Die polizeiliche Anhörung von Kindern als Zeugen im Strafverfahren
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Kinder als Zeugen in Strafverfahren
I. Die Zeugenrechte und -pflichten von Kindern
1. Erscheinungspflicht
2. Aussagepflicht
a) Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht
3. Untersuchungspflicht
B. Altersbezogene Merkmale
I. Aussagetüchtigkeit bei Kindern
II. Das Aussageverhalten im Hinblick auf das Alter
1. Wahrnehmung
2. Gedächtnis
3. Sprachentwicklung
4. Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Kinderaussage
a) Suggestibilität minderjähriger Zeugen
C. Vernehmung kindlicher Zeugen
I. Der polizeiliche Vernehmungsablauf
1. Vorbereitungsphase
2. Orientierungsphase
3. Der freie Bericht
4. Fragen stellen
5. Abschluss
II. Die audiovisuelle Vernehmung
D. Fazit
Literaturverzeichnis
A. Kinder als Zeugen in Strafverfahren
Kind ist, wer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 1 JuSchG). „Zeuge kann nur sein, wer die zu bekundende Tatsache wahrnehmen konnte, wer sie in Erinnerung behalten hat und wer darüber noch Auskunft geben kann" (Höttges, 2002, S. 56).
I. Die Zeugenrechte und -pflichten von Kindern
Ist von einem Kind eine solche Aussage zu erwarten, entsteht seine Zeugenstellung und mit der Zeugenstellung entstehen die Zeugenpflichten.
1. Erscheinungspflicht
Die Vorladung eines Minderjährigen ist grundsätzlich an die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter zu richten (PDV 382, S. 18, Rn. 3.3.1). Gesetzlicher Vertreter ist gemäß § 1629 BGB jede Person, der nach dem BGB als Teil der elterlichen Sorge (§ 1626 BGB) das Recht der Personensorge (§ 1631 BGB) zusteht. In der Regel sind dies beide Elternteile. Sind Eltern nicht vorhanden oder steht keinem Elternteil die Personensorge zu, so bestellt das Vormundschaftsgericht einen Vormund (§ 1773 BGB). Ist für den Minderjährigen ein Vormund bestellt, ist dieser der gesetzliche Vertreter (§ 1793 BGB). Die Erscheinungspflicht für Kinder und Jugendliche gilt bei einer Ladung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, nicht jedoch bei der Polizei (Höttges, 2002, S. 58).
2. Aussagepflicht
Auch Kinder haben eine Aussagepflicht. Nach § 69 StPO ist jeder Zeuge verpflichtet, alles das mitzuteilen, was ihm bekannt ist.
a) Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht
Auch Kinder können ein Zeugnisverweigerungsrecht nach §52 Abs. 2 StPO und ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 2 StPO haben. Sie sind dementsprechend auch zu belehren. Voraussetzung ist, dass der Minderjährige die Belehrung versteht und den Inhalt seiner Rechte verinnerlicht hat. Ein Kind, das die Bedeutung seiner Rechte nicht versteht, darf nur vernommen werden, wenn es zur Aussage bereit ist und der gesetzliche Vertreter zustimmt. Es ist zu dokumentieren, wie darauf geschlossen wurde, dass das Kind das Zeugnisverweigerungsrecht nicht verstanden hat.
Daher ist auch der gesetzliche Vertreter über die Rechte des Minderjährigen und über sein Recht nach § 52 Abs. 3 StPO zu belehren. Die Entscheidung über das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO steht dem gesetzlichen Vertreter nicht zu (PDV 382, S. 19 f.). Ist jedoch einer der gesetzlichen Vertreter der Beschuldigte, dann sind gemäß § 52 II 2 StPO beide Elternteile ausgeschlossen. In diesem Fällen ist ein Ergänzungspfleger zu bestellen (§ 1909 BGB).
3. Untersuchungspflicht
§ 81c StPO regelt die Pflicht sich untersuchen und begutachten zu lassen. Es handelt sich hierbei nicht direkt um eine Zeugenpflicht. Das Kind wird vom Zeugen zum Augenscheinsobjekt, da das Beweismittel in diesem Fall die Beschaffenheit des Körpers ist. Eine Untersuchung gegen den Willen eines Kindes mit Zeugnisverweigerungsrecht kann nicht stattfinden. Nach § 81c III StPO sind Kinder dementsprechend über dieses Recht zu belehren. Bei fehlender Verstandesreife kann der gesetzliche Vertreter über die Untersuchung entscheiden. Fehlt die Verstandsreife des Minderjährigen, darf eine Untersuchung nur mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erfolgen. Es gelten die gleichen Vorschriften wie bei der Ausübung des Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechts. Nach § 81 c III StPO ist zur Beweissicherung auch die Untersuchung auf besondere richterliche Anordnung zulässig.
B. Altersbezogene Merkmale
I. Aussagetüchtigkeit bei Kindern
Fraglich ist, ab welchem Alter Kinder überhaupt als Zeugen geeignet sind und ob auch objektive Tatbestände korrekt wiedergegeben werden können. Oft ist nicht das Erreichen eines bestimmten Alters für eine Aussagetüchtigkeit ausschlaggebend, sondern die individuelle altersbedingte Entwicklung des Kindes (Hermanutz et al., 2015, S. 51).
Daher sind bei der Vernehmung von kindlichen Zeugen zahlreiche strukturelle, kontextuelle und individuelle Voraussetzungen sowie Bedingungen der Befragung zu beachten. Obwohl die Beziehung zwischen Alter und Gedächtnis gerade bei Kindern komplex ist, können Kinder durchaus valide Informationen als Zeugen bereitstellen (Roberts & Blades, 2000).
II. Das Aussageverhalten im Hinblick auf das Alter
Kinder erleben eine ganz andere Lebenswirklichkeit als Erwachsene es tun. Nach Erwachsenenlogik sind Denk- und Verhaltensweisen von Kindern oft nicht nachvollziehbar und beurteilbar. Daher müssen sie von Erwachsenen entschlüsselt und interpretiert werden (Habschick, 2016, S. 472).
Bei einer Befragung von Kindern müssen somit vor allem die altersund entwicklungsspezifischen Besonderheiten, aber auch die individuellen Merkmale des Kindes berücksichtigt werden (Heubrock & Don- zelmann, 2010, S. 140). Die wesentlichen kognitiven Prozesse, sind trotz individueller biografischer Besonderheiten wie z.B. Krankheit, Traumata, Drogenmissbrauch, weitestgehend bei allen Kindern gleich. Somit können allgemeingültige Aussagen zu den kognitiven Fähigkeiten der einzelnen Altersgruppen getroffen werden (Habschick, 2016, S. 471).
Polizeibeamte müssen sich ständig vergegenwärtigen, dass vorhandene Parameter auch innerhalb einer Gruppe gleichaltriger Kinder nicht einheitlich entwickelt sein können und das Tat- und Unrechtsverständnis sowie auch das Bewusstsein über mögliche Aussagekonsequenzen sehr individuell ausgeprägt sein kann. Vor allem die intellektuelle Fähigkeit des Kindes hat einen großen Einfluss auf die notwendige Reife als Voraussetzung für eine verwertbare Vernehmung. Die geistige Reife von Kindern bereits bei der ersten Begegnung richtig einzuschätzen, stellt Polizeibeamte, die diesbezüglich selten ausgebildet werden, oft vor eine große Herausforderung (Petzold, 2017, S. 70).
1. Wahrnehmung
Ab etwa drei Jahren sind Kinder grundsätzlich in der Lage, Geschehnisse sinnlich umfänglich wahrzunehmen. (Hermanutz et al., 2015, S. 53). Kinder bis zum vierten Lebensjahr haben Schwierigkeiten, Ereignisse präzise zeitlich und räumlich einzuordnen (Heubrock & Donzel- mann, 2010, S. 141) und viele unterschiedliche Wahrnehmungen innerhalb einer komplexen Situation gleichzeitig zu verarbeiten. Tatsächlich Erlebtes kann oft von Phantasiertem nicht unterschieden werden. (Hermanutz & Adler, 2009, S. 624). Dennoch ist die Beobachtungsfähigkeit bereits gut ausgeprägt (Heubrock & Donzelmann, 2010, S. 141). Auch bei vier- bis sechsjährigen Kinder kommt es noch häufig zu einer Vermischung von wahren Begebenheiten und Phantasievorstellungen (Hermanutz & Adler, 2009, S. 624). Dennoch können hier konkrete, tatsächliche Erlebnisse, welche auf das Kind eindrucksvoll gewirkt haben, im Rahmen der Beobachtungs- und Schilderungsfähigkeit sehr präzise wiedergegeben werden (Hermanutz & Adler, 2009, S. 624). 7- bis 10-jährige Kinder sind in der Lage neben der eigenen Betroffenheit auch Randgeschehnisse ihrer Umwelt wahrzunehmen, welche sie nur am Rande oder gar nicht betreffen. Der Realitätssinn ist deutlich ausgeprägter (Heubrock & Donzelmann, 2010, S. 141). Ab 10 Jahren unterliegt die Wahrnehmungsfähigkeit bei Kindern in der Regel keinerlei Beeinträchtigungen mehr (Heubrock & Donzelmann, 2010, S. 142) und sie sind bereits sehr realitätsorientiert entwickelt (Habschick, 2016, S. 475).
2. Gedächtnis
Die Erinnerungsleistung von Kindern kann im strafrechtlichen Kontext unter zwei Aspekten relevant sein. Zum einen die entwicklungsgemäße Fähigkeit der Erinnerungsleistung an sich, als auch die Fähigkeit älterer Kinder Episoden eines früheren Lebensabschnitts abzurufen.
Bis zum zweiten Lebensjahr beschreiben Kinder vor allem Gegenwärtiges. Subjektiv bedeutsame Erlebnisse werden wahrgenommen, aber aufgrund mangelnder sprachlicher Entwicklung und des geringes Organisationsgrades der Erinnerung meist nicht langfristig behalten (Niehaus et al., 2017, 30f.). Die meisten Menschen können sich an Dinge vor dem 3. Lebensjahr, aufgrund einer frühkindlichen Amnesie, gar nicht mehr erinnern. Ausnahmen bilden hier nur sehr negative und emotionale Ereignisse (Habschick, 2016, S. 479). Ab dem zweiten Lebensjahr fangen Kinder an, auch über Vergangenes zu berichten. In dieser Zeit beginnt die Entwicklung der Fähigkeit auch spezifischere Angaben zu Ereignissen zu machen. Ab dem dritten Lebensjahr sind bei normaler Entwicklung erste zusammenhängende Schilderungen von Ereignissen zu erwarten. Das Problem hierbei ist die noch vorhandene narrative Schwäche. Dies führt dazu, dass Kinder erhebliche Schwierigkeiten haben ein Ereignis im freien Bericht zu erläutern. Ohne spezifische Hinweisreize bleiben selbst initiierte Gespräche über Vergangenes auch im 4. Lebensjahr sehr selten (Niehaus et al., 2017, 30f.). Bis zum 6. Lebensjahr sind auch Erinnerungsverschiebungen möglich (Heubrock & Donzelmann, 2010, S. 141). Außerdem werden oft zeitliche Marker wie z.B. Gestern, Heute, Morgen falsch verwendet. Aussagen zu zeitlichen Angaben sind daher oft nicht zuverlässig (Niehaus et al., 2017, S. 32). Ab dem siebten Lebensjahr sind die Gedächtnisleistungen beständiger. Daher sind umfangreichere und eindeutigere Schilderungen möglich (Heubrock & Donzelmann, 2010, 141 f.)
Eine Gesamtbetrachtung der Befunde zur Gedächtnisspanne lässt eine ständige Verbesserung dieser Spanne von der frühen Kindheit bis hin zur Jugend erkennen (Hermanutz & Adler, 2009, S. 624).
3. Sprachentwicklung
Kinder erlernen Sprache und Sprachverständnis in den ersten 24 Monaten ihrer kognitiven Entwicklung (Habschick, 2016, S. 472). Meist kommt es danach zu einer „Wortschatzexplosion“. (Hermanutz & Adler, 2009, S. 625). Dennoch ist die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und der vorhandene Wortschatz sehr begrenzt (Heubrock & Donzelmann, 2010, S. 141). Kinder sind in diesem Alter nicht fähig, vorsätzlich zu lügen. Ungenauigkeiten in Aussagen sind daher nicht als klassische Lügen anzusehen (Habschick, 2016, S. 473). Mit sechs Jahren ermöglicht die zunehmende Beherrschung der Grammatik abstraktere Vorstellungsformen (Hermanutz & Adler, 2009, S. 625). Dennoch werden häufig längere und kompliziertere Wörter abweichend ausgesprochen oder überspezifische Verwendungen von Kategorien (z.B. Schuhe sind keine Kleidung) sowie ein wörtliches Wortverständnis (z.B. Wohnung ist nicht gleich Haus) benutzt (Niehaus et al., 2017, S. 34). Mit Eintritt in das Schulalter verbessert sich die allgemeine Sprachfähigkeit stetig. Ab dem 11. Lebensjahr kann das Aussageverhalten sehr facettenreich sein. Da die Ausprägung von Hemmungen und Schambarrieren in diesem Alter zunimmt, können diese den Informationsgehalt der Aussage verringern (Heubrock & Donzelmann, 2010, 141f.).
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