Inwiefern spiegelt der Roman die Gesellschaft im 18. Jahrhundert wider und wie wird dies anhand der libertinen Personen, Madame de Merteuil und Vicomte de Valmont, deutlich? Zu diesem Zweck werden zunächst die Begriffe Sitte, Sittlichkeit und Moral in einen historischen Kontext gesetzt und untersucht. Außerdem werden gesellschaftliche Debatten rund um die Libertinage genannt und erläutert. Im Hauptteil werden die Romanfiguren und Libertine, Madame de Merteuil und Vicomte de Valmont, anhand ausgewählter Briefe genauer untersucht und als Sinnbild der Libertinage identifiziert. Die Ergebnisse der Analyse werden im Fazit zusammengefasst.
Inhalt
1. Einleitung
2. Sitte, Sittlichkeit und Moral
2.1 Libertinage und die Gesellschaft im 18. Jahrhundert
3. Marquise de Merteuil als Person der Libertinage
3.1 Vicomte de Valmont und sein Verhältnis zu Merteuil
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Selten wurde in Frankreich ein literarisches Werk derart bewundert und verachtet zugleich wie „Les Liaisons dangereuses“ von Choderlos de Laclos. Erschienen ist der Roman, welcher aus 175 Briefen besteht, erstmals 1782. Bereits die Vorworte des Briefromans, in dem Laclos sich gleichzeitig als Herausgeber und Verleger ausgibt, sind außergewöhnlich. Als vermeintlicher Verleger verbreitet er Unsicherheit über die Authentizität der Briefe und merkt an, dass die Ereignisse sich unmöglich so im 18. Jahrhundert hätten zutragen können. Als Herausgeber beteuert er exaltiert, dass es ihm ein großes Anliegen war, sich mit den Briefen zu beschäftigen. Der ironische Unterton, der in seinen Aussagen mitschwingt, entgeht dem Leser aber nicht. Es stellt sich letztendlich die Frage, ob der Autor den Sittenverfall der Elite in den letzten Zügen des Ancien Régime kritisiert hat oder sogar glorifizieren wollte. Auch wenn der Leser wohl gewiss ist, dass es sich tatsächlich um einen fiktiven Roman handelt, rechnet er doch mit einem Sittengemälde, das die herrschenden Zustände ohne Schonung beschreibt. In dieser Hausarbeit soll der folgenden Frage nachgegangen werden: Inwiefern spiegelt der Roman die Gesellschaft im 18. Jahrhundert wider und wie wird dies anhand der libertinen Personen, Madame de Merteuil und Vicomte de Valmont, deutlich? Zu diesem Zweck werden zunächst die Begriffe Sitte, Sittlichkeit und Moral in einen historischen Kontext gesetzt und untersucht. Außerdem werden gesellschaftliche Debatten rund um die Libertinage genannt und erläutert. Im Hauptteil werden die Romanfiguren und Libertine, Madame de Merteuil und Vicomte de Valmont, anhand ausgewählter Briefe genauer untersucht und als Sinnbild der Libertinage identifiziert. Die Ergebnisse der Analyse werden im Fazit zusammengefasst.
2. Sitte, Sittlichkeit und Moral
Auch heutzutage finden Begriffe wie Sitte, Sittlichkeit und Moral noch Verwendung. Jedoch haben sich die Bedeutungen dieser Begrifflichkeiten im Laufe der Jahrhunderte verändert. Dies liegt nicht zuletzt an moralischen und ethischen Fragestellungen (vgl. Ilting 1984: 864). Das Wort Sitte findet seinen etymologischen Ursprung è'dog im Griechischen, wo es sich noch auf die Lebensweise von Individuen, das heißt auf ihre Lebensgewohnheiten, bezog. Später versteht man unter Sitten „Verhaltensweisen, die in einer Gemeinschaft oder in einer Gesellschaft unbefragt als verbindlich angesehen werden oder üblich sind [...]“ (Ilting 1984: 864). Hingegen aus dem Lateinischen stammt der Begriff mores (pl.), der Bedeutungsüberschneidungen mit sßog aufweist. Markantere Formen nehmen die beiden Begrifflichkeiten jedoch erst mit der Entstehung einer Ethik in der antiken Philosophie an. Damit verbunden ist auch die Ausbildung einer Moral, die nur durch Reflexion und Auseinandersetzung von Ordnungssystemen möglich ist. Die Moralität des Individuums wurde vorrangig von Sokrates geprägt. In diesem Kontext sind auch die Wörter ayadov (dt.gut) und apsrq (dt. Tugend) relevant, die die Konzeption von Moral erweitern. Platon hält dem entgegen, dass jedem Menschen eine eigene Wahrheit innewohnt und diese sich durch „Gewohnheit und Lebenspraxis“ zu einer „‘volkstümlichen Tugend‘“ formt (Ilting 1984: 868). Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zu finden, die exakt zwischen zwei Polen liegt. Demzufolge ist ein Individuum durch jenes Handeln „edel und schön“ (Ilting 1984: .869). Diese moralische Komponente, die mit dem Handeln einhergeht, spielte auch in der christlichen Religion eine große Rolle, wo religiöse Pflichten nicht von moralischen Plichten abgegrenzt wurden (vgl. Ilting 1984: 873). Nach der Schrift „De possibilitate non peccandi“ des britischen Mönchs Pelagius besteht außerdem eine Problematik hinsichtlich des Aufwands, der mit dem sittlichen Verhalten einhergeht:
„‘Und wenn es denn nicht möglich wäre, aus eigener Kraft der Sünde zu widerstehen, wie sollte dies nicht den Sündern zur bequemen Entschuldigung werden?‘“ (Ilting 1984: 877).
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts existierte neben der Religion und dem Naturrecht, welches mit der Vorstellung von Moral gleichgesetzt wurde, der Staat als ausschlaggebende Instanz für eine Rechtsordnung. Jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft sollte zu einem möglichst friedlichem und zufriedenstellendem Leben beitragen. Dabei sei der Mensch durch eigene Erfahrungen aufgeklärt und Herr seiner fehlgeleiteten Emotionen und Instinkte (vgl. Ilting 1984: 887f). Entscheidend weiterentwickelt wurden diese bestehenden Theorien des Ursprungs von Sittlichkeit von Kant, laut dem sie aus der Vernunft entspringt (vgl. Ilting 1984: 892). Um moralisch gut und richtig zu handeln, sollte das Individuum also den Normen entsprechend handeln. Das „Sittengesetz“ führt noch einen Schritt weiter und beschränkt sich nicht nur auf das Handeln per se, sondern auf die vorangestellte Intention. Entscheidend ist also, was den Menschen zu seinem Handeln bewegt und, ob seine Beweggründe guten oder selbstsüchtigen Ursprungs sind. Die „Gleichberechtigung und Freiheit aller anderen [...]“ sollte dabei gewahrt werden (Ilting 1984: 893). Normen moralischen Charakters wurden als Gottes Wille oder wie in Kants Thesen, als Konsequenzen von Vernunft gesehen. Die Bereitschaft, diesen moralischen Normen zu entsprechen, kann als Sittlichkeit verstanden werden. Trotzdem ist die moralische Bereitwilligkeit auch immer an eine persönliche Empfindung geknüpft. Bei Fichte spielt der Freiheitsgedanke der Menschen zudem eine große Rolle, der angesichts des anbrechenden Libertinismus nicht zu vernachlässigen ist. Ihm nach trachten Menschen danach, ihren Willen durchzusetzen, der zugleich auch „vernünftig“ ist. Das größte Ziel ist somit „Sittliche Güte “ und „Glückseligkeit“, auch wenn es sich dabei um einen unendlichen, nicht vollziehbaren Prozess handelt (Ilting 1984: 894f.). Auch konstatiert Fichte, dass die Menschen eher „der Stärke oder der Schlauheit als der bloßen Vernunft“ folgen (Ilting 1984: 895).
2.1 Libertinage und die Gesellschaft im 18. Jahrhundert
Im Allgemeinen wird mit Libertin eine Person bezeichnet, die sich in der normierten Gesellschaft nonkonform verhält. Der Begriff Libertin stammt aus dem Lateinischen (libertus) und bedeutet Freigelassener. Im 17. Jahrhundert tauchte er vor allem im religiösen Diskurs auf. Der Libertin wurde dafür verdammt, dass er sich von religiösen Lehren befreit hatte und sogar als Gottloser bezeichnet (vgl. Delon 1992: 4f.). Die fehlende Ehrfurcht des Libertins vor der Religion stieß auf Unmut. Dafür verantwortlich gemacht wurde die natürliche Moral des Libertins, die nicht nur zu einer Missachtung der gesellschaftlichen Sitten, sondern auch zu einem unerhörtem sexuellen Verhalten führen würde (vgl. Delon 1992: 7). Dieser ausschweifende, von den Vorgaben der Gesellschaft abweichende, Lebensstil wird in Bezug auf die Sexualität auch als débauche bezeichnet. Mit der Gesinnung der Aufklärung wurden diese religiös geprägten Normen auch auf soziale und politische Kontroversen übertragen. Ferner war der Libertin dann jemand, der sich von moralischen Konzepten losgesagt hatte. Die Fähigkeit, eigenständig und freizügig zu denken, war überwiegend dem Stand der Aristokraten und den Schriftstellern vorbehalten, „denn [d]er freizügige Gedanke geht meistens Hand in Hand mit einem streng elitären Denken und Verhalten“ (Delon 1992: 15). Im Kontext des 18. Jahrhunderts stand das Bürgertum, welches immer mehr an Selbstständigkeit und Einfluss gewann, den elitären Aristokraten gegenüber. Diese lassen sich noch einmal in Schwertadel und Amtsadel unterteilen. Die Aufklärer verbreiteten indes Theorien zu der Moral und unter anderem auch dem Tugendbegriff « vertu » (Hillesheim 2013 : 49). Dieser wurde von Diderot und d‘Ambert in die Encyclopédie eingeführt und von der Gesellschaft, wie Literatur, übernommen. Der Roman La Nouvelle Helo'ise von Rousseau sollte darüber hinaus ein warnendes Beispiel dafür sein, was durch Auslebung der zügellosen Gelüste geschieht. Überdies setzte Voltaire den Begriff vertu mit bienfaisance gleich (vgl. Hillesheim 2013: 105). In den gesellschaftlichen Debatten waren die Begriffe, ebenso wie Sitte, Sittlichkeit und Moral, durch die Popularität dieser Denker allgegenwärtig und somit prägend für die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die Libertinage kann als Gegenbewegung verstanden werden. Da die Noblesse ihre Macht schwinden sah, versuchten Einige, dem drohenden Niedergang entgegenzuwirken, indem sie die vorherrschenden Tugenden und Sitten nicht nur nicht befolgten, sondern regelrecht verachteten (vgl. Köhler 1984: 85 f.). Damit grenzte sich die aristokratische Salonwelt klar von der Bourgeoisie ab. Jedoch konnte der Libertinismus zwei Wahrheiten, oder auch zwei Gesichter vereinen: „Im Inneren wie es dir gefällt, im Äußeren wie es Sitte ist“ (Delon 1992: 8). Das heißt, dass der Libertin sich in gesellschaftlicher Hinsicht einen guten Ruf zu wahren bemühte, im Verborgenen aber sittenwidrig handelte.
3. Marquise de Merteuil als Person der Libertinage
Diese perfekte Inszenierung erfordert Hingabe, Fingerspitzengefühl und vor allem enorme Selbstbeherrschung. Der Verstand ist bei dem ganzen Spiel der Schlüssel zum Erfolg. Dies hat die Protagonistin und Intellektuelle, Madame de Merteuil, schon in jungen Jahren erkannt. Bewusst fasste sie den Entschluss, sich mit Hilfe ihrer Geisteskraft zu verstellen und in eine Rolle zu schlüpfen:
« J’étais bien jeune encore, et presque sans intéret : mais je n’avais ä moi que ma pensée, et je m’indignais qu’on püt me la ravir ou me la surprendre contre ma volonté. » (Laclos 1972 : 217).
Nach dem Tod ihres Mannes fühlt sie sich frei und zieht sich ein Jahr lang aufs Land zurück, um sich Fachliteratur hinzugeben. Dort studiert sie die moralischen Anschauungen ihrer Zeit und überlegt sich, wie sie den vollkommenen Schein kreieren kann (vgl. Laclos 1972: 220). In ihren Erzählungen wird nicht deutlich, welche Werke sie liest. Jedoch ist davon auszugehen, dass die Vorstellungen der bekannten Lumières Einzug in ihren Wissenskosmos erhielten. Die raffinierte Merteuil versteht es, sich umfassend über die gesellschaftlichen Regeln und Meinungen zu informieren, um diesen offenbar allumfassend zu entsprechen, im Verborgenen jedoch gegenteilig zu handeln. Sie wird zu einer theoretischen Meisterin der Verstellung und sehnt sich danach, ihr neu gewonnenes Wissen in die Praxis umzusetzen. Die Intensivität ihrer Vorbereitung und Bemühungen verdeutlicht die Perfidität, mit der sie ihre Mitmenschen manipuliert und erniedrigt. Ihr Ziel ist, vollkommene seelische Zerstörung bei ihren Opfern anzurichten und damit ihre grenzenlose Macht zu demonstrieren. Sie verfolgt die Absicht, ihren ehemaligen Liebhaber, Comte de Gercourt, bloßzustellen. Dieser soll in absehbarer Zeit, die ihm versprochene Cécile Volanges ehelichen. Zunächst gibt sie sich als Freundin und Ratgeberin der jungen und tugendhaften Cécile aus. Es gelingt ihr das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und ihr aus einer mütterlichen Rolle heraus vermeintlich wohlwollende Ratschläge zu erteilen (vgl. Fontana 1996: 79). Indes ermuntert sie die junge Dame dazu, ihre Verbindung zu dem Chevalier Danceny zu vertiefen. Zu diesem Zweck arrangiert sie immer wieder gemeinsame Treffen für die Beiden. Sämtliche Ratschläge sollen letztlich dazu führen, Cécile von ihrem tugendhaften Weg abzubringen. Der ganze Aufwand, den die Marquise betreibt, zeigt ihre Durchtriebenheit und Malice, mit der sie den Ruf eines Mannes zu ruinieren beabsichtigt. Ihr ist jedes Mittel recht und sie empfindet weder Skrupel noch Mitgefühl mit dem Mädchen, dem durch ihr böses Spiel ein sozialer Abstieg droht. Vielmehr empfindet sie Freude bei der Aktion (vgl. Laclos 1972: 41). Cécile ahnt dank des perfekt inszenierten Schauspiels nichts von der bevorstehenden Gefahr. Abseits ihrer strategischen Fähigkeit, ist die Intrigantin Merteuil durchaus in der Lage zu improvisieren, da Valmont es letztendlich ist, der den Plan vollenden muss. Ihm gegenüber öffnet sich die Marquise und weiht ihn in ihre Gedankengänge ein. Sie steht aber nicht nur mit ihm im Briefwechsel, sondern auch mit vielen anderen Personen. So baut sie sich ein soziales Netzwerk auf und kann gleichzeitig im Hintergrund als Strippenzieherin fungieren. Das Hauptmedium ihrer Kommunikation sind Briefe, in denen sie sich als Freundin und Vertrauensperson ausgibt und dem Empfänger Informationen entlockt. Auffällig hierbei ist, dass sie ihren Opfern nicht auf einer Ebene begegnet, sondern einen autoritären und belehrenden Ton verwendet (vgl. Knufmann 1965: 118 f.). Sie spielt stets die Rolle der Ratgeberin, die aktiv Hinweise gibt und kann damit den Lauf der Dinge beeinflussen.
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