Digitalisierung in Archiven. Am Beispiel des Archivs des Jüdischen Museums Berlin
Zusammenfassung
Ferner soll das gewählte Beispiel eine allgemeine Abstraktion des Begriffes der Digitalisierung erlauben, um dann zu fragen, welche Prinzipien oder Narrative von Archiven auch nach beziehungsweise während der Digitalisierung erhalten bleiben. Hierbei soll der Fokus, wie schon im Eingangszitat erwähnt, auf die schon vor der technischen Digitalisierung in Archiven angewandten schriftlichen kontextualisierenden Funktionssysteme gelenkt werden; hierzu zählen zum Beispiel Indexierungen, Registraturen, Bildmetadaten und andere Klassifikationssysteme und Archivordnungen.
Letztendlich soll hierdurch auf der einen Seite aufgezeigt werden, inwiefern die Anlagen für eine Digitalisierung in Archiven schon lange vor ihrem Beginn etabliert wurden. Auf der anderen Seite soll auch verdeutlicht werden, welche Vorteile sich aus der Digitalisierung in Bezug auf Produktion, Ordnung, Haltbarkeit und Konsumption ergeben.
Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2.. Das Archiv
3... Historische Einordnung
4 Das Archiv des Judischen Museums
4.1 Die ErschlieBung von Sammlungen und Bestanden im Archiv des Judischen Museums
4.2 Die Verschlagwortung von erschlossenen Bestanden
4.3 Umfang und Techniken der technischen Digitalisierung im Archiv des Judischen Museums
5... Vorteile der Digitalisierung in Archiven
6 Die narrative Struktur von Archiven
7.Schlussbetrachtung
8 Literaturverzeichnis
9 Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Walter Benjamin fragte einst: „Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil einer Aufnahme werden?“1
Und auch wenn er diese AuBerung im Kontext der Fotografie gemeint hat, bildet sie letztendlich eine wesentliche Grundlage fur meine Hausarbeit, welche sich mit der Digitalisierung in Archiven beschaftigt. Dabei soll nicht nur der technologische Wandel ausgeleuchtet werden; vielmehr wird die Frage gestellt, ob und wenn ja inwiefern ein medien- und wissenshistorischer Bruch im Archiv durch die Digitalisierung stattgefunden hat.
Um den Begriff Digitalisierung, der so oft als Erfolgs- und Modernisierungsgeschichte zelebriert wird, zu konturieren, habe ich mich im Rahmen dieser Hausarbeit mit dem Archiv des Judischen Museums in Verbindung gesetzt. Die hierdurch gewonnenen Informationen sollen dem Begriff der Digitalisierung die notwendige Scharfung und Prazision verleihen. In diesem Sinne werden folgende Fragen angesprochen und von Seiten des Museums beantwortet: Seit wann wird digitalisiert? Wer genau sind die Akteure dabei? Wie genau wird digitalisiert? Nach welchen Kriterien wird welches Material digitalisiert? Wo und wie lange werden Digitalisate gespeichert?
Ferner soll das gewahlte Beispiel eine allgemeine Abstraktion des Begriffes der Digitalisierung erlauben, um dann zu fragen, welche Prinzipien oder Narrative von Archiven auch nach beziehungsweise wahrend der Digitalisierung erhalten bleiben. Hierbei soll der Fokus, wie schon im Eingangszitat erwahnt, auf die schon vor der technischen Digitalisierung in Archiven angewandten schriftlichen kontextualisierenden Funktionssysteme gelenkt werden; hierzu zahlen zum Beispiel Indexierungen, Registraturen, Bildmetadaten und andere Klassifikationssysteme und Archivordnungen.
Letztendlich soll hierdurch auf der einen Seite aufgezeigt werden, inwiefern die Anlagen fur eine Digitalisierung in Archiven schon lange vor ihrem Beginn etabliert wurden. Auf der anderen Seite soll auch verdeutlicht werden, welche Vorteile sich aus der Digitalisierung in Bezug auf Produktion, Ordnung, Haltbarkeit und Konsumption ergeben.
2. Das Archiv
Archive (vom gr. archeion bzw.lat. archivum) bezeichnen einerseits Amtsgebaude, welche zur Aufbewahrung bestimmter Dokumente wie Urkunden oder Akten dienen, um sie so zu rechtlichen oder administrativen Zwecken zu erhalten. Andererseits meint der Begriff Institutionen, deren Aufgabe das ausgewahlte Sammeln und konservierende Speichern von Dokumenten aller Art (Schriften, aber eben auch Bild- und Tondokumente) ist.2
Selbsterklarend entsteht dabei kein Archiv aus einem luftleeren Raum; vielmehr bedarf es immer einer prafigurativen Politik, die das Archiv konstituiert, indem sie entscheidet, ob ein Objekt als archivwurdig anzusehen ist oder eben nicht. Hieraus geht bereits hervor, dass diese Politik eine Machtstruktur mit sich bringt, die nicht nur den physischen Schutze im Sinne haben muss, sondern den Archiv-Verantwortlichen auch subjektiven Spielraum lasst, die Archive zu interpretieren und die Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad zu modellieren. Und da die Vergangenheit immer die Basis fur die Gegenwart darstellt, ist das MaB der Einflussnahme hier denkbar unuberschaubar. Das konstituierende Element in Archiven reprasentiert also eine signifikante Schnittstelle, in der Dokumente aller Art anhand eines bestimmten Selektionsprinzips als zur Aufbewahrung angemessen anerkannt werden oder eben nicht, um anschlieBend mit mehr Bedacht und Rucksicht geordnet zu werden, sprich ein Objekt des Bewusstseins, der Reflexion und der Auseinandersetzung zu werden. Laut Foucault ist dabei der „Gedanke, alles zu sammeln, gleichsam ein allgemeines Archiv aufzubauen, [...] einen Ort fur alle Zeiten zu schaffen, der selbst auBerhalb der Zeit steht“3 ein relativ junges Konzept der Moderne, aus dem wiederum Heterotopien wie Bibliotheken und Museen entstanden sind. Es war ebenso Foucault, fur den das Archiv weder „die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identitat bewahrt hat“ noch „die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren“4 ist. Es ist fur ihn vielmehr ein „System der Diskursivitat“ zwischen „gesagten Dingen“ auf der einen und „Aussagemoglichkeiten und - unmoglichkeiten“5 auf der anderen Seite. Das Archiv zeichnet sich folgerichtig also dadurch aus, dass es nicht bis ins endlose Gesammeltes anhauft und versucht, es zu konservieren und uberlieferbar zu gestalten, sondern sich die gesagten Dinge „in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfaltiger Beziehungen miteinander verbinden“6. Die konkreten Bausteine, die sich fur eine analytische, praxeologische Bestimmung von Dokumenten nutzen lassen, sind hierbei das Reorganisieren, Beschriften, Sortieren, Klassieren, Selektieren und Bewerten. Diese Operationen machen verstandlich, dass Archive uber den Status eines statischen Speichers hinausgehen konnen und in diesem Sinne vielmehr als ein „System der Formation und der Transformation der Aussagen“7 aufgefasst werden sollten. Die Einordnung von Dingen in ein Archivsystem, um damit ihr Fortbestehen, aber auch ihre Modifizierung und Neukontextualisierung zu gewahrleisten, macht hierbei implizit die Relevanz der Schrift fur alle Techniken des Archivierens deutlich. Im Rahmen dieser Hausarbeit gilt es in diesem Sinne, zu uberprufen, ob und inwiefern die schriftliche Rahmung von Dokumenten aller Art auch im Zuge der Digitalisierung von Archiven weiterhin als Voraussetzung der Archivierbarkeit gelten konnte.
3. Historische Einordnung
Antike Archive wie etwa das romische Hauptarchiv (Aerarium) waren in erster Linie Depots, in denen beispielsweise „kostbare Rohstoffe, Rucklagen zur Besoldung, wertvolle medizinische Safte |...|“8 aufbewahrt wurden. Erst mit der Expansion des romischen Reiches sowie dem Ausbau von Verwaltung und der Etablierung eines Rechtssystems wandelte sich der Status vom Depot zu einem schriftlich fixierten „Gebilde mit Zugriffsmoglichkeiten“9
Bei vielen der heutigen archivierten Dokumente handelt es sich um solche des alltaglichen Umgangs der Menschen miteinander. Hierzu gehoren unter anderem Briefe, Berichte, Aufzeichnungen und Fotografien, die urpsrunglich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht intentionell zur Archivierung vorgesehen waren. Andere Dokumente wie beispielsweise das „Domesday Book“10 oder fruhe Volkszahlungen im Venedig des 16. Jahrhunderts11 sind indes als organisierter Versuch zu verstehen, Informationen zu erheben und zudem zu konsolidieren. In diesem Kontext scheint mir also die Frage wichtig, wie sich die Akkumulation von und der Umgang mit Informationen aus historischer Sicht entwickelt hat. Statistische Erhebungen wie einstige nationale Volkszahlungen benotigten zur Ausfuhrung auf der einen Seite einen machtigen und zentralisierten Staat und zudem die entsprechenden finanziellen Mittel. Die Konzentration von Informationen hangt also anfangs stark mit der Zentralisierung des Staates zusammen. Allerdings wirft sie nach dem Gelingen neue entscheidende Fragen auf, namlich die, wem die Informationen eigentlich gehoren und wer ein Recht auf das immaterielle Gut der Informationen behalt.
Dabei war es fruher nicht unublich, dass Staatsdiener wie der franzosische Finanzminister Jean Baptiste Colbert im 17. Jahrhundert Informationen aus Eigennutz zusammengetragen haben. „His powers consolidated in his superministry, Colbert set out on his own projects, building his personal library along with |.]”12. Es wurde also eine Art Familienarchiv aufgebaut, welches in diesem Fall spater an den gleichnamigen Sohn vermacht wurde. Amtspersonen des fruhmodernen Europas arbeiteten meist von zu Hause aus; eine Konsequenz daraus war, dass sie die staatlichen Dokumente wie ihr Privateigentum behandelten, welches dann verfugungsrechtlich innerhalb der Familie weitervererbt wurde13. Ein derartiges System bestarkt jedoch die Formation von Archiv-Dynastien und verschiebt damit das Machtgefuge in die Richtung einzelner ausgewahlter Familien. Ein elementarer Schritt scheint also die Entkopplung von Archivalien staatlicher Interessengruppen und dem Besitz sowie der Verfugung Einzelner als dessen Privateigentum gewesen zu sein. So soll Konigin Elizabeth schon im Jahr 1567 geschrieben haben: „It is not meet that the records of our Chancery |.] should remain in private places and houses “.14
Die Uffizien in Florenz als ursprunglich fur die Ministerien und Amter errichteter Gebaudekomplex im 16. Jahrhundert markierten architektonisch diesen Ubergang von schriftlichen Dokumenten aus der privaten Sphare in eine Art Repositorium, das offentlich oder zumindest teils zuganglich fur jedermann gewesen ist. Wobei selbstverstandlich nicht unerwahnt bleiben darf, dass auch das Loschen, beziehungsweise forcierte oder unbeabsichtigte nicht Festhalten oder Geheimhalten von Informationen in Archiven eine wesentliche Rolle spielen kann, worauf ich jedoch im sechsten Kapitel noch einmal Bezug nehmen werde.
Die Zentralisierung von Herrschaft und damit gekoppelte zentrale Informationsakkumulation und Aus- beziehungsweise Bewertung birgt noch ein weiteres wesentliches Argument, namlich, dass sich die Anlagen der Digitalisierung weit vor der technischen Digitalisierung herausgebildet haben. Es lieBe sich zugespitzt formulieren, dass nicht moderne Computer die Datenverarbeitung erzeugt haben, sondern die Zentralisierung von Herrschaft in Nationalstaaten samt Stadtplanung und Betrieb, Bedarf von Waren fur Betriebe und Verbraucher sowie Einnahmen von Steuern, um nur einige Beispiele zu nennen.
Um etwa Steuern in Form von Geld oder aquivalenten Zahlungsmitteln einzunehmen und die damit zu tatigen Investitionen zu kalkulieren, muss ich wissen, wie viele Steuern ich einnehmen werde. Eine Volkszahlung als quantitative Erhebung des Volkes uber sich selbst beispielsweise bedingt dabei schon die Einfuhrung statistischer Methoden. „Und die Bedingung der Moglichkeit statistischer Darstellung ist die Abbildung der Welt in Form von zahlbaren Einheiten und die Codierung von analogen Sachverhalten durch diskrete Formen.“15 Auch das durch Steuerabgaben eingenommene Geld selbst kommt nur in zahlbarer Form vor. „Es ist per se ein digitales Medium, schon weil man Geldtransfers immer nur in abgezahlter Form vornehmen kann.“16
Nassehi nennt dies die „multiple Verdoppelung“17 der Welt. Schon Buchstaben und Zahlen verdoppeln dabei die Welt auf eine Ebene, welche zwar bezeichnend, aber eben nicht die eigentliche Welt ist und sieht dabei die Codierung der Welt in Datenform als eine weitere Ebene an, welche die Welt verdoppelt, aber eben nicht enthalt.
Im weiteren Verlauf der Hausarbeit mochte ich nun unabhangig vom technischen Substrat, beziehungsweise der Codierung digitaler Daten (Maximale Reduktion auf die zwei Werte 0 und 1) analysieren, inwiefern sich das Verhaltnis zwischen Schrift, Zahl und dem Archiv durch die technische Digitalisierung gewandelt hat, beziehungsweise welche Kontinuitaten sich hieraus ergeben, um so die Infrastruktur der bedarfsbezogenen Vermittlung von Wissen in Archiven freizulegen und im Anschluss daran im Sinne Nassehis zu fragen, fur welche Probleme die Digitalisierung in Archiven eigentlich eine Losung darstellt.
4. Das Archiv des Judischen Museums
Das Archiv des Judischen Museums befindet sich in dem im Jahr 2012 eroffneten und 2016 in den Namen W. Michael Blumenthal Akademie umbenannten Gebaude direkt gegenuber vom Judischen Museum Berlin. Architektonisch soll es durch die gezielten Holzverkleidungen einzelner Kuben an Transportkisten und die Arche Noah erinnern, deren oberste Prinzipien Sicherung und Reproduktion waren, was sich durchaus mit dem Archiv selbst in Einklang bringen lasst, wobei hier auch verstarkt die Zuganglichkeit sowie Klassifikation als Ordnungsprinzip eine elementare Rolle spielt. Es bewahrt, groBtenteils aus privaten Schenkungen, zahlreiche Nachlasse, Familiensammlungen und Einzeldokumente auf, um so die judische Geschichte in ihrer ganzen Vielfalt zu dokumentieren. Die altesten Dokumente in den Bestanden sind etwa 400 Jahre alt und reichen bis in die Gegenwart. Insgesamt umfasst das Archiv etwa 1700 Konvolute, die teils nur wenige Seiten umfassen, teils aus bis zu 40 Archivkartons bestehen. AuBerdem gehoren zum Archivbestand noch etwa 4500 Mikrofilme. Das gesamte Archiv steht Forschenden, Studierenden und anderen Interessierten auf Anfrage zur Verfugung.
Laut Archivleiter Aubrey Pomerance verstehe man sich als bewusst offenes und sammelndes Archiv18. Das Aufkommen der elektronisch datengestutzten Dokumentverwaltung ist die Spitze einer nur bruchstuckhaft fassbaren Digitalisierung innerhalb des Archivs. Die Digitalisierung transformiert dabei Originaldokumente zu kulturellen Artefakten, welche es zu bewahren gilt. Digitalisierung geschieht also, doch meist bleiben die Vorgange eine undurchsichtige Black Box. Pomerance selbst gesteht eingangs ein, dass man „keine Vorreiterrolle spiele bei der Digitalisierung“19. Es gibt auch nicht die Digitalisierung, als einmaligen, homogenen Vorgang, sondern gemeint ist eher ein Bundel verschiedener, vielfaltiger Digitalisierungsprozesse. Zudem wird mir auch gleich zu Beginn des Interviews, welches ich mit dem Archivleiter des Archivs des Judischen Museums Aubrey Pomerance sowie seiner langjahrig im Archiv tatigen Kollegin Franziska Bogdanov am 3. September 2020 durchfuhren durfte, verdeutlicht, dass kein Archiv dem anderen gleicht, sondern die Heterogenitat der Bestande von Archiven regelrecht zu verschiedenen Ordnungsprinzipien und Klassifikationskonzepten fuhren muss. Allerdings finden sich auch Vereinheitlichungen und Standardisierungssysteme in den Archiven wieder, welche im Folgenden eine wesentliche Rolle spielen werden. Aufgrund des unverhaltnismaBig hohen Aufwandes und des bezeichnenden Themas der Digitalisierung durfte in diesem Fall auf eine Transkription des aufgezeichneten Interviews verzichtet werden. Durch den Vermerk der jeweiligen Zitate auf einer konkreten Zeitachse und dem zusatzlichen Senden der Audiodatei durfte sich fur den Zweck dieser Hausarbeit dennoch auf das Interview bezogen werden.
4.1 Die ErschlieBung von Sammlungen und Bestanden im Archiv des Judischen Museums
Beim hiesigen zu archivierenden Material handelt es sich hauptsachlich um Nachlasse, Familiensammlungen und Schenkungen, aus denen sich Ruckschlusse auf das Schicksal judischer Familien und Einzelpersonen ziehen lassen. Der Fokus liegt hier also ganzlich auf einer deskriptiven Dokumentation judischer Geschichte in Bezug auf das religiose, kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben.
Ganz grundsatzlich gilt im Archiv des Judischen Museums, „dass erst digitalisiert wird, was erschlossen ist, das heiBt, was schon katalogisiert, beziehungsweise systematisiert ist.“20 Hierbei halt man sich in der Regel an die Vorgaben des Standardwerkes „Regeln zur ErschlieBung von Nachlassen und Autografen“21, kurz RNA, in dem es heiBt:
Archive, Bibliotheken, Museen und ahnliche Einrichtungen verwahren eine groBe Zahl schriftlicher
Nachlasse und ahnliche Bestande, die fur die wissenschaftliche Forschung und die interessierte
Offentlichkeit von Bedeutung sind. Unerschlossene oder nur rudimentar erschlossene Bestande aber
lassen eine Nutzung gar nicht oder nur eingeschrankt zu. Die folgende Richtlinie definiert den Rahmen
fur die Bearbeitung solcher Bestande. Sie gibt Empfehlungen, z.B. zur Ordnung und Verzeichnung
von Bestanden sowie zu moglichen ErschlieBungstiefen, die sich aus einem sinnvollen Verhaltnis von Aufwand und Nutzen ergeben.“22
Man strebt also eine Vereinheitlichung der ErschlieBungs- und Archivierungspraxis an, um so eine Zusammenarbeit verwahrender Institutionen gewahrleisten zu konnen. Interessant ist dabei, dass sowohl das Wort Internet, das ausschlieBlich im Vorwort erwahnt wird, als auch der Begriff Computer (Computerausdruck) in dem 76 Seiten umfassenden Werk nur ein einziges Mal Erwahnung finden. Daraus lieBe sich schlussfolgern, dass die anschlieBende Sichtbarmachung und Prasentation im Internet mittels Computer durch Digitalisate zweitrangig sind, was man wiederum durchaus in Frage stellen konnte, da durch das Internet und mittels Computer schlieBlich eine instantane Kommunikation und Verbreitung codierter Informationen sowie deren effektive Verwertbarkeit stattfinden konnte. Daruber hinaus sollte fur die Digitalisate eines Archivs nicht nur die Frage der archivarischen Praktik des Dokumentierens entscheidend sein, sondern auch die der asthetischen Bildpraktiken in Form von Prasentation und Reprasentation.
Im Archiv des Judischen Museums orientiere man sich laut Pomerance zwar am RNA, gleichzeitig sagt Pomerance jedoch auch: „jedes Archiv passt seine Systematik an die eigenen Bestande an, [..] wir gehen immer nach dem Provenienzprinzip vor |“23 Dieses Prinzip, welches vom lateinischen provenire abgeleitet ist, was so viel heiBt wie herkommen, bedeutet konkret, dass die Sammlungen und Nachlasse einzelner Familien absolut strikt und permanent als Konvolut zusammengehalten werden. Anders als in Bibliotheken beispielsweise, in denen Bucher meist nach dem Pertinenzprinzip, welches Schriftgut wiederum nach Themenfeldern oder alphabetisch sortiert, „ist das Provenienzprinzip das oberste Prinzip fur uns“24 betont Pomerance. Man konnte auch beispielsweise alle Reisepasse aus den unterschiedlichen Bestanden zusammenfuhren und lagern, aber das wolle man hier nicht.25 Grundsatzlich lege man groBten Wert darauf, dass die Bestande immer zusammen und geschlossen bleiben, sei dies nun bei der Herausgabe zu Recherchezwecken oder zur Ubergabe von durch Fremdfirmen durchgefuhrte Digitalisierungen.
Das Provenienzprinzip lenkt die oberste Prioritat im Archiv des Judischen Museums also auf die Frage, wem die jeweilige Sammlung oder der Nachlass gehorte. Es wird eine Genealogie aller Personen erstellt (siehe Abbildung 2), die Erwahnung in den Dokumenten finden; anschlieBend wird entsprechend geordnet. Dann wird eine Inventarliste erstellt und jeder Person werden die jeweiligen Dokumente zugeordnet. Hierbei findet eine weitere Aufgliederung in unterordnende Begriffe statt beispielsweise Lebensdokumente, Beruf, Militar, Korrespondenz, Fotografien, Organisation und Vereine, Haushalt etc. Laut Pomerance existieren knapp 30 dieser Unterordnungen, aber „wir scheuen uns tatsachlich auch nicht, einen neuen Unterordner zu kreieren[...], falls das Dokument sich nicht zuordnen lasst“26 Jedes Dokument wird mit einer eigenen Nummer versehen und in einer Mappe verstaut, welche wiederum auch eine eigene Nummer erhalt. Ist die Inventarisierung abgeschlossen, so wird ein Findbuch27 erstellt. Dieses fasst alle eben genannten Informationen zusammen und ist final als konkreter Suchkatalog einer bestimmten Sammlung, beziehungsweise eines Konvoluts zu verstehen. Zudem werden im Findbuch auch andere Aufbewahrungsorte als das Archiv vermerkt, zum Beispiel die Kuhlkammer fur Fotografien oder Fotoalben, die Bibliothek fur ganze erhaltene Bucher oder das Grafikdepot fur Nachlasse der bildenden Kunst. Tatsachlich lagern im Archiv des Judischen Museums lediglich schriftliche Dokumente.
Ein weiterer Vermerk, der des Ofteren im Findbuch auftaucht, ist der Begriff Uberformat. Dies ist wichtig fur die Digitalisierung durch auBenstehende Fremdfirmen. Auf die Nachfrage, wieviel Material im Haus und wieviel durch Fremdfirmen digitalisiert werde, konnte man mir leider keine Auskunft erteilen. Ebenso wurde die Frage, welche Firmen genau denn auBer Haus Dokumente digitalisieren, vom Archivleiter als zu sensibel eingestuft, da es wohl in der Vergangenheit diverse Probleme mit verschiedenen Fremdfirmen gab. Eine Schwierigkeit, die es im Laufe der Zeit in Bezug auf die Digitalisierung zu bewaltigen galt, ist die des Formats, konkreter des Uberformats. Pomerance nennt hier beispielhaft Dissertationsdiplome oder Antiquariatskataloge. Das Einscannen solch uberformatiger Dokumente ist selbstverstandlich moglich, allerdings erfordert dies eine Umstellung der Apparate, was viel Zeit kostet und sich fur die jeweilige Firma auch in den benotigten finanziellen Ressourcen niederschlagt. Beim ErschlieBungssystem des Archivs ist es jedoch kaum moglich, beispielsweise zehn DIN A4- Blatter hintereinander zu bundeln. Stattdessen stellen sich Sammlungen sehr divers zusammen und bestehen dann zum Beispiel aus einer A4 Seite auf die ein kleiner Kalender folgt, dann kommen Memoiren, Tagebuchseiten oder auch eine Mitgliedskarte.28
[...]
1 Benjamin, Walter (1931): Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Gesammelte SchriftenII/1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser, Frankfurt a. M., 1977, S.385.
2 Vgl. Stiegler, Bernd & Roesler, Alexander (2005): Grundbegriffe der Medientheorie, Fink Verlag, Paderborn, S.17.
3 Loffler, Petra; Holschbach, Susanne & Gerling, Winfried (2018): Bilder verteilen; Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, transcript Verlag, Bielefeld, S.209.
4 Foucault, Michel (1969): L'archeologie du savoir, Paris, dt. Archaologie des Wissens, Frankfurt am Main, 1988, S.187ff.
5 Ebd.S.187.
6 Ebd.
7 Ebd.S.188.
8 Vismann, Cornelia (2000): Akten. Medientechnik und Recht, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S.91.
9 Ebd.S.93.
10 Dies ist als eine Art Grundbuch von England zu verstehen, welches als Ergebnis landesweiter Ermittlungen im ll.Jahrhundert Besitzverhaltnisse festhalten und auch zur Berechnung erwartender Steuereinnahmen dienen sollte.
11 siehe Abbildung 1 im Anhang.
12 Soll, Jacob (2009): The Information Master; Jean Baptiste Colbert's Secret Intelligence System, University of Michigan Press, S.50.
13 Als ein weiteres Beispiel hierfur sind die Dokumente des Kardinals Richilieu's zu nennen, die nach seinem Tod an seine Nichte Marie Madeleine de Vignerot (Herzogin von Aiguillon) vermacht wurden.
14 Wernham, Richard Bruce (1956): The public records. In: Fox L (ed) English historical scholarship in the sixteenth and seventeenth centuries. Oxford University Press, London, S.11ff.
15 Nassehi, Armin (2019): Muster; Theorie der digitalen Gesellschaft, Verlag C.H.Beck, Munchen, S.108.
16 Ebd.S.47.
17 Ebd.S.108.
18 Vgl. Pomerance, Aubrey & Bogdanov, Franziska (2020): Fragen an das Archiv des Judischen Museums, Personliches Interview am 03.09.2020, Quelle: mp3 Datei im Anhang. (Einleitungsgesprach).
19 Ebd. (00:02:09).
20 Pomerance, Aubrey & Bogdanov, Franziska (2020): Fragen an das Archiv des Judischen Museums, Personliches Interview am 03.09.2020, Quelle: mp3 Datei im Anhang (00:04:32).
21 Regeln zur ErschlieBung von Nachlassen und Autografen (2009), Betreut von der Staatsbibliothek zu Berlin- PreuBischer Kulturbesitz und der Osterreichischen Nationalbibliothek Wien.
22 Ebd.S.7.
23 Pomerance, Aubrey & Bogdanov, Franziska (2020): Fragen an das Archiv des Judischen Museums, Personliches Interview am 03.09.2020, Quelle: mp3 Datei im Anhang. (00:12:30).
24 Ebd. (00:15:26).
25 Vgl.Ebd. (00:15:07).
26 Ebd. (00:55:18).
27 siehe Abbildungen 2,3 und 4 im Anhang.
28 Vgl. Pomerance, Aubrey & Bogdanov, Franziska (2020): Fragen an das Archiv des Judischen Museums, Personliches Interview am 03.09.2020, Quelle: mp3 Datei im Anhang. (00:10:52).