Diese Arbeit geht der Frage nach, ob im Handeln der Figuren des Romans Kruso Züge der „Ethik der Authentizität“ zu erkennen sind.
Für ein grundlegendes Verständnis wird zunächst Taylors Aufsatz Die Quellen der Authentizität zusammenfassend dargelegt. Ebenso wird kurz in den Roman und seinen geographisch-historischen Kontext eingeführt. Im Anschluss kann sich der Forschungsfrage gewidmet werden. Dafür werden die Figuren Ed, Kruso und Rommstedt im Hinblick darauf, ob sie nach einer „Ethik der Authentizität“ handeln, analysiert. In einem Fazit werden abschließend die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengefasst.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Einführung
2.1 Charles Taylors Ethik derAuthentizität
2.2 Lutz Seilers Kruso: Historischer und geographischer Kontext
3 Analyse: Die Ethik derAuthentizität in Seilers Kruso
3.1 Ed - Ich ist ein Anderer
3.2 Kruso - Freiheit gedeiht in Unfreiheit
3.3 Rommstedt - Mit derzeit nimmt man schließlich auch die Grenze kaum noch wahr
4 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Authentizität ist in Verruf gekommen. Sie gilt heute als Selbstentwurfohne Ort in der Solidarität - so die Kritiker, so aberauch die Befürworter.1
„Selbstverwirklichung“ und „Authentizität“ sind Begriffe, die erst in den 1960er und 70er Jahren aufkeimten. Auf die Jugend- und Studentenbewegungen der 60er Jahre folgte die Entpolitisierung dieser, die in einer „Kultur des individualistischen Hedonismus, während der 1970er Jahre“ mündete.2 Eine neue .Innerlichkeit' geriet in Mode, man begriff sich selbst als Wesen mit innerer Tiefe, suchte in sich selbst den Ursprung und Leitfaden, nicht etwa im Glauben an etwas Höheres. Das DDR-System spielt dabei eine entscheidende Rolle, wie Friedrich erläutert:
Gerade diese verdinglichte Vorstellung eines tief im Subjekt eingelagerten, unzerstörbaren energetischen Kerns, eines Willens zu Selbstbestimmung, zur Freiheit, entsteht in Gesellschaften, in denen sich die Individuen machtlos einer scheinbar übermächtigen (Staats)Macht gegenüber finden und ihnen kein oder kaum Raum, Bedeutung, Würde zugestanden werden. Die Annahme dieses ontischen Freiheitskerns macht Individuen Mut, gibt ihnen Selbstvertrauen dort, wo wirkliche politische und soziale Freiheitsbewegungen fehlen.3
In Das Unbehagen an der Moderne4 greift Charles Taylor den Authentizitätsbegriff noch einmal auf und fragt im gleichen Zug nach den Konsequenzen der .authentischen Selbstverwirklichung'.
Für Lutz Seiler liegt im Schreiben die authentischste Form seines lchs: „Das Schreiben ist eine komplizierte Art zu existieren und für den, der davon betroffen ist, zugleich die einzig mögliche“5, erklärt er in einem Interview. Es beginne, so führt er weiter aus, „nicht mit der Frage, ob es gesellschaftlich relevant ist.“6 Sein 2014 erschienener Debütroman Kruso war sehr wohl gesellschaftlich relevant. Der Roman erzählt von Hiddensee als einem Ort des Rückzugs zu Zeiten der DDR, er erzählt von Aufbruch, Freundschaft und Selbstverwirklichung im Kontext des damals real existierenden Sozialismus. Mit dem Mauerfall gehen in diesem Roman nicht nurTräume in Erfüllung - einige Freiheiten funktionieren nur in Unfreiheit.
Diese Arbeit geht der Frage nach, ob im Handeln der Figuren des Romans Kruso Züge der „Ethik derAuthentizität“ zu erkennen sind.
Für ein grundlegendes Verständnis wird zunächst Taylors Aufsatz Die Quellen der Authentizität7 zusammenfassend dargelegt. Ebenso wird kurz in den Roman und seinen geographisch-historischen Kontext eingeführt. Im Anschluss kann sich der Forschungsfrage gewidmet werden. Dafür werden die Figuren Ed, Kruso und Rommstedt im Hinblick darauf, ob sie nach einer „Ethik der Authentizität“ handeln, analysiert. In einem Fazit werden abschließend diewichtigsten Erkenntnisse dieserArbeit zusammengefasst.
2 Einführung
2.1 Charles Taylors Ethik derAuthentizität
Der Authentizitätsbegriff keimte im 18. Jahrhundert mit der Vorstellung, der Mensch habe ein Selbst, einen moralischen Sinn, der ihm ein Gefühl für die Einordnung von Taten in richtig und falsch gebe.
Die Ethik der Authentizität stützt sich auf frühe Formen des Individualismus. Nach dem Individualismus der desengagierten Rationalität, die unter anderem von Descartes gestützt wurde, gelte die Forderung, „jeder müsse in eigener Verantwortung und selbstständig denken.“8 Auch der politische Individualismus Lockes spielte eine Rolle - hier wird der Person und ihrem persönlichen Willen ein höherer Rang zugeschrieben, als ihrer gesellschaftlichen Pflicht.9
Das Konzept der Authentizität steht dem Konzept vom Erfassen von Richtig und Falsch mithilfe der Berechnung der Konsequenzen (Strafe Gottes) entgegen. Laut der neuen Vorstellung wird .richtig' oder .falsch' mithilfe unserer moralischen inneren Stimme, unseren Gefühlen erfasst.10
Authentizität heiße jedoch vielmehr, dass die Moral in dieser Vorstellung verschwindet. Laut Taylor sei die ursprüngliche Anschauung der inneren Stimme Mittel zum Zweck, da sie angebe, was richtig und falsch ist. Die Verdrängung des Moralischen meine, dass die Verbindung zur inneren Stimme eine unabhängige und ausschlaggebende moralische Bedeutung bekomme. Diese Verbindung gelte als oberstes Ziel, was erreicht werden will, um als „wahre und vollendete Menschen zu gelten.“11
Die subjektive Wende der neuzeitlichen Kultur bestehe darin, „uns selbst als Wesen mit innerer Tiefe zu begreifen“12, in Analogie zur früheren Verbindung zu einer äußerlichen Quelle (wie Gott). Was jedoch keineswegs ausschließen müsse, dass wir in Beziehung zu Gott stehen, sondern vielmehr den Weg zu ihm durch unser reflexives Selbst darstellen.13
Auch Jean-Jacques Rousseau habe laut Taylor zum Wandel beigetragen. Laut Rousseau liege die Problematik der Moral darin, der Stimme der Natur im eigenen Inneren zu folgen. Diese werde nämlich so häufig von Leidenschaften übertönt, „die durch unsere Abhängigkeit von anderen ausgelöst werden, in allererster Linie amour propre [Selbst-Liebe] oder Hochmut.“14 Somit sei eine „Wiederherstellung der authentischen moralischen Verbindung zu uns selbst“15 vonnöten. Rousseau spricht vom „Gefühl des Daseins“16, welches Ursprung von Freude und Zufriedenheit für den Menschen darstelle.
Taylor erkennt bei Rousseau einen weiteren wichtigen Gedanken, den er als „Begriff der Freiheit durch Selbstbestimmung“17 artikuliert. Gemeint sei damit, dass man frei sei, wenn man unabhängig von äußeren Einflüssen autonome Entscheidungen treffen kann. Entscheidungen sollen demnach einzig und allein für sich selbst entschieden werden.
Diese Faktoren stellen zwei unterschiedliche Ideale dar, die häufig verwechselt werden. Auch die verschiedenen Formen des Authentizitätsgedankens können so begründet werden.18 Das Ideal der Authentizität wurde auch von Herder mitgeprägt, der die Idee hatte, „daß [sic!] jeder von uns seine eigene originelle Weise des Menschseins hat. Jeder hat sein eigenes ,Maß‘, wie Herder es formuliert.“19 Diese Idee sei laut Taylor ,neu‘ und ganz tief im modernen Bewusstsein verwurzelt. Jeder habe seine eigene Weise Mensch zu sein, womit auch die Forderung einer auf das individuelle .Selbst' bezogenen Lebensführung einhergehe: „Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.“20
Diese moderne Anschauung sei laut Taylor immer in Gefahr verlorenzugehen. Zum einen durch den Druck zu gesellschaftskonformen Verhalten, zum anderen durch eine möglicherweise instrumenteile Haltung zu mir selbst.21 Das Prinzip der Originalität setzt voraus, dass man sein Vorbild nur in sich selbst finden könne: „Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, [...]. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst.“22 Dies sei die Auffassung, die hinter den modernen Zielen der .Selbsterfüllung' und .Selbstverwirklichung' stecke. Dieser Hintergrund verleihe der Kultur der Authentizität moralische Kraft.23
2.2 Lutz Seilers Kruso: Historischer und Geographischer Kontext
Lutz Seilers Debütroman Kruso erschien 2014 und gewann in diesem Jahr sowohl den UweJohnson-Preis als auch den Deutschen Buchpreis. Der Roman ist einer der vielen „Wenderomane“, erzählt also von der Zeit des Zusammenbrechens der DDR. Die Insel Hiddensee an der deutschen Ostseeküste stellte in dieser Zeit einen besonderen Zufluchtsort dar.
Der Roman erzählt von dem Germanistik-Studenten Ed (Edgar Bendler), der von seinem Studienort Halle nach Hiddensee reist. Dort arbeitet er als Saisonkraft im Abwasch in der Gaststätte „zum Klausner“. Hier entsteht eine tiefe Freundschaft mit dem anderen Abwäscher, Alexey Krusowitsch, genannt Kruso. Sowohl Ed als auch Kruso haben einen geliebten Menschen verloren, was die beiden miteinander verbindet. Kruso unterhält eine .Organisation', die Menschen von der Flucht über die Ostsee abhalten und sie zu dem Kern ihrer inneren Freiheit zurückführen soll. Edgar ist fasziniert von der Freiheits-Utopie seines Freundes. So kümmern sie sich schließlich gemeinsam um die „Schiffbrüchigen“. Gefangen in ihrer eigenen kleinen Welt, bekommen sie fast nichts mehr von den Entwicklungen außerhalb Hiddensees, vom Zerfall des Staates, mit. Nach und nach verlassen immer mehr Gefährten Hiddensee, sodass am Ende nur die zwei im Klausner übrigbleiben. Kruso erkrankt hierauf. Am Ende bleibt Ed alleine zurück und versucht Kruso in Ehren zu halten, indem er Krusos Gedichtband rekonstruiert.
Der Epilog erzählt von der Recherche Lutz Seilers, für die hier stellvertretend Ed steht, nach den 174 DDR-Flüchtlingen, die auf dem Weg über die Ostsee zur dänischen Küste umgekommen waren.
Seilers Roman ist durchzogen von intertextuellen Bezügen. Der wohl Wichtigste ist der der Beziehung zwischen Ed und Kruso, die auf Defoes Robinson Crusoe und seinen Freund und Gefährten Freitag verweist. Die Sprache des Romans ist zum Großteil sehr poetisch gestaltet, was mitunter daran liegen könnte, dass Seiler eigentlich Lyriker ist und Kruso sein erster Roman ist.
Wie bereits erwähnt ist der Roman einer der vielen Wenderomane. Inwiefern spielt die Wende eine Rolle? Der Roman spielt im Sommer und Herbst vor dem Mauerfall bis zum Zeitpunkt des Mauerfalls selbst (sowie im Epilog viele Jahre später). Jedoch wird der Mauerfall nur indirekt thematisiert und die Lesenden erfahren erst spät, über das Radio „Viola“, von dem Ereignis.
Dennoch spielen Gesellschaft und Alltag der DDR, insbesondere für die hier zu analysierende .Ethik der Authentizität', eine wichtige Rolle. Denn dadurch, dass wir bei der DDR von einem Überwachungsstaat reden, dessen Kontrolle und Überwachung sich bis ins Privateste erstreckte, war eine authentische Selbstverwirklichung kaum möglich.
Die „moderne Diktatur“24 der DDR wollte ihre Ideologie der Gesellschaft aufzwingen, komme was wolle. Die Zielsetzung der Umerziehung eines jeden Einzelnen im Sinne des Sozialismus wurde vor allem in den traditionellen Erziehungs- und Ausbildungsinstitutionen ausgetragen. Die BPP (Bundeszentrale für politische Bildung) beschreibt in diesem Zusammenhang den Alltag in der DDR wie folgt:
Alltag in der DDR war immer ein Alltag mit der Politik, in letzter Instanz mit der Politik der SED, aber auch mit den von dieser Politik abgeleiteten "Politiken" der von ihr beherrschten Staatsapparate, Betriebe und Massenorganisationen [...]. Das lässt sich sinnfällig an Entscheidungen, die die individuelle Lebensführung und damit den Alltag verändern und neu ausrichten, veranschaulichen: Heiraten und Kinderkriegen standen in enger Wechselwirkung mit Wohnungsvergabepolitiken, Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft hing von den staatlicherseits zur Verfügung gestellten Kinderbetreuungseinrichtungen ab, Bildungsmöglichkeiten waren mit politisch kodierten Klassenzugehörigkeiten und Loyalitätsbeweisen verknüpft, die Teilhabe an anderen materiellen Errungenschaften wie Ferienplätzen, Eintragungen in eine Warteliste für Autos etc. an die Mitgliedschaften in Massenorganisationen und so weiter. Der alltägliche Umgang mit den vom politischen Willen der SED und nicht nur den materiellen Möglichkeiten diktierten Konditionen für die Beschaffung und den Erwerb der Grundlagen für die eigene Lebensführung war eine Selbstverständlichkeit, eine Routine" (Deutscher Bundestag, S. 27f.).25
Der omnipräsente Anspruch der Partei (SED), sich entsprechend ihrer Ideologie zu verhalten, führte dazu, dass sich die meisten diesem entziehen wollten und so ein Widerlager entstand: Der Eigensinn. „Eigensinn“ warjedoch nicht gerne gesehen: „Jedes persönliche Engagement für irgendetwas war eben verdächtig.”26
Bis Mitte der achtziger Jahre verhielte sich der Großteil der Jugendlichen loyal gegenüber dem Staat, bis die wachsende Wirtschafts- und Versorgungskrise zu immer größerer Skepsis dem Sozialismus gegenüber führte.
Auch der Arbeitsbegriff und die Betriebe hatten in der DDR im Vergleich zur BRD einen anderen Stellenwert. Arbeit erfuhr in der Propaganda die höchste Wertschätzung, die gesamte Ideologie war arbeitszentriert, die Betriebe hatten dabei eine gesellschaftlich und sozial umfassende Bedeutung.
2
Hiddensee nimmt in der Thematik der Wende einen besonderen Platz ein. Die nur 19 km große Insel galt zu DDR-Zeiten als Ort für Aussteiger und Andersdenkende, viele von ihnen waren Künstlerinnen und Schriftstellerinnen oder hatten Interesse an Kunst und Kultur. Es herrschte ein insgesamt intellektuelles Klima.
Durch ihre Lage an der Ostseeküste, westlich von Rügen und der Nähe zu Skandinavien, war die Insel Ort für Fluchtversuche. Für die Flucht musste eine 50 km lange Strecke über die Ostsee nach Men in Dänemark zurückgelegt werden. Dabei kamen mindestens 174 DDR- Flüchtlinge ums Leben, wie wir im Epilog des Romans erfahren.
Analyse: Die Ethik derAuthentizität in Seilers Kruso
Taylor fragt in der Thematik des Selbst vor allem nach dessen Gestaltungsmöglichkeiten, die im gelingenden Fall zu einem authentischen Selbst führen.27 Sein Identitätsbegriff wird durch Walter Schnaupp wie folgt beschrieben:
Identität beschreibt bei Taylor das konkrete Selbst samt den in diese Identität eingebauten Anschauungen, Idealen und Werten, welche das Selbst in seinem Empfinden, in seinem Reagieren und Handeln bestimmen.28
In der Moderne komme insbesondere der Originalität des Menschen eine Bedeutung in seiner Selbsterfüllung zu, und weniger sein durch äußere Ordnungen (wie Religion und Recht) zugewiesener Platz in der Gesellschaft.29 Die Einschränkungen, die die Menschen in der DDR bezüglich der Selbstentfaltung erlebt haben, haben den Wunsch nach Selbsterfüllung nur weiter befeuert.
„Identität meint also eine Originalität und weniger eine Identifikation mit Normen, Vorstellungen, Verhaltensweisen, die in einer Gesellschaft als allgemeingültig akzeptiert werden.“, folgertAnnika Hand in ihrerAusarbeitung zur Ethik der Liebe und Authentizität.30 Doch, wie gelangt ein Mensch zu einer Lebensführung, die sich nach seinem authentischen Selbst richtet? Und, was genau beschreibt nun diese .Authentizität'? Taylor führt zu .echter Authentizität' aus:
(A) Die Authentizität beinhaltet (1) nicht nur ein Finden, sondern auch Schöpfung und Konstruktion, (2) Originalität und häufig auch (3) Widerstand gegen die Regeln der Gemeinschaft und möglicherweise sogar gegen anerkannte Moral. Doch [...] [es] gilt ebenfalls (B), daß sie (1) Offenheit für den Bedeutungshorizont verlangt (denn sonst geht der Schöpfung der Hintergrund verloren, der sie vor der Bedeutungslosigkeit bewahrt) und daß sie (2) dialogische Selbstdefinition fordert.31
Ob dieser Authentizitätsbegriff, und ob sich ein Handeln nach der von Taylor beschriebenen „Ethik der Authentizität“ in den Figuren des Romans widerspiegeln, soll nun im Folgenden herausgearbeitet werden.
3.1 Ed - Ich ist ein Anderer
Zu Beginn des Romans befindet sich der 24-jährige Edgar Bendler in einer tiefen Krise, die sich in seinem Inneren abspielt. Er hat nur „jene Auswendigwelt, die [seinen] Schädel besetzt hielt wie ein Tinitus“32 (seine Trakl-Bestände) und die Trauer um seine verlorene Geliebte G., die so weit geht, dass sie sich bei ihm in einer „Fallsucht“33 äußert.
Zu Beginn der Handlung kann hinsichtlich Edgars Leben im Blick der Ethik der Authentizität gesagt werden, dass Edgar kaum Eigenes an sich hat und völlig von sich selbst entfremdet ist. Zum einen äußert sich das in dem Grübeln über seine Trauer, anstatt diese wahrzunehmen, zum anderen durch das fehlende Hinterfragen der Rolle, die ihm auferlegt wird und der instrumenteilen Haltung zu sich selbst - zu erfüllen, was von ihm verlangt wird. Ein vorbildlicher Bürger der DDR - nur, dass er nicht arbeitet, sondern Literatur studiert, passt nicht ins Bild. Er ist so in sich zurückgezogen, dass er sein Selbst nicht mehr erkennen kann. Wennerscheid stellt dazu fest:
Sprachlich wird dieser Zustand des Sich-selber-fremd-Seins über einen literarisch-geschraubten Duktus in Szene gesetzt, der Eds Welt- und Selbstwahrnehmung als merkwürdig gebrochen aufzeigt. Ed scheint die Dinge nicht direkt wahrzunehmen, sondern wie durch eine Nebelwand aus Worten. Das eigene Leben erscheint unwirklich wie ein Stück Literatur. „Edgar Bendler hatte beschlossen, zu verschwinden, ein Satz wie aus einem Roman.“34
Dabei ist er sich seiner gescheiterten Existenz durchaus bewusst, was sich immer wieder in Scham äußert.
Und wahrscheinlich sah man ihm an, dass er nur unterkriechen, nur verschwinden wollte, dass er im Grunde gescheitert war, aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.35
Das Potential in seinem Scheitern kann Ed vorerst nicht erkennen. Leskovec spricht der Erkenntnis des eigenen Scheiterns eine entscheidende Rolle als Ausgangspunkt ethischen Handelns zu.36 Generell kann Ed durch das Erkennen seines Irrpfades überhaupt ins Handeln übergehen, was er schließlich auch zu begreifen scheint:
Unter der Oberfläche, gewissermaßen hinter dem Leben herrschte eine immerwährende Verlockung, ein Angebot ohnegleichen. Es brauchte den festen Entschluss, sich abzuwenden, und nichts anderes war es, was Ed tat an diesem Tag.37
In Taylors Ethik der Authentizität ist das Hören auf die innere Stimme für die Herausbildung eines authentischen Selbst nicht ausreichend, sondern das Selbst ergibt sich auch immer durch den reflexiven Bezug zu anderen. Annika Hand führt diesen Gedanken noch weiter aus:
Der Sinn des Gewordenseins und künftiger Entwürfe erschließt sich nicht in Distanz zur Welt und in innerer Isolation. Nur im Mit-Sein bringt sich die Person zum Ausdruck, indem sie auf den Ausdruck der Anderen verwiesen ist. Denn in ihnen und den miteinander geteilten Leerräumen, in dem Noch-Unerschlossenen innerhalb des sinnvoll Gegebenen, erlebt sich die Person und verdeutlicht die von ihr erfassten Werte in sich, im Anderen und in den Werteverhältnissen.38
Sie erklärt weiter: „Aus dem Bewusstsein der Abhängigkeit des Ich vom Anderen - der chiastischen Verschränkung - entsteht eine Beziehung der Teilhabe am Anderen und damit eine Überschreitung des Ich zum Anderen hin.“ Diese Entwicklung sieht sie auch in Ed.
Seine ursprüngliche Innerlichkeit besitzt keine Tiefe, sie resultiert vielmehr aus Erwartungen, die er an sich gestellt sieht:
[...]
1 Hand, Annika: Ethik der Liebe und Authentizität (=Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie, Bd. 39). Würzburg: Ergon- Verlag 2017, S.289. (Im Folgenden zitiert als „Hand")
2 Menke, Christoph: Was ist eine »Ethik der Authentizität?« In: Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven oufdos Werk von Chorles Taylor. Michael Kühnlein und Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.). Berlin: Suhrkamp 2011.(=Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2018), S.220. (Im Folgenden zitiert als „Menke")
3 Friedrich, Gerhard: Utopia. Die Insel und das Land. Lutz Seilers Roman „Kruso". In: Inseln der Hoffnung - Literarische Utopien in der Gegenwart. Stillmark, Hans-Christian / Pützer, Sarah (Hrsg.)(=PERSPEKTIVENWECHSEL, Band 3). Berlin: Weidler 2018, S.33. (Im Folgenden zitiert als „Friedrich")
4 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Übers, von Joachim Schulte. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (=Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 1178). (Im Folgenden zitiert als „Taylor")
5 Kasaty, Olga Olivia: Ein Gespräch mit Lutz Seiler. Wilhelmshorst, 29. Juli 2005. In: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche. Olga Olivia Kasaty (Hrsg.). München: edition text + kritik 2007.
6 Ebd.,S.379.
7 Taylor, S.34-39.
8 Ebd.,S.34.
9 Vgl. ebd.,S.34.
10 Vgl. ebd.,S.34.
11 Ebd., S.34.
12 Ebd., S.34.
13 Ebd., S.34Í.
14 Taylor, S.35.
15 Ebd., S.35.
16 Ebd., S.35.
17 Ebd.,S.37.
18 Vgl. ebd.,S.37.
19 Ebd.,S.38.
20 Ebd. S.38.
21 Ebd., S.38f.
22 Ebd.,S.39.
23 Ebd.,S.39.
24 Heydemann, Günther: Gesellschaft und Alltag in der DDR. Veröffentlicht am 4.04.2002. URL: https://www.bpb.de/izpb/9766/gesellschaft-und-alltag-in-der-ddr?p=all, zuletzt geöffnet am 11.03.2021.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 Vgl. Hand, S.120.
28 Ebd.,S.118.
29 Vgl. ebd.
30 Ebd. S.118
31 Taylor, S.77.
32 Seiler S.189.
33 Ebd.,S.89.
34 Wennerscheid, Sophie: Von dem Trauma des anderen und der Sehnsucht nach Behausung in Lutz Seilers Roman Kruso. In: arcadia, Bd. 52, Heft 2. Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S.322. (Im Folgenden zitiert als „Wennerscheid")
35 Seiler, S.37.
36 Ebd.,S.55.
37 Seiler, S.28.
38 Hand, S.290.