Die Arbeit behandelt die Frage, wie eine gerechte Gesellschaft in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ definiert wird. Für einen kritischen Ansatz wird vergleichend die Auffassung des Gerechtigkeitsbegriffs des Utilitarismus hinzugezogen, sowie die damit verbundenen Ansichten und Herangehensweisen. Rawls definiert seine Gerechtigkeitstheorie offenkundig als eine „utilitarismuskritische, dem Utilitarismus überlegene ethische Konzeption“.
Als primäre Grundlage für die Herausarbeitung dient John Rawls „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (2019). Zunächst gibt die Arbeit einen Überblick über die „Theorie der Gerechtigkeit“ und den „Utilitarismus“, um ein einheitliches Verständnis zu gewährleisten. Die anschließende vergleichende Rekonstruktion umfasst die jeweiligen Ausprägungen des Urzustandes: Rawls Schleier des Nichtwissens und den unparteiischen Beobachter des Utilitarismus. Aufbauend auf Rawls Auffassung des Urzustandes thematisiert das nachfolgende Kapitel die Gerechtigkeitsprinzipien, auf die sich die Vertragspartner hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen würden.
Der anschließende Theorieteil behandelt vergleichend die deontologische Ethik Rawls und die teleologische Ethik des Utilitarismus. Kernfrage ist dabei, ob die beiden Ethiken sich zwingend widersprechen oder sie sich womöglich gegenseitig ergänzen können. Die darauffolgende Betrachtung der jeweiligen Auffassungen einer gerechten Verteilung schließt mit der Frage ab, ob Rawls Maximin-Regel ebenso utilitaristische Züge aufzeigt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls
3. Der klassische Utilitarismus
4. Der Urzustand
4.1 Rawls: Der Schleier des Nichtwissens
4.2 Utilitarismus: Der unparteiische Beobachter
5. Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit nach Rawls
5.1 Das erste Gerechtigkeitsprinzip
5.2 Das zweite Gerechtigkeitsprinzip
6. Theorieteil: Deontologische gegen teleologische Ethik
7. Die gerechte Verteilung
7.1 Rawls: Gerechte Verteilung von Grundgütern
7.2 Utilitarismus: das Nutzensummenprinzip
7.3 Trägt die Maximin-Regel Rawls‘ utilitaristische Züge?
8. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In seinem 1971 erschienenen Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ entwickelt der US-amerikanische Philosoph John Rawls mehrere seiner früher veröffentlichen Aufsätze inhaltlich weiter und formt eine Gerechtigkeitskonzeption einer Gesellschaft.
Die vorliegende Arbeit behandelt dabei die Frage, wie eine gerechte Gesellschaft in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (Rawls 2019, Erstausgabe 1971) definiert wird. Für einen kritischen Ansatz wird vergleichend die Auffassung des Gerechtigkeitsbegriffs des Utilitarismus hinzugezogen, sowie die damit verbundenen Ansichten und Herangehensweisen. Rawls definiert seine Gerechtigkeitstheorie offenkundig als eine „utilitarismuskritische, dem Utilitarismus überlegene ethische Konzeption“ (Kersting 2004: 95). Dabei richtet sich Rawls Kritik im Speziellen gegen die Form des klassischen Utilitarismus. Statt sich auf ein bestimmtes Werk eines einzelnen Vertreters zu beschränken, fasst er das Gemeinsame der klassischen Utilitaristen zusammen (vgl. Kühn 1984: 117 f.). Aus diesem Grund widmet sich ebenso die Arbeit den Gemeinsamkeiten der klassischen Utilitaristen und begrenzt sich nicht auf einen bestimmten Vertreter und seine speziellen Ansichten.
Als primäre Grundlage für die Herausarbeitung dient John Rawls „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (2019). Der aktuelle Forschungsstand ist geprägt durch eine enorme Vielfalt und Heterogenität in der Literatur, die sich dem Thema widmet. Dabei werden klassische Fragen der politischen Philosophie, Methodenprobleme und vergleichende Perspektiven bis hin zur Anwendungsfähigkeit der Theorie diskutiert (vgl. Druwe/Dähn 1997: 2). Hans-Jürgen Kühns „Soziale Gerechtigkeit als moralische Forderung“ (1984) rekonstruiert das theoretische Grundgerüst der Gerechtigkeitstheorie und beleuchtet Aspekte wie die Gerechtigkeit mit ihren Prinzipien und den Urzustand. Sebastian Schleidgen befasst sich in „Zukunft verpflichtet? Der Nachhaltigkeitsbegriff zwischen Vertragstheorie und Utilitarismus“ (2009) mit John Rawls Urzustand als Ausgangspunkt fairer Bedingungen zur Etablierung der Gerechtigkeitsprinzipien. Vergleichend stellt er die utilitaristische Auffassung von Gerechtigkeit dar. Egon Engin-Deniz Veröffentlichung „Vergleich des Utilitarismus mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls“ (1991) untersucht die Frage, welcher Ansatz – der utilitaristische oder John Rawls‘ – hinsichtlich gerechter Grundregeln einer Gesellschaft leistungsfähiger ist, insbesondere weil Rawls sich explizit gegen die Denkströmung des Utilitarismus stellt. Neben Engin-Deniz stellt ebenfalls Wolfgang Kersting in seinem Werk „John Rawls zur Einführung“ (2004) Rawls Kritik am Utilitarismus deutlich dar.
Zunächst gibt die Arbeit einen Überblick über die „Theorie der Gerechtigkeit“ und den „Utilitarismus“, um ein einheitliches Verständnis zu gewährleisten. Die anschließende vergleichende Rekonstruktion umfasst die jeweiligen Ausprägungen des Urzustandes: Rawls Schleier des Nichtwissens und den unparteiischen Beobachter des Utilitarismus. Aufbauend auf Rawls Auffassung des Urzustandes thematisiert das nachfolgende Kapitel die Gerechtigkeitsprinzipien, auf die sich die Vertragspartner hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen würden. Der anschließende Theorieteil behandelt vergleichend die deontologische Ethik Rawls und die teleologische Ethik des Utilitarismus. Kernfrage ist dabei, ob die beiden Ethiken sich zwingend widersprechen oder sie sich womöglich gegenseitig ergänzen können. Die darauffolgende Betrachtung der jeweiligen Auffassungen einer gerechten Verteilung schließt mit der Frage ab, ob Rawls Maximin-Regel ebenso utilitaristische Züge aufzeigt.
2. Die „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls
In seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ untersucht John Rawls Prinzipien, unter denen eine moderne Gesellschaft geschaffen sein muss, um als gerecht und wohlgeordnet zu gelten. Grundbestandteil der Theorie ist somit die Frage nach der Grundstruktur einer „vollkommen gerechte[n] Gesellschaft“ (Rawls 2019: 25). So schreibt Rawls (ebd.: 21): „Man kann sich eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung als das Grundgesetz einer wohlgeordneten menschlichen Gesellschaft vorstellen.“
In diesem Zusammenhang versucht Rawls menschliches Handeln und deren moralischen Wert im Hinblick auf die politische und wirtschaftliche Organisation einer Gesellschaft zu erklären. Die Grundstruktur bilden dabei die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Dazu gehört zum Beispiel ein demokratisches Parlament, eine unabhängige Justiz oder eine rechtsschaffende Regierung. Diese Institutionen legen die Rechte und Pflichten der Bürger fest (vgl. ebd.: 23). Den Gerechtigkeitsbegriff definiert Rawls durch die richtige Verteilung gesellschaftlicher Güter. Die Theorie der Gerechtigkeit soll hierbei bestimmte Verteilungsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bieten (vgl. ebd.: 26 f.). Folglich ist sie eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, deren Anwendungsbereich die gesellschaftliche Grundordnung ist. Untersucht wird in diesem Zusammenhang die Freiheits-, Chancen- und Güterverteilung der gesellschaftlichen Institutionen (vgl. Kersting 2004: 37).
Damit eine gerechte Gesellschaftsordnung entsteht müssen entsprechende Prinzipien gelten. Rawls führt in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „Gerechtigkeit als Fairness“ ein. Der Grundgedanke beschreibt hierbei, dass die Grundsätze von freien und vernünftigen Menschen in einem anfänglichen Zustand der Gleichheit zu gestalten sind. Die entsprechenden Grundsätze würden die Menschen zur Grundlage ihrer sozialen Zusammenarbeit und Regierung machen (vgl. Rawls 2019: 28). So wird verhindert, dass bestimmte Personen einen höheren Vorteil aus dem Vertrag ziehen als andere Personen. Wohlgeordnet ist demnach eine Gesellschaft, wenn alle Bürger die entschiedenen Grundsätze als das oberste Prinzip anerkennen und diese von den Institutionen entsprechend umgesetzt werden. Sobald dieses oberste Prinzip beschlossen ist, gilt der Vertrag für alle Mitglieder verbindlich (vgl. Kühn 1984: 14). Nach Rawls (2019: 21) bildet der Vertrag eine Gesellschaft,
„in der (1) jeder die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, daß [sic] das auch die anderen tun, und (2) die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bekanntermaßen diesen Grundsätzen genügen.“
Zusammenfassend ist somit das Ziel des Rawls’schen Ansatzes, normative Gerechtigkeitsprinzipien für eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung einer Gesellschaft zu entwickeln. Diese sollen von allen Bürgern anerkannt werden und so ein wohlgeordnetes Zusammenleben gewährleisten (vgl. Schleidgen 2009: 37).
3. Der klassische Utilitarismus
Der Utilitarismus tritt in verschiedenen Varianten auf. Die Arbeit wird sich im Folgenden auf den klassischen Utilitarismus beschränken, denn Rawls vergleicht seine Theorie der Gerechtigkeit mit der klassischen Form (vgl. Rawls 2019: 51 f.). Vor allem die Vertreter Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick prägten den klassischen Utilitarismus. Grundlage ist folgendes Prinzip:
„Ein Handelnder sollte eine Handlung genau dann ausführen, wenn durch sie ein maximaler Gesamtnutzen über sämtliche Betroffenen hinweg erreicht wird. […] Handlungen sind in ihrer Moralität danach zu bewerten, ob sie eine optimale Nutzenbilanz erwarten lassen“ (Hübner 2014: 212).
Demnach ist das Handeln einer Person nur dann nützlich, wenn es zur Erfüllung des allgemeinen Glücks beiträgt. Der Name Utilitarismus entstammt aus dem wesentlichen Prinzip der Nutzenmaximierung. „Nutzen“ definieren die klassischen Vertreter als Glück der betroffenen Personen. „Glück“ stellt einen bestimmten Gefühlszustand dar, genauer die Differenz zwischen positiven und negativen Empfindungen, wie Lust und Unlust oder Freude und Leid. „Utility“ bedeutet in diesem Zusammenhang ein grundsätzliches körperliches und geistiges Wohlgefühl, das als Nettobilanz von positiven und negativen Zuständen verstanden werden kann (vgl. ebd.: 212).
Zusammenfassend ist das primäre Ziel einer Gesellschaft im klassischen Utilitarismus, eine möglichst große Nutzensumme zu erzielen. Dafür werden die Nutzenwerte aller Betroffenen addiert. Jeder zählt gleich und keiner wird bevorzugt (vgl. ebd.: 212 f.).
4. Der Urzustand
Sowohl Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ als auch der klassische Utilitarismus definieren sich durch eine hypothetische Ausgangslage: Beide weisen eine Art moralischen Standpunkt auf. Dieser wird eingenommen, um moralische Urteile zu beschließen, die intersubjektiv gültig sind. Das wesentliche Merkmal dieses moralischen Standpunkts im Urzustand ist die Unparteilichkeit. Um einen moralischen Standpunkt einnehmen zu können dürfen die hypothetischen Vertragspartner für niemanden Partei ergreifen, weder für sich selbst noch zum Vorteil anderer. So bezeichnet der Urzustand eine faire Ausgangslage, eine hypothetische Situation, in der objektive Rahmenbedingungen für eine ideale Gesellschaft festgelegt werden (Rawls 2019: 211).
4.1 Rawls: Der Schleier des Nichtwissens
Laut Rawls werden die sozialen Gerechtigkeitsprinzipien in einem hypothetischen Ausgangspunkt – dem Urzustand – festgelegt. Interessenkonflikte innerhalb einer Gesellschaft entstehen durch konkurrierende Ansprüche der Mitglieder auf knappe Güter (vgl. Kersting 2004: 34). Der Urzustand definiert sich durch einen „ursprünglichen Zustand der Gleichheit“ (Schleidgen 2009: 39 f.), indem konfliktregulierende Normen etabliert werden. So soll eine faire Einigung für die Verteilung der Güter ermöglicht werden. Hierbei handelt es sich um eine Übereinkunft freier und vernünftiger Menschen, die allgemein gültige Prinzipien aufstellen, die moralisch richtig sind und durch die alle Bürger gleichbehandelt werden. Dabei legen die Menschen fest, was als gerecht und ungerecht gelten soll (vgl. Kühn 1984: 35 f.). Die entscheidende Bedingung des Urzustandes ist der Schleier des Nichtwissens. Die verhandelnden Menschen kennen Faktoren wie ihre wirtschaftliche und politische Lage, ihren sozialen Status oder ihre Intelligenz nicht. Dadurch wird es unmöglich eigene Vorteile zu erhalten, denn die Gerechtigkeitsprinzipien werden objektiv ohne Rücksicht auf persönliche Merkmale beschlossen (vgl. Rawls 2019: 159 f.). Es wäre beispielsweise für die Verhandlungspartner völlig unsinnig, Vorteile für eine gewisse gesellschaftliche Position zu bestimmen, denn im Urzustand können sie nicht wissen, welche Position sie anschließend innehaben werden (vgl. Schleidgen 2009: 41).
4.2 Utilitarismus: Der unparteiische Beobachter
Genau wie in Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ besteht auch im Utilitarismus ein hypothetischer Zustand, in dem Objektivität gewahrt wird: Der unparteiische Beobachter. Dieser soll die Rahmenbedingungen für eine Nutzenmaximierung festlegen, indem er die Einzelnutzen der Bürger gegeneinander abwägt. So schreibt Rawls (2019: 211) über den Utilitarismus:
„[…] ein Gesellschaftssystem ist recht, wenn ein ideal vernünftiger und unparteiischer Beobachter, der alle bedeutsamen Umstände kennt, es [das Gesellschaftssystem] unter allgemeinen Gesichtspunkten billigen würde.“
Infolgedessen ist nach dem Utilitarismus eine geordnete Gesellschaft diejenige, die durch den unparteiischen Beobachter gebilligt wird.
Hierbei erscheint Grund zur Annahme, dass Rawls Schleier des Nichtwissens und der unparteiische Beobachter des Utilitarismus Gemeinsamkeiten aufweisen. Es könnte nämlich sein, dass ein unparteiischer Beobachter des Utilitarismus ein Gesellschaftssystem billigt, das den Gerechtigkeitsprinzipien Rawls entspricht. Trotz dessen gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Annahmen: Hinter Rawls Schleier des Nichtwissens werden die Menschen von ihrem Selbstinteresse geführt. Entsprechend gehen die Menschen im Urzustand davon aus, dass für sie nach Beschluss des Vertrages der denkbar schlechteste Fall eintreten wird und sie dementsprechend in der am schlechtesten gestellten Gesellschaftsposition landen werden. Aus Selbstinteresse heraus wählen sie Grundprinzipien, die vorrangig die Aussichten dieser Gesellschaftsgruppe maximieren (vgl. Engin-Deniz: 96-120).
Jedoch nach Rawls Auffassung sieht der unparteiische Beobachter des Utilitarismus von seinen persönlichen Interessen ab, denn er berücksichtigt die Interessen jedes Menschen gleichermaßen. Um dieses individuelle Interesse jedes Menschen herauszufinden, versetzt sich der Beobachter nacheinander in jeden Menschen hinein. Sobald er damit fertig ist „drückt seine Billigung das Gesamtergebnis aus“ (Rawls 2019: 214). Dabei gleicht in der Summe die Freude den Schmerz und das Glück das Leid aus. Somit ist für den Beobachter der aus dem Ausgleich resultierende Nettowert der positiven Gefühle entscheidend (vgl. ebd.: 213 f.).
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