Im Kurzroman "Salón de belleza" des mexikanischen Autors Mario Bellatin ist AIDS und die damit verbundene Stigmatisierung das zentrale Thema. In dieser Arbeit wird sein Werk einer Analyse unterzogen. Es wird untersucht, in welchen Ausprägungen die Krankheitserzählung chronischer und ansteckender Krankheiten in der lateinamerikanischen Literatur vertreten ist und inwiefern diese der auftretenden Stigmatisierung entgegenwirkt. Außerdem wird die anhaltende Relevanz der Krankheitsnarrative und deren Erzählformen analysiert, indem Parallelen zwischen der Krankheit im Roman und der aktuellen COVID-19-Pandemie gezogen werden, wobei der Fokus auf der Marginalisierung der Erkrankten und den sozialen Problemen in der Gesellschaft liegt.
Obwohl das Thema AIDS als Krankheit in der lateinamerikanischen Literatur allmählich an Dringlichkeit verloren hat, behält das Akronym HIV/AIDS weiterhin große symbolische Kraft. HIV steht für das Human Immunodeficiency Virus, durch dessen Infektion auch harmlose Krankheiten lebensbedrohlich sein können. Es bezeichnet eine Schwächung des Immunsystems, ist hochgradig ansteckend und führt nach einigen Jahren zu AIDS.
In den frühen 80er Jahren begannen einige homosexuelle Männer in den USA, seltene Tumore zu entwickeln. Kurze Zeit später wurde das neuartige HIV-Virus dafür verantwortlich gemacht, welches sich seit den 1990er Jahren auch innerhalb Zentralamerikas ausbreitete. Als ansteckende und sexuell übertragbare Krankheit betrifft AIDS nicht nur den Erkrankten selbst. Innerhalb Zentral- und Lateinamerikas wurden Homosexuelle als Hauptüberträger identifiziert und als Randgruppe aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Wegen des starken katholischen Einflusses sind nicht-traditionelle Geschlechterrollen hier ohnehin noch nicht allgemein anerkannt. Aufgrund dieser Stigmatisierung, die mit einer ansteckenden Krankheit einhergeht, stehen Mediziner*innen und Patient*innen vor einer großen Herausforderung. Gemeinsam muss ein Weg gefunden werden, um das Leiden der Kranken zu lindern. Hier kommt die Krankheitserzählung ins Spiel, die sich zeitgleich mit AIDS in Lateinamerika etablierte. Die Krankheitserzählung hilft den Erkrankten, ihre persönlichen Erfahrungen und ihr Leiden zu vermitteln.
Inhaltsverzeichnis
1. Die HIV/AIDS-Pandemie in der lateinamerikanischen Literatur
2. Theorie
2.1 Narration in Medicine
2.1.1 Illness narrative und ihre Erzählweisen: C haos narrative nach Frank
2.1.2 Die Illness narrative bei chronischen Krankheitsverläufen nach Bury
2.2 Die sozialen Auswirkungen der ansteckenden Krankheit
2.2.1 Illness as metaphor und das kollektive Phänomen
2.2.2 Zwei Viren als Auslöser für Pandemien und aktuelle Krisen: HIV und COVID-19
3. Analyse
3.1 Narratologische Analyse
3.1.1 Diskursebene
3.1.2 Geschichtsebene
3.2 Analyse der Darstellung der ansteckenden Krankheit und chronischen Krankheitserzählung im Roman
3.2.1 Die chaotische Krankheitserzählung im „Sterbehaus“
3.2.2 Krankheit und Leben als gegensätzliche Metaphern in der Literatur
3.2.3 Die soziale Reaktion auf ansteckende Krankheiten im Schönheitssalon und ihre Projektionen auf die aktuelle Pandemie von COVID-19
4. Fazit: Die Bedeutsamkeit der Krankheitserzählung im Hinblick auf die aktuelle COVID-19-Pandemie
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Die HIV/AIDS-Pandemie in der lateinamerikanischen Literatur
Obwohl das Thema AIDS als Krankheit in der lateinamerikanischen Literatur allmählich an Dringlichkeit verloren hat, behält das Akronym HIV/AIDS weiterhin große symbolische Kraft. HIV steht für das Human Immunodeficiency Virus, durch dessen Infektion auch harmlose Krankheiten lebensbedrohlich sein können. Es bezeichnet eine Schwächung des Immunsystems, ist hochgradig ansteckend und führt nach einigen Jahren zu AIDS. (vgl. Kottow 2010: 248)
In den frühen 80er Jahren begannen einige homosexuelle Männer in den USA, seltene Tumore zu entwickeln. Kurze Zeit später wurde das neuartige HIV-Virus dafür verantwortlich gemacht, welches sich seit den 1990er Jahren auch innerhalb Zentralamerikas ausbreitete. Als ansteckende und sexuell übertragbare Krankheit betrifft AIDS nicht nur den Erkrankten selbst. Innerhalb Zentral- und Lateinamerikas wurden Homosexuelle als Hauptüberträger identifiziert und als Randgruppe aus der Gesellschaft ausgeschlossen. (vgl. Smallman 2007: 114) Wegen des starken katholischen Einflusses sind nicht-traditionelle Geschlechterrollen hier ohnehin noch nicht allgemein anerkannt. (vgl. Hartwig 2018: 455) Aufgrund dieser Stigmatisierung, die mit einer ansteckenden Krankheit einhergeht, stehen Mediziner*innen und Patient*innen vor einer großen Herausforderung. Gemeinsam muss ein Weg gefunden werden, um das Leiden der Kranken zu lindern. Hier kommt die Krankheitserzählung ins Spiel, die sich zeitgleich mit AIDS in Lateinamerika etablierte. (vgl. Charon 2006: 75) Die Krankheitserzählung hilft den Erkrankten ihre persönlichen Erfahrungen und ihr Leiden zu vermitteln. (vgl. Bury 2001: 264)
Auch im Kurzroman Salón de belleza des mexikanischen Autors Mario Bellatin von 1994 ist AIDS und die damit verbundene Stigmatisierung das zentrale Thema. Mario Bellatin wird als führende Stimme der spanischen Belletristik bezeichnet. (vgl. Rohter 2009) In dieser Arbeit wird sein Werk einer Analyse unterzogen, um zu untersuchen, in welchen Ausprägungen die Krankheitserzählung chronischer und ansteckender Krankheiten in der lateinamerikanischen Literatur vertreten ist und inwiefern diese der auftretenden Stigmatisierung entgegenwirkt. Außerdem wird die anhaltende Relevanz der Krankheitsnarrative und deren Erzählformen analysiert, indem Parallelen zwischen der Krankheit im Roman und der aktuellen COVID-19-Pandemie gezogen werden, wobei der Fokus auf der Marginalisierung der Erkrankten und den sozialen Problemen in der Gesellschaft liegt.
2. Theorie
Um die narration in medicine (dt. ‚narrative Medizin‘) in der lateinamerikanischen Literatur analysieren zu können, wird zunächst die theoretische Grundlage geschaffen. Hierbei wird vor allem auf die illness narrative (dt. ‚Krankheitserzählung‘) eingegangen, die eine der bedeutendsten Ausprägung der narration in medicine darstellt. Da für die weitere Analyse vor allem die chronische und ansteckende Krankheit essentiell ist, wird diese anhand der chaos narrative (dt. ‚Chaoserzählung‘) und der moral narrative (dt. ‚moralische Erzählung‘) nach Frank und Bury in den folgenden Unterkapiteln genauer definiert.
Im Folgekapitel werden in diesem Zusammenhang die sozialen Auswirkungen der ansteckenden Krankheit und das damit zusammenhängende kollektive Phänomen nach Susan Morgan näher erläutert. Als Beispiele der ansteckenden Krankheit und daraus resultierende Pandemien werden die HIV- und COVID-19-Pandemie verwendet und später miteinander verglichen.
2.1 Narration in Medicine
In der narrativen Medizin werden kranke Menschen selbst zu Geschichtenerzählern. (vgl. Charon 2005: 261) Im Gegensatz zu medizinischen Fallgeschichten befasst sich die narration in medicine mit der Erfahrung des Leidens und nicht mit dem biomedizinischen Konzept der Krankheit. Hierbei wird klar zwischen den Begriffen der medizinischen Anamnese, der Bericht des Arztes/der Ärztin über die Krankheit des Patienten/der Patientin, und der Krankheitserzählung, die Erzählung des Patienten/der Patientin über die eigene Krankheitserfahrung, unterschieden. Die Anamnese folgt auf ein ärztliches Gespräch. Die erkrankte Person gibt hierbei die akute Krankheit in einer Abfolge von Prozessen und Erfahrungen wieder, woraufhin der Arzt/die Ärztin die Krankheit diagnostiziert. Eine gut erzählte medizinische Geschichte erleichtert die Diagnose, indem sie die Empathie und Neugier des ärztlichen Personals wecken. (vgl. Goyal 2014: 407f.) Auch Kleinmann erachtet das Miterleben der Krankheitsgeschichte als zentral für die klinische Arbeit und beschreibt dies als „entree into the world of the sick person.“ (1988: 447)
Im Gegensatz zur Anamnese geht die illness narrative auf die Erzählung der kranken Person und ihre Krankheitserfahrung ein. Krankheitserzählungen bringen die Wut auf die Krankheit selbst, aber auch auf die Gesellschaft oder die Enttäuschung der Medizin zum Ausdruck. (vgl. Goyal 2014: 414) Wenn Menschen keine Geschichten erzählen können, sind sie in ihrem Leiden isoliert. Für viele ist das Verfassen von Krankheitserzählungen deshalb erlösend und dient einem therapeutischen Zweck. (vgl. Frank 1998: 27) Gleichzeitig haben diese auch eine große Bedeutung für das Lesepublikum. Mit der illness narrative wird versucht, anderen Erkrankten zu helfen und sich gemeinsam mit dem Leid und der Veränderung auseinanderzusetzen. Den erkrankten Lesenden wird verdeutlicht, dass sie mit ihrer Krankheit und ihrem Leiden nicht alleine sind. (vgl. McLellan 1997: 1618f.)
2.1.1 Illness narrative und ihre Erzählweisen: C haos narrative nach Frank
Die illness narrative gibt die Krankheit in patientenspezifischen Begriffen wieder. Diese Patientenerzählungen werden nach Frank als „self-stories“ bezeichnet (1997: xii), in denen der eigene Körper der Grund für die erzählte Krankheitsgeschichte ist. Die Patient*innen nehmen aufgrund ihrer Krankheit eine Unsicherheit wahr, die sie in ihren self-stories zu beschreiben versuchen. (vgl. Frank 1997: 68f.)
Um das neue Genre der narrativen Beschreibung von Krankheiten zu definieren, wurde der Begriff „Pathographie“ wiederbelebt, der heute die Erstbeschreibung der zu behandelnden Personen bezeichnet. (vgl. Goyal 2014: 407) Der Begriff der Pathographie lässt sich in der Definition nach Frank als quest narrative (dt. ‚Sucherzählung‘) beschreiben, in denen die erkrankte Person durch die Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit eine besondere Einsicht gewinnt und die Identität somit positiv verändert wird. Geschichtenerzähler ist bei dieser Erzählweise die kranke Person selbst. Die quest narratives begegnen dem Leiden frontal, indem sie die Krankheit akzeptieren und versuchen, aus ihr zu lernen und sogar von ihr zu profitieren. Schwere Krankheiten implizieren somit auch, dass das frühere Selbst aufgegeben werden muss. (vgl. Frank 1997: 115-136)
Neben der quest narrative klassifiziert Frank die Krankheitserzählung nach zwei weiteren von ihm identifizierten „Storylines“ (1997: 57): Die chaos narrative (dt. ‚Chaoserzählung‘) und die restitution narrative (dt. ‚Restitutionserzählung‘). Die Restitutionserzählung konzentriert sich auf die Wiederherstellung der Gesundheit, weshalb in dieser Storyline (dt. ‚Handlungsstrang‘) das ärztliche Personal, die Krankenschwestern oder Therapeut*innen die Geschichtenerzähler sind. (vgl. Frank 1998: 26) Die Krankheit ist hier nur eine vorübergehende Veränderung bzw. Beeinträchtigung und das Selbst bleibt intakt.
Die Chaoserzählung hingegen beschreibt eine Krankheitserfahrung, die unverständlich, unvorhersehbar und fast nicht wiederzugeben ist. Frank beschreibt die chaos narrative als Gegensatz zur restitution narrative: „Here is deepest illness: disability can only increase, pain will never remit, physicians are either unable to understand what is wrong or unable to treat it successfully.“ (1998: 27) Eine anhaltende Krankheit bedeutet Probleme mit dem Job, was wiederum zu Einkommensverlusten und damit unzureichender medizinischer Versorgung führt. Die medizinischen Probleme entwickeln sich somit zunehmend zu sozialen Problemen.
Die Chaosgeschichte konzentriert sich auf das, was an der Krankheit am schwierigsten zu erzählen ist: Verlust und Leiden. (vgl. McLellan 1997: 1618) Hierbei bezieht sich die Chaoserzählung nicht nur auf die Krankheit, vielmehr beschreibt sie auch die sozialen Bindungen, die verloren gehen, da familiäre Verpflichtungen nicht mehr erfüllt werden können. Die Leserschaft fühlt sich bei der Chaosgeschichte in einen Strudel hineingesogen, dem sie nur noch entfliehen möchte. Die Krankheit bringt jedoch so viele Katastrophen mit sich, dass es kein Entkommen mehr gibt. Die Ereignisse finden im Präsens statt, wobei das Chaos ununterbrochen auf die Leserschaft wirkt. Ein weiteres Merkmal sind Ellipsen und Analepsen, da der Erzähler seine Geschichte nicht nach einer narrativen Ordnung von Anfang bis Ende wiedergeben kann. Die Lesenden dürfen sich nicht vom Bedürfnis überwältigen lassen, etwas für die kranke Person tun zu wollen. Jede Veränderung braucht Zeit, weshalb Veränderung bei einer schwer kranken Person ein problematisches Ziel ist. Das erste, was ein Mensch im Chaos braucht, ist jemand, der einfach zuhört. (vgl. Frank 1998: 27-29)
2.1.2 Die Illness narrative bei chronischen Krankheitsverläufen nach Bury
„Eine chronische Krankheit ist im Allgemeinen ein Zustand, der langsam fortschreitet, lange anhält und oft die Arbeitsfähigkeit, Produktivität und Lebensqualität der Betroffenen einschränkt.“ (Institute of Medicine 2012: 1) Chronische Krankheiten haben sich mittlerweile zu einem großen Problem der öffentlichen Gesundheit entwickelt und bedrohen nicht nur die Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen, da die Aktivitäten des täglichen Lebens eingeschränkt werden. (vgl. Institute of Medicine 2012: 43)
Bury untersucht die Bedeutung der illness narrative in Situationen chronischer Krankheiten, in denen das andauernde Leiden die Alltagserfahrung der Erkrankten und gleichzeitig auch die der Familie, Freunde und Betreuer*innen dominiert. Bei der Analyse von chronischen Krankheitserzählungen werden drei Arten von Erzählformen unterschieden: Die contingent narrative (dt. ‚kontingente Erzählung‘), die core narrative (dt. ‚Kernerzählung‘) und die moral narrative. Die contingent narratives geben Annahmen über die Ursprünge einer Krankheit wieder. Die core narratives zeigen diverse Verbindungen zwischen Krankheitserfahrungen des Laien und tieferen kulturellen Bedeutungsebenen. Die moral narratives berichten hingegen über die Veränderung der sozialen Zugehörigkeit einer erkrankten Person in der Gesellschaft. (vgl. Bury 2001: 264f.)
Nach Bury ist eine Krankheit eine „Biographische Störung, durch die die Beziehungen zwischen Körper, Geist und Alltagsleben verändert werden.“ (2001: 274) Moral narratives bewerten Gesundheit als tugendhaften Zustand und nehmen an, dass viele Krankheiten aus unangemessenen, individuellen Verhaltensweisen resultieren, weshalb den Erkrankten oft selbst die Schuld an ihrem Leiden gegeben wird. Der moralische Bestandteil der Krankheitserzählung ist vor allem die Angst der Erkrankten, als Last angesehen zu werden, weil sie ihr eigenständiges Leben nicht mehr weiterführen können. Diese Form der Angst und Störung kann jedoch auch in Selbstfindung umgewandelt werden, da sich die Patient*innen aktiv mit ihrer Krankheit auseinandersetzen. Die erkrankten Menschen analysieren zunächst ihr neues Selbst und versuchen dieses dann in einem Beziehungsgeflecht, wie der Familie oder der ganzen Gesellschaft, zu platzieren. Manchmal haben Krankheitserfahrungen deshalb auch positive Aspekte. Sie zeigen, worauf es im Leben ankommt und helfen eine neue Perspektive auf den Sinn und Zweck des eigenen Lebens zu gewinnen. (vgl. Bury 2001: 274-277)
2.2 Die sozialen Auswirkungen der ansteckenden Krankheit
Eine Krankheit betrifft nicht nur die erkrankte Person selbst, sondern auch ihr familiäres Umfeld. Bei einer ansteckenden Krankheit weitet sich das Umfeld jedoch von der familiären zur gesamten Umgebung der erkrankten Person aus. Im Folgenden wird deshalb die Krankheit als Metapher und das damit verbundene kollektive Phänomen bei ansteckenden Krankheiten untersucht. Der Fokus liegt hier auf den sozialen Problemen, die die Krankheit mit sich bringt und der Beziehung zur Gesellschaft.
Hierbei spielt die Autorin Susan Sontag eine zentrale Rolle. Die verschiedenen gesellschaftlichen Metaphern für Krankheiten werden zunächst analysiert und deren Auswirkungen in der Gesellschaft diskutiert. Außerdem kann die Marginalisierung einzelner Bevölkerungsgruppen auf jede Krankheit übertragen werden, die ein Mysterium für die Gesellschaft darstellt. (vgl. Sontag 1978: 4f.) Somit wird anschließend die aktuelle COVID-19-Pandemie mit der HIV-Pandemie im 19. Jahrhundert verglichen.
2.2.1 Illness as metaphor und das kollektive Phänomen
Traditionell geht es in Krankheitserzählungen um die individuelle Erfahrung des Krankseins. AIDS aber ist eine Krankheit, die mehrere Menschen betrifft und deshalb eine marginale Stellung in der Gesellschaft einnimmt. (vgl. Hyden 1997: 57) Die Beschreibung der Krankheiten Tuberkulose und Krebs bezieht sich im Werk Illness as metaphor nicht auf den klinischen Verlauf und ihre Behandlung, vielmehr werden die bedeutendsten Krankheiten des 19. bzw. 20. Jahrhunderts aus gesellschaftlicher Sicht betrachtet. (vgl. Treichler 2012: 262) An Krebs erkrankte Menschen werden oft beschuldigt, die Krankheit durch schlechte Lebensentscheidungen selbst verursacht zu haben. (vgl. Sontag 2006: 153) Jede neuartige Krankheit, die als Mysterium behandelt und gefürchtet wird, wird als moralisch ansteckend empfunden, weshalb viele Krebskranke von Verwandten und Freunden gemieden werden. (vgl. Sontag 1978: 4f.)
Metaphorisch gesehen ist Krebs keine Krankheit der Zeit, vielmehr agiert Krebs als eine „Krankheit des Raumes“. (Sontag 1978: 14) Die wichtigsten Metaphern beziehen sich deshalb auf die Topographie: Der Krebs "breitet sich aus" oder "wuchert", Tumore werden chirurgisch "entfernt". (vgl. Sontag 1978: 14f.) Außerdem werden unzählige Metaphern von Krieg und Gewalt verwendet, um über den Verlauf einer Krankheit zu sprechen: Der „Kampf gegen Krebs“, die „aggressiven“ Chemotherapien oder die Beschreibung des „Eindringens“ körperfremder Organismen. (vgl. Sontag 1978: 64) Aufgrund zahlloser Metaphern in der Literatur wird Krebs traditionell als etwas Peinliches für die erkrankte Person gesehen, die sich fragt, warum die Krankheit gerade ihr zugestoßen ist. (vgl. Sontag 1978: 24)
Bei AIDS jedoch ist diese Peinlichkeit bzw. Scham mit Schuldzuweisung verbunden, da Menschen mit Geschlechtskrankheiten ein unmoralisches Verhalten vorgeworfen wird. Sontag beschreibt in AIDS and its metaphors, dass AIDS Krebs als am meisten gefürchtete Krankheit abgelöst hat und eine noch viel größere gesellschaftliche Bedrohung darstellt, da die Erkrankung mit einer Identitätszerstörung einhergeht. (vgl. Sontag 2006: 153) Das kollektive Phänomen verabschiedet den Gedanken, eine Krankheit beträfe nur eine Person. Aufgrund der Angst und der Ungewissheit wird eine ganze Gemeinschaft in eine Krise hineingezogen und ist aufgrund der ansteckenden Krankheit alltäglichen Veränderungen ausgesetzt. (vgl. Treichler 2012: 267f.) Auch die unheilvollen Metaphern über AIDS führten zu Vorurteilen und einer Stigmatisierung der erkrankten Menschen. Obwohl die Anzahl der mit HIV infizierten homosexuellen Männer nur einen sehr kleinen Prozentsatz ausmachten, wurde AIDS als Schwulenseuche bezeichnet, was dazu führte, dass Homosexuelle als Randgruppe aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. (vgl. Braidt 2015: 60f.) AIDS als epidemische Krankheit führt zur Unterscheidung zwischen den Trägern der Krankheit und der allgemeinen Bevölkerung. (vgl. Sontag 2006 153f.)
2.2.2 Zwei Viren als Auslöser für Pandemien und aktuelle Krisen: HIV und COVID-19
Hohe Sterblichkeitsraten, medizinische Herausforderungen und stigmatisierende Effekte machten AIDS zu einem Phänomen des späten zwanzigsten Jahrhunderts. (vgl. Treichler 2012: 245) Auch die nächste Krise lässt nicht lange auf sich warten: Die COVID-19-Pandemie ist die bedeutendste Pandemie des 21. Jahrhunderts. Das Coronavirus SARS-CoV-2 führt zu Erkrankungen des Respirationstrakts, wobei COVID-19 wie eine harmlose Erkältung verlaufen, aber auch tödlich enden kann. (vgl. Hanaei und Rezaei 2020: 582) Aufgrund der rapiden Zunahme der Fallzahlen und weltweiten Verbreitung des Virus erklärte die WHO den Ausbruch im März 2020 zu einer Pandemie. Weltweit wird fieberhaft an Impfstoffen geforscht und die Gesundheitsbehörden versuchen, die wellenartige Pandemie unter Kontrolle zu bringen. (vgl. World Health Organization 2020) Die Viren werden zwar unterschiedlich übertragen, haben sich aber beide weltweit rapide ausgebreitet, waren zuvor unbekannt und lösten durch die permanenten Verunsicherungen von immer größeren Teilen der Gesellschaft eine Krise aus. Aufgrund der heute globalisierten Mobilitätsgesellschaft ist die COVID-19-Pandemie nicht mehr nur wie HIV auf geographische oder kulturelle Räume beschränkt, sondern nimmt ein globales Ausmaß an. (vgl. Hertrampf 2020: 3-5)
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