Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung. Rechtliche Grundlagen, Lebenssituation der Kinder und Handlungsansätze
Zusammenfassung
Die Hausarbeit beginnt mit der Definition des Begriffes ‚Geistige Behinderung‘ und geht weiter mit einer historischen Einordnung zur Thematik der Sterilisation von Menschen mit Behinderung. Anschließend werden die rechtlichen Grundlagen im Rahmen der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt und der aktuelle Forschungsstand zu Kindern behinderter Eltern skizziert. Anschließend folgen mögliche Handlungsansätze für die Arbeit als Sozialarbeiter/-in.
Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung und Fragestellung
2. Definition der geistigen Behinderung
4. Rechtliche Grundlagen
4.1. UN-Behindertenkonvention
4.2. Grundgesetz
4.3. Kindeswohl
5. Die Lebenssituation von Kindern behinderter Eltern
5.1. Eigene Behinderung:
5.2. Trennung von den Eltern
5.3. Vernachlässigung:
5.4. (Sexuelle) Gewalterfahrung
5.5. Parentifizierung
5.6. Diskriminierung
5.7. Belastung durch das professionelle Hilfesystem
6. Handlungsansätze
6.1. Elternassistenz und begleitete Elternschaft
6.2. Alltagsorientiertes Konzept
6.3. Elterliche Sorge
6.3.1. Vollzeitpflege unter Beibehaltung des Sorgerechts
6.3.2. Entzug des Sorgerechts
6.4 Freigabe zur Adoption
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis:
1. Einleitung und Fragestellung
„In unserer Gesellschaft wird nach wie vor von nichtbehinderten Menschen darüber bestimmt, unter welchen Bedingungen geistig behinderte Menschen leben, welches Maß an Selbstbestimmung sie haben dürfen, in welchen Zusammenhängen sie glücklich zu sein haben, welche Lebensqualität für sie ausreichend ist, wieviel an Freiheit man ihnen zugesteht oder einschränkt.“ (Lauschmann 1994, 93)
Das Zitat von Lauschmann stammt aus dem Jahr 1994, doch auch im Jahr 2021 führt die Frage nach Elternschaft von Menschen mit Behinderung zu Diskussionen unter Fachkräften und Nicht-Fachkräften. Menschen mit geistiger Behinderung werden immer wieder zu geschlechtslosen Wesen degradiert, die zu partnerschaftlichen Beziehungen nicht fähig sind. Von der Kompetenz, Eltern zu werden und ihre Kinder zu erziehen einmal ganz abgesehen. (vgl. Kassoume 2006)
Wie aktuell die Thematik noch ist, zeigt sich in einem Zeitungsartikel vom Tagesspiegel aus dem Jahr 2019. In diesem wird über die 29-jährige Melanie Werner berichtet, die sechs Kinder zur Welt brachte, aber keines ihrer Kinder bei sich behalten durfte. (vgl. Tagesspiegel 2019) Der Artikel endet mit der Frage, ob sie Träume habe: „Ja“, sagt Melanie Werner auf dem blauen Ecksofa. Dass ich mit meinen Kindern aus dem Krankenhaus nach Hause in meine Wohnung komme. Ein paar Tage später gibt sie dem Wunsch ihrer Mutter nach, sich sterilisieren zu lassen.“ (Tagesspiegel 2019)
Durch dieses Beispiel wird deutlich, wie eigene Lebensentscheidungen vom direkten Umfeld der Menschen und deren Meinungen geprägt werden. Um zu einem eigenen Standpunkt in der Thematik zu gelangen ist es bedeutsam, sich mit dem Thema Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung umfassend zu befassen. Dafür soll diese Hausarbeit einen ersten Einblick geben.
Fragestellung: Ist es ethisch vertretbar, Menschen mit Behinderung in ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen, zu unterstützen?
Hypothese: Menschen mit geistiger Behinderung benötigen umfassende Unterstützungsangebote, um eine gelungene Elternschaft zu ermöglichen, bei der das Kind bei der Mutter, dem Vater oder der Familie aufwachsen kann, ohne das Wohl des Kindes und der Eltern zu gefährden.
Die Hausarbeit beginnt mit der Definition des Begriffes ,Geistige Behinderung‘ und geht weiter mit einer historischen Einordnung zur Thematik der Sterilisation von Menschen mit Behinderung. Anschließend werden die rechtlichen Grundlagen im Rahmen der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt und der aktuelle Forschungsstand zu Kindern behinderter Eltern skizziert. Anschließend folgen mögliche Handlungsansätze für die Arbeit als Sozialarbeiter/-in. Die Hausarbeit endet mit einem abschließenden Fazit.
2. Definition der geistigen Behinderung
Der Begriff ,Geistige Behinderung‘ ist recht neu. Im Jahr 1969 wurde er erstmalig im deutschen Bundessozialhilfegesetz erwähnt und ist seither im gesellschaftlichen und pädagogischen Bereich etabliert. Um dem humanistischen Menschenbild entsprechen zu können, wird der Mensch seit einigen Jahren in den Vordergrund gestellt und die geistige Behinderung als sekundäres Merkmal festgelegt („Menschen mit geistiger Behinderung“) (vgl. Born/Schulze 2019, S. 10).
Nach dem ICD-101 der Weltgesundheitsorganisation findet sich die geistige Behinderung unter dem Punkt , Intelligenzminderung ‘ (F70). Geistige Behinderung wird hier in folgende Punkte unterteilt:
- „leichte geistige Behinderung (IQ 50-69)
- mäßige/mittelschwere geistige Behinderung (IQ 35-49)
- schwere geistige Behinderung (IQ 20-24)
- schwerste geistige Behinderung (IQ unter 20)“ (Theunissen 2016, S. 17 ff.)
Weiterhin wird „Intelligenzminderung“ beschrieben als „als eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten definiert, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Funktionen.“ (Theunissen 2016, S. 17 ff.). In der UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) wird von Behinderung gesprochen, wenn Menschen „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (vgl. UN-Behindertenkonvention 2017, S. 8).
An dieser Stelle die Anmerkung, dass der Begriff der geistigen Behinderung keiner allgemein gültigen Definition entspricht und es neben den Definitionen der WHO und der UN-Behindertenkonvention weitere Definitionen gibt. Aus platztechnischen Gründen wird in dieser Arbeit auf die Aufzählung weiterer Definitionen verzichtet.
3. Sterilisation von Menschen mit Behinderung - ein geschichtlicher Abriss
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, verabschiedeten sie das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN). In diesem Gesetz wurde rechtlich verankert, dass alle Menschen sterilisiert werden sollten, wenn ihre Nachkommen erwartungsgemäß „an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden“ ( Born 2019, S. 24)
Zu diesem Personenkreis zählten Menschen mit folgenden Erkrankungen
- „angeborener Schwachsinn,
- Schizophrenie,
- zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
- erbliche Fallsucht,
- erbliche Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
- erbliche Blindheit,
- erbliche Taubheit,
- schwere erbliche Missbildungen,
- sowie, wer an schwerem Alkoholkonsum leidet“ (Born, 2019, S. 24)
Im Nationalsozialismus wurden circa 100 000 Menschen mit Behinderung ermordet und rund 350 000 Personen zwangssterilisiert. Erst im Jahr 1992 wurde im neuen Betreuungsgesetz die Zwangssterilisation verboten beziehungsweise gesetzlich geregelt (vgl. Born 2019, S. 24). Ab diesem Zeitpunkt konnte die gesetzliche Betreuerin oder der gesetzliche Betreuer nur dann einer Sterilisation zustimmen, wenn
- „diese dem Willen der betreuen Person nicht widerspricht,
- der Betreute auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird,
- anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde,
- infolge dieser Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Zustands der Schwangeren zu erwarten wäre, die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte, und
- die Schwangerschaft nicht durch andere zumutbare Mittel verhindert werden kann.
- Als schwerwiegende Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren gilt auch die Gefahr eines schweren und nachhaltigen Leides, das ihr drohen würde, weil betreuungsgerichtliche Maßnahmen, die mit ihrer Trennung vom Kind verbunden wären (§§ 1666, 1666a), gegen sie ergriffen werden müssten. (§ 1905 Abs. 1 BGB)
(2) Die Einwilligung bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Die Sterilisation darf erst zwei Wochen nach Wirksamkeit der Genehmigung durchgeführt werden. Bei der Sterilisation ist stets der Methode der Vorzug zu geben, die eine Refertilisierung zulässt.“ (§ 1905 Abs. 2 BGB)
Das Gesetz stellt den Umgang mit Menschen mit Behinderung während des Nationalsozialismus dar und gibt eine klare Antwort, auf die Frage nach einer möglichen Elternschaft von behinderten Menschen: Diese ist durch eine Sterilisation zu verhindern, „wenn ihre Nachkommen erwartungsgemäß „an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden“ ( Born 2019, S. 24) Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurden neue Gesetze in der Fragestellung der Elternschaft verfasst, die nun nachfolgend dargestellt werden.
4. Rechtliche Grundlagen
4.1. UN-Behindertenkonvention
In Artikel 23 sind Rechte für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf die Themen Ehe, Familien, Elternschaft und Partnerschaft festgeschrieben.
Artikel 23 - Achtung der Wohnung und der Familie
„(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen, um zu gewährleisten, dass
a. das Recht aller Menschen mit Behinderungen im heiratsfähigen Alter, auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses der künftigen Ehegatten eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, anerkannt wird;
b. das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung anerkannt wird und ihnen die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden;
c. Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten.“ (Netzwerk Menschenrechte 2013)
„(2) Die Vertragsstaaten gewährleisten die Rechte und Pflichten von Menschen mit Behinderungen in Fragen der Vormundschaft, Pflegschaft, Personen- und Vermögenssorge, Adoption von Kindern oder ähnlichen Rechtsinstituten, soweit das innerstaatliche Recht solche kennt; in allen Fällen ist das Wohl des Kindes ausschlaggebend. Die Vertragsstaaten unterstützen Menschen mit Behinderungen in angemessener Weise bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung.“ (Netzwerk Menschenrechte 2013)
4.2. Grundgesetz
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht zu den Themen Familie und Elternschaft im Artikel 6 folgendes:
„(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“ (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz)
4.3. Kindeswohl
Bei dem Begriff ,Kindeswohl‘ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Das, was für das einzelne Kind gut ist, ist nicht allgemeingültig zu bestimmen. Dies wird in Abhängigkeit vom Menschenbild und den Erziehungsvorstellungen desjenigen definiert, der den Sachverhalt betrachtet (Schone 2018, S. 32). In Bezug auf die Elternschaft von Menschen mit Behinderung ist ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm aus dem Jahr 2013 interessant, nachdem Kinder keinen Anspruch auf ,Idealeltern‘ haben (vgl. MOBILE - Selbstbestimmtes Leben Behinderter e. V. 2020).
„Im Rahmen der §§ 1666, 1666a BGB ist stets zu beachten, dass kein Kind Anspruch auf „Idealeltern“ und optimale Förderung hat und sich die staatlichen Eingriffe auf die Abwehr von Gefahren beschränken. Für die Trennung der Kinder von den Eltern oder einem Elternteil ist es daher nicht ausreichend, dass es andere Personen oder Einrichtungen gibt, die zur Erziehung und Förderung besser geeignet sind. Vielmehr gehören die Eltern und deren gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes.“ (Beier o. D.)
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1 Die Abkürzung ICD steht für "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems", die Ziffer 10 bezeichnet die 10. Revision der Klassifikation. Die ICD-10 ist die Nachfolgerin der ICD-9 und Teil der Familie der internationalen gesundheitsrelevanten Klassifikationen. Sie wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert und in größeren Abständen grundsätzlich revidiert. Die ICD-10 der WHO ist die international am häufigsten eingesetzte Diagnosenklassifikation (überwiegend zur Mortalitätskodierung). Die ICD-10-WHO ist die unveränderte Übersetzung der englischsprachigen ICD-10 der WHO." (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte)