Das Ziel dieser Arbeit besteht in der Entwicklung einer Verhaltensanalyse mit anschließender Diagnose, welche mithilfe der theoretischen Grundlagen einer Fallkonzeptualisierung zu einer passenden Therapieplanung für den Patienten innerhalb einer geschlechtsspezifischen Diagnostik führen soll.
Die Struktur der Arbeit ist durch einen theoretischen sowie einen Praxisteil geprägt. Zunächst werden Symptome, Ätiologie, Prävalenz, Geschlechtsunterschiede und Suizidalität bezüglich des Störungsbildes der Depression erläutert und mit Statistiken unterlegt. Daran schließt der Praxisteil an in dem anhand eines Fallbeispiels mittels horizontaler und vertikaler Verhaltensanalyse eine Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung eines männlichen Patienten mit depressiven Symptomen erstellt und auf Feinheiten innerhalb der Diagnostik eingegangen wird. Hierbei wird das gesamte Instrumentarium, das im Zuge der Verhaltensanalyse Anwendung findet, hinsichtlich seiner Auswahl begründet. Die einzelnen Elemente der Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung fassen die Ergebnisse der Analyse zusammen und werden vor dem Hintergrund der klinischen Psychologie begründet. Abschließend werden die Problematik des Praxisteils und aktuelle, gesellschaftliche Hintergründe diskutiert sowie präventive Maßnahmen abgeleitet. Die Arbeit schließt mit einem perspektivischen Ausblick auf künftige Entwicklungen in Prävention und Diagnostik der Depression bei Männern.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Depression
2.1 Symptome
2.2 Ätiologie
2.3 Prävalenz
2.4 Geschlechtsunterschiede
2.4.1 Suizidalität
3. Praxistransfer
3.1 Makroanalyse
3.2 Mikroanalyse
3.3 Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung
4. Diskussion
4.1 Empfehlungen zur Prävention
5. Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Gegenüberstellung relevanter Stressoren und Ressourcen
Tabelle 2 Biopsychosoziales Modell
Tabelle 3 SORK-Modell
Tabelle 4 Arbeitsblatt zur Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung
Abbildungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Die Problematik in der Diagnostik einer Depression bei Männern ist nicht erst in jüngster Zeit aktuell geworden. Vielmehr werden seit einigen Jahren vermehrt Anstrengungen unternommen, die hohe Dunkelziffer an depressiven Symptomen erkrankter Männer zu senken. Denn den relativ niedrigen Zahlen, die statistisch gesehen Symptome einer Depression bei Männern aufzeigen, steht eine im Vergleich stark erhöhte Suizidalität gegenüber, die darauf schließen lässt, dass diese Unterschätzung weitreichende Folgen hat. Als Kern des Problems werden bspw. die unterschiedliche Stresswahrnehmung und -verarbeitung von Männern und Frauen, Geschlechterunterschiede im Hilfesuchverhalten sowie ein Genderbias in der Diagnostik von Depressionen angeführt. Sämtliche dieser Faktoren unterliegen der Beeinflussung gängiger Geschlechterrollenerwartungen und stellen darüber hinaus die Frage nach einer Überarbeitung der geschlechtsspezifischen Symptome der Depression.
Das Ziel dieser Arbeit besteht in der Entwicklung einer Verhaltensanalyse mit anschließender Diagnose, welche mithilfe der theoretischen Grundlagen einer Fallkonzeptualisierung zu einer passenden Therapieplanung für den Patienten innerhalb einer geschlechtsspezifischen Diagnostik führen soll.
Die Struktur der Arbeit ist durch einen theoretischen sowie einen Praxisteil geprägt. Zunächst werden Symptome, Ätiologie, Prävalenz, Geschlechtsunterschiede und Suizidalität bezüglich des Störungsbildes der Depression erläutert und mit Statistiken unterlegt. Daran schließt der Praxisteil an in dem anhand eines Fallbeispiels mittels horizontaler und vertikaler Verhaltensanalyse eine Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung eines männlichen Patienten mit depressiven Symptomen erstellt und auf Feinheiten innerhalb der Diagnostik eingegangen wird. Hierbei wird das gesamte Instrumentarium, das im Zuge der Verhaltensanalyse Anwendung findet, hinsichtlich seiner Auswahl begründet. Die einzelnen Elemente der Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung fassen die Ergebnisse der Analyse zusammen und werden vor dem Hintergrund der klinischen Psychologie begründet. Abschließend werden die Problematik des Praxisteils und aktuelle, gesellschaftliche Hintergründe diskutiert sowie präventive Maßnahmen abgeleitet. Die Arbeit schließt mit einem perspektivischen Ausblick auf künftige Entwicklungen in Prävention und Diagnostik der Depression bei Männern.
2. Depression
Im internationalen Klassifikationssystem der ICD-10 werden depressive Störungen innerhalb der diagnostischen Kategorie der „Affektiven Störungen“ als psy- chopathologische Syndrome von bestimmter Dauer bezeichnet. Zu den häufigsten affektiven Störungen zählen die manische Episode (ICD-10: F 30), die bipolare affektive Störung (ICD-10: F 31), die depressive Episode (ICD-10: F 32), die rezidivierende (F 33) und anhaltende (F 34) depressive Störung sowie die Dysthymie (ICD-10: F 34.1).1
2.1 Symptome
Das Erscheinungsbild einer Depression ist vielfältig, was zur Folge hat, dass es schwer fällt, sie als abgrenzbare Erkrankung mit bestimmten Symptomen anzusehen. Grundlegend finden sich kaum Bereiche seelischer und körperlicher Befindlichkeiten, die nicht von der multiplen Zusammensetzung der Beschwerden betroffen sein können.2 Der Beginn einer Depression kann sich sowohl schleichend als auch plötzlich äußern und erfasst zumeist das gesamte Individuum und nicht, wie bei vielen anderen Erkrankungen, klar abgrenzbare Teilbereiche. Die im Vordergrund stehenden Symptome werden als „Kernsymptome“ bezeichnet, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese gleichzeitig auftreten müssen. Ebenso sind diese vom Schweregrad der Depression sowie von der Persönlichkeit des Erkrankten abhängig. Zu den Kernsymptomen zählen eine deprimierte Stimmung, Freud-, Interesse- und Gefühllosigkeit sowie Kraft- und Antriebslosigkeit. Sind mehrere dieser Symptome über einen längeren Zeitraum vorherrschend, spricht dies für die Diagnose einer Depression.3 Als wichtigstes Kernsymptom äußert sich die deprimierte Stimmung in einem niedergedrückten Lebensgefühl, dem nicht zwingend ein äußerer Anlass vorausgegangen sein muss. Der Patient fühlt sich schlecht und das Leben wird als beschwerlich wahrgenommen. Ebenso wird oftmals ein Verflachen der Gefühlswelt beschrieben, das zur Folge hat, dass Emotionen nicht mehr eindeutig differenzierbar sind.4
Ein weiteres Symptom ist die Freud-, Interesse- und Gefühllosigkeit, also ein Verlust an Freude, Begeisterung und Interessen oder einer positiven Sichtweise auf das Leben. Zusätzlich tritt eine weitgehende Unfähigkeit hinsichtlich positiver Empfindungen auf, während ausschließlich negative Gefühle fortbestehen. Ebenso findet eine Erstarrung des Gefühlslebens (Affekthemmung) statt, emotionale Verbindungen (zwischenmenschliche wie auch interessenbezogene) gehen verloren, was bis zur völligen Gefühllosigkeit führen kann. Das äußere Erscheinungsbild der Patienten wirkt hierbei zumeist mimisch ausdruckslos bzw. versteinert. Auf der körperlichen Ebene empfinden einige Patienten ihren eigenen Körper als fremdartig oder als nicht ihnen zugehörig, ebenso vermindert sich häufig der Wunsch nach Sexualität, was oftmals Probleme in der Partnerschaft entstehen lässt und zusätzlich als persönliches Versagen wahrgenommen wird.5
Das dritte Kernsymptom ist die Kraft- und Antriebslosigkeit. Hierbei trifft jegliche Anforderung an das Individuum auf inneren Widerstand und führt zu einer unverhältnismäßigen Anstrengung. Die Patienten klagen über Müdigkeit und fühlen sich matt. Diese Form der depressiven Antriebshemmung besteht auf sämtlichen Gebieten des Handelns und kann selbst bei Kleinigkeiten, wie z. B. Aufstehen oder Gesicht waschen, eine übermäßige Kraftanstrengung für den Patienten sein. Bezüglich des Sprechens fällt primär eine verlangsamte und schwerfällige Ausdrucksform auf. Ebenso scheinen sich Betroffene erst besinnen zu müssen, bevor sie Fragen beantworten können. Gleichzeitig ist das physische Erscheinungsbild oftmals durch einen langsamen und unsicheren sowie gleichzeitig schwerfälligen Gang gekennzeichnet. Zusätzlich wird durch das präsente Druckgefühl bzw. das schlechte gewissen Dinge nicht erledigt zu haben eine langfristige Erholung verhindert.6
Zusätzliche psychische Symptome können Hoffnungslosigkeit, Angst und Panikzustände, Trauer, Depersonalisation und Derealisation sowie ein gestörtes Selbstwertgefühl sein. Betroffene sehen ihre Situation selbst als aussichts- und hoffnungslos an, was einer Heilung oftmals stark im Wege steht. Neben akuten Panikattacken können auch nachvollziehbare Ängste entstehen, bspw. die Angst, arbeitslos zu werden oder Freunde zu verlieren. Die Depersonalisation tritt häufig bei leichten Depressionen mit Angstneigung auf und wird von den Patienten als ein Verlust des Ich-Gefühls beschrieben. Diese eigene Entfremdung der Betroffenen führt oftmals zu einem gestörten Selbstwertgefühl und kann als sicheres Kennzeichen fast aller Depressionen definiert werden. Hierbei nimmt der Betroffene negative Signale deutlicher wahr als Gegenteilige, was dazu führt, dass das eigene Urteil über sich selbst erhärtet.7 Neben den beschriebenen seelischen Symptomen können auch unterschiedliche körperliche Beschwerden auftreten. Diese körperlichen Symptome einer Depression werden oftmals deutlicher im Bewusstsein des Patienten wahrgenommen als die diffuseren, seelischen Beschwerden. Hinsichtlich körperlicher Veränderungen ist festzustellen, dass diese einerseits direkt von der Depression verursacht werden, und andererseits durch die Depression eine erhöhte Wahrnehmung bezüglich körperlicher Beschwerden eintritt. Die erhöhte Sensibilität gegenüber dem eigenen Körper ist von den körperlichen Symptomatiken einer Depression nicht zu unterscheiden und zeigt sich oftmals in einer umfassenden Missempfindung gegenüber dem eigenen Körper. Als sehr häufig werden Schlafstörungen in Form von Schlaflosigkeit, ein abnormes Schlafbedürfnis sowie Störungen des Magen- und Darmtrakts in Form von Übelkeit, Brechreiz, Obstipation oder Diarrhö beschrieben. Zusätzlich können Appetitlosigkeit, Schwindel, Schmerzen und Verkrampfungen auftreten. Finden sich keine seelischen Veränderungen und ausschließlich körperliche Symptome, wird von einer larvierten (d. h. verborgenen) Depression gesprochen.8
Zuletzt sind im körperlichen Bereich noch eine Vielzahl von Missempfindungen zu nennen: Hierzu zählen Denkinhalte und Denkblockaden in Form von Grübeln und überkritischem Reflektieren, das Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit, Entschlussunfähigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder wahnhaftes Denken (z. B. Verarmungswahn).9
2.2 Ätiologie
Aufgrund der Heterogenität der Erscheinungsformen sowie des Verlaufs und des Ersterkrankungsalters der depressiven Störungen ist festzuhalten, dass bis dato keine eindeutige Störungstheorie existiert.10 Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass es sich bei der Entstehung einer Depression um ein multikausales Geschehen handelt.
Lerntheoretische Modelle gehen beispielsweise davon aus, dass eine Depression nach der Verstärker-Verlust-Theorie aufgrund zu geringer positiver Erlebnisse entsteht. Die Theorie der gelernten Hilflosigkeit sieht die Entstehung einer Depression als Folge, wenn keine Kontingenzen zwischen Verhalten und bedeutsamen (aversiven) Ereignissen in der Umwelt erkannt werden können. Kognitive Modelle wiederum erklären innerhalb der Hilf- und Hoffnungslosigkeitstheorie, dass Depressionen die Folge eines internalen, globalen und stabilen Attributationsstils bei Misserfolgen darstellt, wobei kritisch hinzuzufügen ist, dass die empirische Evidenz dieses Ansatzes nicht vollständig gegeben ist.
Nach Aaron Becks (1970) Kognitivem Modell, liegt die Ursache der Depression in dysfunktionalen kognitiven Schemata, die durch dysfunktionale Gedanken und der hieraus entstehenden verzerrten Wahrnehmung zu einer verzerrten Realität führen. Diese depressogenen Schemata zeichnen sich durch die kognitive Trade (negative Sicht auf sich selbst, die Welt und die Zukunft) aus und sind auf belastende Erfahrungen in der Kindheit zurückzuführen.11 Innerhalb biologischer Modelle liegt der Fokus auf der genetischen Disposition, die eine angeborene Vulnerabilität als moderaten Einfluss zur Entwicklung von Depressionen vermittelt und als empirisch gesichert gilt; der Monoaminmangelhypothese, als ältester Erklärungsansatz; der Dysregulation der HHN-Achse, die durch eine Überaktivität die Veränderungen im Cortisolspiegel hervorruft oder auch der Neuroplastizitätshypothese, wonach funktionale und strukturelle Anpassungsdefizite des Gehirns eine Depression entstehen lassen können.12 Soziologisch-geprägte Erklärungsansätze wie bspw. das Modell von Brown und Harris (1978) beschreiben mehrere Faktoren, die durch zentrale Vulnerabilitäten, in Abhängigkeit von Selbstwert, akuten Belastungen und Bewältigungskompetenzen zu depressiven Störungen führen können. Hierzu zählen ein früher Verlust der primären Bezugsperson, mehr als drei zu versorgende Kinder unter 14 Jahre, Arbeitslosigkeit und fehlende unterstützende Beziehungen. Motivationale Modelle sehen unbefriedigte Bedürfnisse und Wünsche sowie unerreichte Ziele als relevante aufrechterhaltende Faktoren von Depressionen.13 14 Integrative Modelle hingegen setzen den Fokus auf ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, weswegen nachfolgend das biopsychosoziale Modell beschrieben wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ätiologie der Depression im biopsychosozialen Modell.14
Das biopsychosoziale Modell der Entstehung einer Depression beinhaltet verschiedene Faktoren, die im Einzelfall variieren können. Hierzu zählen die genetische Disposition, Persönlichkeitsfaktoren, psychosoziale Belastung und traumatische Erfahrungen, die eine erhöhte Vulnerabilität und einer Imbalance der Transmittersysteme zur Folge hat. Hierbei ist eine Häufung genetischer Dispositionen ersichtlich, die beispielsweise bei einer Depression der Eltern das Krankheitsrisiko ihrer Kinder um 50 % erhöht. Innerhalb der Epigenetik sind Veränderungen der Methylierung- bzw. Acetylierung an den Zellwänden zu beobachten, die Dysregulationen von Stressgenen zur Folge haben. Physiologisch gesehen beschreibt die sog. Serotonintheorie, dass aufgrund eines niedrigen Serotoninspiegels die Aktivität anderer neurochemischer Systeme negativ verändert wird. Gleichzeitig führt eine stressinduzierte Aktivierung der Hypotha- lamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse zu sog. Hypercorticolismus.15 Ebenso können Persönlichkeitsfaktoren wie Introversion oder Angstneigung den Ausbruch und die Intensität einer Depression stark beeinflussen. Hinsichtlich psychosozialer Belastungsituationen wird angenommen, dass eine Depression häufig durch die Bedrohung oder den Verlust zwischenmenschlicher Bindungen entsteht. Diese können interpersonelle Konflikte, Ansehensverluste oder Kränkungen, drohende oder tatsächliche Trennungen oder der Tod eines nahestehenden Menschen sein. Menschen mit Verlust-, Gewalt-, oder Missbrauchserfahrung entwickeln eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Sensibilisierung ihres biologischen Stresssystems, was zur Folge hat, dass dieses in ähnlichen Situationen stärker und langanhaltender reagiert. Als Folge der oben genannten Trennungs- und Verlustängste entwickeln Betroffene ein hohes Verantwortungsbewusstsein, um die Erwartungen nahestehender Personen nicht zu enttäuschen und ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Der Grundkonflikt innerhalb dieser Psychodynamik ist die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe sowie damit verbundene Rückzugsreaktionen, die durch Selbstvorwürfe oder gar Selbstmordversuche gegen die eigene Person gerichtet werden.16
2.3 Prävalenz
Die Wahrscheinlichkeit, an einer depressiven Störung zu erkranken, ist bei einem Lebenszeitrisiko von 12 Prozent für Männer und 25 Prozent für Frauen als hoch einzuschätzen. Hierbei liegt die 12-Monatsprävalenz bei 18 - 65 jährigen Personen der Allgemeinbevölkerung bei 11 %. Das bedeutet, dass in Deutschland zwischen 5 - 6 Millionen Menschen in diesem Altersbereich innerhalb der letzten 12 Monate an einer Depression erkrankten.17 Der Median des Ersterkrankungsalters liegt zwischen 20 und 30 Jahren, bei einer beträchtlichen Streuung von der Kindheit bis ins hohe Alter. Hierbei ist jedoch hinzuzufügen, dass unterschiedliche Erhebungsstrategien und Definitionen massive Auswirkungen auf die Prävalenzschätzungen haben18 und die Prävalenz depressiver Störungen ab 65 Jahren als unzureichend untersucht gilt, weswegen die Variabilität der vorliegenden Daten bis dato keine verlässlichen Befunde erlauben. Innerhalb dieser Unsicherheiten wird die tatsächliche Prävalenz von Experten auf 8 % - 10 % geschätzt.19
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2: Prävalenz einer depressiven Symptomatik nach Geschlecht im Jahr 2015.20
2.4 Geschlechtsunterschiede
Obwohl die Verbreitung psychischer Störungen sich in den epidemiologischen Daten zwischen Männern und Frauen annähernd gleich verteilen, ist eine ausgeprägte Häufigkeitsdifferenz an einer Depression zu erkranken bezüglich des weiblichen Geschlechts erhöht, was sich in einem zwei- bis dreimal größeren Risiko zeigt.21
Dies würde im Umkehrschluss bedeuten, dass ein Erkrankungsrisiko für Männer tatsächlich geringer ist. Gleichzeitig ist innerhalb epidemiologischer Perspektiven ein Anstieg depressiver Episoden während hormoneller Umstellungen zu gering, um diese Differenz zu bestätigen. Jedoch können hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozesse durch das Erlernen, Erleben und Ausrichten emotionaler Reaktionen im Hinblick auf den Umgang mit negativen Stimmungen zur Erklärung der unterschiedlichen Risiken von Frauen und Männern herangezogen werden.22 Ebenso könnten Hypothesen bezüglich der kollektiven Privilegiertheit der Männer diese Annahme bestätigen, da beispielsweise keine vergleichbare Doppelbelastung durch Berufs- und Familienarbeit besteht (Shields et al. 1989) und gleichzeitig die geringere Psychologisierung männlicher Beschwerden (Conen und Kuster 1988), der externale Attributionsstil, selbstwertsteigernde Copingstrategien, die negative Korrelation zwischen Maskulinitat und Ängstlichkeit sowie Depressivität (Gallacher und Klieger 1995) dies unterstreichen.
Aus den bisherigen Überlegungen gesellschaftlicher Veränderungen bezüglich dieser Faktoren, im Hinblick auf soziales und persönliches Ungleichgewicht sowie eingedenk der Stereotypie der Geschlechterrolle müssten sich durch die Veränderung des Geschlechterverhältnisses folglich innerhalb jüngerer Studien Veränderungen in der Häufigkeit abbilden, was statistisch gesehen nicht konstatiert werden kann.23 Vielmehr verliert der statistisch belegte Vorteil des männlichen Geschlechts an argumentativer Bedeutung, wenn diesbezüglich Suizidraten herangezogen werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Anteil der Weltbevölkerung mit Depression nach Geschlecht von 1990 bis 2017.24
[...]
1 Vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation (2019).
2 Vgl. Müller-Rörich et al. (2013), S.3.
3 Ebd., S.7.
4 Vgl. Müller-Rörich et al. (2013), S. 8
5 Ebd., S. 8-11.
6 Ebd., S.12-13.
7 Vgl. Müller-Rörich et al. (2013), S.16-21.
8 Ebd., S. 22-25.
9 Ebd., S. 26-31.
10 Vgl. Beesdo-Baum/Wittchen (2011), S. 890.
11 Vgl. Berking/Radkovsky (2012), S. 37-38.
12 Ebd., S. 34-36.
13 Vgl. Berking/Radkovsky (2012), S. 38.
14 Vgl. Fritzsche (2020), S. 91.
15 Vgl. Fritzsche (2020), S. 91.
16 Ebd., S. 92.
17 Vgl. Wittchen/Jacobi/Klose/Ryl (2010), S. 18-19
18 Ebd. (2010), S. 13.
19 Vgl. Wittchen/Jacobi/Klose/Ryl (2010), S. 21.
20 Vgl. Statista (2020).
21 Vgl. Kühner (2006), S.191.
22 Vgl. Möller-Leimkühler (2006), S. 205-206.
23 Vgl. Kühner, S. 206.