung gezogen werden kann. Die Problematik der gemeinhin bekannten „Flüchtlingskrise“ stellt eine Herausforderung dar, mit der auch die gegenwärtigen Philosophen zwingend konfrontiert sind und sein werden. Im Hinblick auf die Begründung von Aufnahmepflichten geschieht dies jedoch überwiegend auf Basis von positiven Schutz- und Hilfspflichten.
Ich erläutere also in Kapitel 2 zunächst Youngs gesamtes Modell. Kapitel 3 widmet sich dann hauptsächlich dem Thema Flucht und Migration. Um den Schwerpunkt dieser Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren, bette ich im ersten Teil des vierten Kapitels die im Vorangegangen dargelegte Problematik in einen ethisch philosophischen Kontext ein. Hier gehe ich auf den aktuell vorherrschenden Diskurs um positive Aufnahme- und Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen ein. Warum im Gegenzug dazu auch der Young´sche Ansatz in der Fluchtthematik von Bedeutung ist, möchte ich abschließend diskutieren. Das fünfte und letzte Kapitel dient einem Fazit.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Iris Marion Young - Verantwortung und globale Gerechtigkeit
2.1 Strukturelle Ungerechtigkeit
2.2 Das Modell sozialer Verbundenheit
2.3 Youngs Beurteilungsparameter
3. Flucht und Migration
3.1 Flucht und Migration - Was ist der Unterschied?
3.1.1 Begriff des Flüchtlings
3.1.2 Begriff der Migration
3.2Flucht und Migration - Was sind die Ursachen?
3.2.1 Schub- und Sogfaktoren von Migration
3.2.2 Ursachen von Fluchtbewegungen
4. Flucht als Folge globaler Ungerechtigkeit
4.1 Flucht und Moral - eine ethisch philosophische Dimension
4.1.1 positive Schutz- und Hilfspflichten
4.1.2 Fluchtursachen, soziale Verbundenheit und Verantwortung ..
5. Fazit
6. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
In einer globalisierten Welt ist die Frage nach einer globalen Gerechtigkeit wichtiger denn je. Sind Bürger1 wohlhabender Staaten gegenüber jenen Menschen zur Hilfe verpflichtet, die außerhalb der Grenzen ihres Nationalstaates leben? Besonders die Reichweite von Gerechtigkeitsansprüchen sorgt für eine anhaltende Debatte. Während einige einer Verteilungsgerechtigkeit auf globaler Ebene aufgrund mangelnder notwendiger Voraussetzungen widersprechen, fordern andere die Prinzipien einer überstaatlichen Gerechtigkeit. Zu Letzteren ist die Philosophin Iris Marion Young zu zählen, die den Fokus dieser Arbeit einnehmen soll. Wie viele andere Autoren verweist sie auf die Entwicklung einer ungerechten globalen Ordnung. Ihr Modell sozialer Verbundenheit versucht, Verantwortliche für eben diese Unrechtsursachen festzumachen. Hierbei zieht Young keine Grenzen zwischen den jeweiligen politischen Gemeinwesen.
Im Rahmen dieser Hausarbeit möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern man nach Youngs Modell der sozialen Verbundenheit für die Ursachen von Flucht und Migration in die Verantwortung gezogen werden kann. Die Problematik der gemeinhin bekannten „Flüchtlingskrise“ stellt eine Herausforderung dar, mit der auch die gegenwärtigen Philosophen zwingend konfrontiert sind und sein werden. Im Hinblick auf die Begründung von Aufnahmepflichten geschieht dies jedoch überwiegend auf Basis von positiven Schutz- und Hilfspflichten. Ich erläutere also in Kapitel 2 zunächst Youngs gesamtes Modell. Kapitel 3 widmet sich dann hauptsächlich dem Thema Flucht und Migration. Um den Schwerpunkt dieser Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren, bette ich im ersten Teil des vierten Kapitels die im Vorangegangen dargelegte Problematik in einen ethisch philosophischen Kontext ein. Hier gehe ich auf den aktuell vorherrschenden Diskurs um positive Aufnahme- und Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen ein. Warum im Gegenzug dazu auch der Young'sche Ansatz in der Fluchtthematik von Bedeutung ist, möchte ich abschließend diskutieren. Das fünfte und letzte Kapitel dient einem Fazit.
2. Iris Marion Young - Verantwortung und globale Gerechtigkeit
Die Philosophin Iris M. Young entwickelt das Modell aus sozialer Verbundenheit als notwendige Ergänzung zum Haftbarkeitsmodell, um Verantwortliche für strukturelle Ungerechtigkeiten festzumachen. Im Folgenden erläutere ich, was genau dieser Begriff bedeuten soll.
2.1 Strukturelle Ungerechtigkeit
Nach Young ist „das Zusammenspiel zwischen internationalen Regeln und aufeinander einwirkenden Gewohnheitsabläufen“ kennzeichnend für Strukturen (Young, 2010, S. 343). Sie bestimmen letztlich die relativ stabil bleibenden Gegebenheiten, unter denen Individuen ermöglicht wird, zu handeln. Soziale Strukturen bilden demnach die Hintergrundbedingungen für individuelle Handlungen. Während sie einerseits die Voraussetzungen für unser Handeln schaffen, schränken sie es jedoch andererseits ein (vgl. ebd.). Innerhalb dieser sozialen Strukturen haben einzelne Menschen unterschiedliche Positionen, die wiederum in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Young spricht hier von „strukturellen Positionen“, die für diejenigen, die sie besetzen, verschiedene sowie ungleiche Chancen, aber auch mögliche Vorteile beinhalten. Oftmals korreliert dabei die Einschränkung von Chancen und Vorteilen der einen direkt mit größeren Chancen und Vorteilen der anderen (vgl. ebd., S. 344).
Strukturelle Ungerechtigkeit existiert also, „when social processes put large groups of persons under sytematic threat of domination or deprivation of the means to develop and exercise their capacities“ (Barry & Ferracioli, 2013, S. 249, zitieren nach Young, 2011, S.52). Es handelt sich um eine Form moralischen Unrechts, dass durch das Einwirken vieler Individuen und Institutionen entsteht, die innerhalb bestehender institutioneller Regeln und akzeptierter Normen ihren eigenen Interessen nachgehen. Im Zuge dieser sozialen Prozesse sind alle Personen, die in jenes System verstrickt sind, als Teil des Verursachungsprozesses in die Verantwortung zu ziehen. Wichtig zu betonen ist, dass Young strukturelle Ungerechtigkeit von unrechten Handlungen eines einzelnen Individuums oder von vorsätzlich unterdrückerischen politischen Entscheidungen eines Staates abgrenzt (vgl. Young, 2010, S. 346).
Ich richte nun den Blick auf das Modell der Verantwortung aus sozialer Verbundenheit, das dazu dienen soll, strukturelle Ungerechtigkeiten und die dafür Verantwortlichen angemessen zu erfassen.
2.2 Das Modell sozialer Verbundenheit
Beim Modell sozialer Verbundenheit wird von einer Verantwortung ausgegangen, die dadurch entsteht, dass Individuen durch ihre Handlungen (indirekt) zu Prozessen und Resultaten struktureller Ungerechtigkeiten beitragen. Es wird also keine schuldige oder rechenschaftspflichtige Person gesucht, die für einen Schaden verantwortlich gemacht wird. Young macht dabei keinen Halt vor Nationalgrenzen oder einer gemeinsamen Verfassung. Vielmehr schließen die bereits erwähnten strukturellen Prozesse Personen ein, die über die gesamte Erde verstreut leben. In einer globalisierten Welt nehmen wir daher mit anderen an voneinander abhängigen institutionellen Kooperati- ons- und Wettbewerbsprozessen teil. Sollten dadurch moralische Unrechtssituationen entstehen, tragen dafür alle zusammen die Verantwortung (vgl. ebd., S. 353f.). Young illustriert dies ausführlich am Beispiel der sogenannten Ausbeutungsbetriebe, bei denen beispielsweise große Modekonzerne ihre Produktion in Fabriken unterentwickelter Länder verlagern, in denen häufig unzumutbare, teilweise menschenverachtende Arbeitsbedingungen herrschen. Hier zeichnet sich das erläuterte Muster perfekt ab: Die einen profitieren, sei es die Modekette wegen ihrer günstigen Produktionskosten oder schließlich der Konsument wegen seiner günstigen Klamotten, auf Kosten der anderen, also der Arbeiter. Überdurchschnittlich hohe Arbeitsstunden zu einem unterdurchschnittlich geringem Einkommen ist nur ein Preis von vielen, den die Arbeitskräfte dafür zahlen müssen.
Wie im Vorangegangen angedeutet, stellt Youngs Modell eine Ergänzung zum Haftbarkeitsmodell dar. Im Verlauf dieser Arbeit möchte ich jedoch lediglich insofern auf Letzteres eingehen, wie es für die im Anschluss zu bearbeitenden Punkte notwendig ist. Young ist der Ansicht, dass das Haftbarkeitsmodell für das Erfassen struktureller Ungerechtigkeiten unzureichend sei, da es auf direkten Wechselwirkungen zwischen einem Schädiger und einem Geschädigten basiert. Möchte man also Verantwortung als eine Form von Schuld oder Haftbarkeit bezeichnen, sind klare Beweisregeln für die kausale Verbindung zwischen der Person und dem Schaden sowie für die Bewertung der Absichten, Motive und Konsequenzen der Handlung notwendig. Da an ungerechten sozialen Prozessen aber Tausende oder Millionen Akteure beteiligt sind, ist es schlichtweg unmöglich, eine solche Verbindung auszumachen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Globalisierung stehen die größten Profiteure im System jenseits von jeglicher direkten Wechselwirkung mit denjenigen, die am meisten geschädigt werden (vgl. Young, 2010, S. 348ff.). Young benennt außerdem fünf Merkmale ihres Modells, die im Kontrast zum Haftbarkeitsmodell stehen (vgl. ebd., S. 354-360):
1) Nicht-isolierende Betrachtung: Indirekte und direkte Verursacher von Unrecht werden in die Verantwortung gezogen.
2) Beurteilung der Hintergrundbedingungen: Gesellschaftlich akzeptierte Hintergrundstrukturen werden auf ihre moralische Akzeptanz untersucht.
3) Eher in die Zukunft als in die Vergangenheit blickend: Ohne aktives Eingreifen wird der fortlaufende Prozess struktureller Ungerechtigkeiten nicht beendet, die Zeitrichtung für das Zuschreiben und Übernehmen von Verantwortung ist also eher vorausblickend.
4) Geteilte Verantwortung: Im Rahmen der Teilnahmeverantwortung ist jeder zu einem Teil persönlich an den im Kollektiv verursachten schädlichen Folgen verantwortlich.
5) Nur durch kollektive Handlung umzusetzen: Viele Akteure in unterschiedlichen sozialen Positionen, sogar die Opfer des Unrechts, müssen sich zusammenschließen, um solange einzugreifen, bis andere Ergebnisse erzielt werden.
Nach Youngs Konzeption von Verantwortung handelt es sich schließlich um eine „politische Verantwortung" (ebd., S. 359).
„Political responsibility in relation to structural injustice, then, certainly should involve making demands on state and international institutions to develop policies that limit the ability of poweful and privileged actors to do what they want without much regard to its cumulative effect on others, and to promote the well-being of less powerful and privileged actors“ (Barry & Ferracioli, 2013, S. 251, zitieren nach Young, 2011, S. 151).
2.3 Youngs Beurteilungsparameter
Es stellt sich also die Frage, ob alle Teilnehmer in selbem Maße verantwortlich für strukturelle Ungerechtigkeiten sind. Die Beurteilungsparameter sollen dazu dienen, die verschiedenen Verantwortungsgrade und -typen festzumachen. Da die beteiligten Personen in strukturellen Prozessen unterschiedliche Positionen innehaben, können sich somit unterschiedliche Verantwortlichkeiten für die Ungerechtigkeiten und deren Beseitigung ergeben. Young schlägt vier Parameter vor, nach denen dies überprüft werden kann (vgl. Young, 2010, S. 362-368):
1) Macht: In strukturellen Prozessen steht die Position einer Person in direkter Verbindung mit ihrem Grad an Macht bzw. Einflussnahme. Akteure, die über viel Macht in den globalen Handelsprozessen besitzen, können strukturelle Vorgänge effektiv beeinflussen, da ihnen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. Da diese mächtigen Akteure jedoch oftmals persönliches Interessen bei der Beibehaltung ungerechter Strukturen verfolgen, gilt es von außen auf sie Druck auszuüben. Diejenigen, die nicht genügend Mittel haben, um sich auf alle Ungerechtigkeiten zu konzentrieren, sollen sich auf die Prozesse fokussieren, bei denen sie eher etwas bewegen können als andere.
2) Privileg: Im Zuge struktureller Ungerechtigkeit können Personen eine privilegierte Stellung einnehmen, was selbstverständlich mit einer höheren Machtposition einhergeht. Es gibt aber auch relativ privilegierte Personen mit wenig Macht, Kleidungskonsumenten aus der Mittelklasse der nördlichen Hemisphäre sind dafür ein gutes Beispiel. Ihnen kommt eine besondere moralische Verantwortung an der Beseitigung ungerechter Strukturen zu, da sie besser als andere in der Lage sind, sich an Reformen anzupassen (wie etwa teurere Kleidung), ohne dass sie gravierende Einbußen in Kauf nehmen müssten.
3) Interesse: Verschiedene Menschen und Organisationen vertreten unterschiedliche Interessen an der Aufrechterhaltung oder Veränderung von unge- rechten Strukturen. Meist sind es jedoch genau die mit der größten Macht, die eine Umgestaltung effizient beeinflussen könnten, gleichzeitig aber das größte Interesse haben, diese schädlichen Strukturen beizubehalten. Das Hauptinteresse an der Beseitigung jener Strukturen haben laut Young die Opfer der Ungerechtigkeiten. Insbesondere sie stehen in der Verantwortung, an der Verbesserung der Situation mitzuwirken, dies kann jedoch nur mit Hilfe von Organisationen gelingen.
4) Kollektive Fähigkeiten: Kollektive Handlungen können relativ einfach organisiert werden. Young gibt das Beispiel des universitären Aktivismus, der sich im Rahmen der Colleges und Universitäten als große Kleidungskonsumenten gegen Ausbeutungsbetriebe einsetzt. Studierende und Fakultäten werden hierdurch auch auf die Kernfragen globaler Arbeitsgerechtigkeit aufmerksam gemacht, was letztlich einen ersten Schritt zur Veränderung struktureller Prozesse darstellt.
Nachdem also ein umfassender Überblick zum Modell der Verantwortung aus sozialer Verbundenheit gegeben wurde, wende ich mich jetzt dem zweiten thematischen Schwerpunkt zu, nämlich der Problematik von Flucht, Migration und ihren Ursachen.
3. Flucht und Migration
Die Begriffe ,Flucht' und ,Migration' werden oftmals im gleichen Atemzug genannt. Es ist jedoch wichtig, zwischen den beiden Bezeichnungen klar zu unterscheiden, um vor allem Hilfs- und Aufnahmepflichten gegenüber der flüchtenden bzw. immigrierenden Person eindeutig ausmachen zu können. Daher werde ich dies im kommenden Abschnitt kurz skizzieren.
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1 Hier und im Folgenden umfassen alle männlichen Persönlichkeitsbezeichnungen beide Geschlechter.