Diese Hausarbeit möchte den Blick auf alternative Konzepte des Wirtschaftens auf einem endlichen Planten werfen und hierbei vor allem die Rolle der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates als ihr primäres Handlungsinstrument innerhalb einer Ökonomie, die nicht auf endloses Wachstum ausgerichtet ist, beleuchten.
Wie muss ebendieser Wohlfahrtsstaat beschaffen sein, um in einer Postwachstumsgesellschaft funktionieren zu können? Hierbei geht es nicht alleine um Verteilungsfragen, sondern auch um den Umgang mit z.B. Gesundheitssystemen oder dem Stellenwert von Carearbeit. Generell muss die Frage gestellt werden, wie eine Sozialpolitik betrieben werden kann, die nicht nur am ökonomischen Wohl der Bevölkerung interessiert ist.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kurze Einführung in die Theorie(n) des Postwachstums
3. Probleme des Wohlfahrtsstaates ohne Wirtschaftswachstum
3.1 Generelle Probleme staatlicher Institutionalisierung im Postwachstum
3.2 Strukturelle Probleme des heutigen Wohlfahrtsstaates
3.2.1 Erwerbsarbeitszentriertheit
3.2.2 Fehlende Möglichkeiten zur Rationalisierung
4. Lösungsansätze und Perspektiven für einen Postwachstums-Wohlfahrtsstaat
4.1 Postwachstum mit und nicht gegen den Staat
4.1.1 Gegenseitige Befruchtung von „Bottom-Up“ und „Top-Down“
4.1.2 Ausrichtung am Suffizienzprinzip
4.2 Trennung von Erwerbsarbeit und Existenzsicherung
4.3 Vorteile aus dem Baumol-Effekt ziehen
5. Grenzen des Postwachstums in Verbindung mit Wohlfahrtsstaatlichkeit
5.1 Vielfalt von Herausforderungen im internationalen Kontext
5.2 Probleme gelebter Alternativen
6. Fazit
7. Bibliographischer Apparat
1. Einleitung
Im März 1955 veröffentlichte der Ökonom Simon Kuznet ein sowohl einfaches, als auch bahnbrechendes Modell bezüglich der ökonomischen Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften. Demnach steige nach der Industrialisierung von Gesellschaften mit immer weiter fortschreitenden Wirtschaftswachstum die Ungleichheit zunächst zwangsläufig an, um auf lange Sicht betrachtet nach einem bestimmten Höhepunkt wieder bis auf ihren minimalen Ausgangspunkt zu sinken (Kuznet 1955). In Diagrammform ergibt sich so über die Zeit ein umgedrehtes U - diese graphische Darstellung ist heute weitläufig als Kuznet-Kurve bekannt. Mehr als 60 Jahre nach Aufstellung dieser Hypothese lehrt uns die aktuelle Realität, in der es durchaus industrialisierte Gesellschaften mit (wieder) wachsender Ungleichheit gibt, dass es ganz so leicht wohl doch nicht sein kann. Dennoch wird allerorts am Prinzip vom „Wachstum, das für Ausgleich sorgen wird“ festgehalten (Raworth 2018, 199), obwohl der Effekt von Wirtschaftswachstum auf die Ungleichheit wie gesehen zweifelhaft ist und vor allem seine ökologischen Folgen dagegen nachweislich verheerend sind. Angesichts dieser Problematik möchte die vorliegende Hausarbeit den Blick auf alternative Konzepte des Wirtschaftens auf einem endlichen Planten werfen und hierbei vor allem die Rolle der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates als ihr primäres Handlungsinstrument innerhalb einer Ökonomie, die nicht auf endloses Wachstum ausgerichtet ist, beleuchten. Wie muss ebendieser Wohlfahrtsstaat beschaffen sein, um in einer Postwachstumsgesellschaft funktionieren zu können? Hierbei geht es nicht alleine um Verteilungsfragen, sondern auch um den Umgang mit z.B. Gesundheitssystemen oder dem Stellenwert von Care- arbeit. Generell muss die Frage gestellt werden, wie eine Sozialpolitik betrieben werden kann, die nicht nur am ökonomischen Wohl der Bevölkerung interessiert ist. Wirtschaftswachstum ist das alles bestimmende Paradigma heutigen politischen Handelns. Dass sich dies ändern und die Menschheit andere Ziele ihres Handelns festlegen muss, um auch künftigen Generationen eine lebenswerte Existenz garantieren zu können, wurde bereits von mehreren Autor*innen nachgewiesen (vgl. z.B. Jackson 2014; Raworth 2018), wenngleich diese innerhalb der Volkswirtschaftslehre (noch) wenig Gehör findet. Doch auch wenn in nächster Zeit eine Transformation der Gesellschaft erfolgen sollte, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass damit auch keine Sozialpolitik mehr betrieben werden muss. Wie diese während und nach einem Systemumbruch aussehen kann, soll von nun an untersucht werden. Zuvor allerdings soll kurz umrissen werden, was in dieser Hausarbeit gemeint ist, wenn der Begriff „Postwachstum“ fällt. Der nächste Abschnitt soll deshalb einen groben Überblick über den Postwachstums-Diskurs geben.
2. Kurze Einführung in die Theorie(n) des Postwachstums
Der Begriff „ Décroissance “ (englisch: „Degrowth“ bzw. „Postwachstum“ im Deutschen) tauchte zum ersten mal 1979 auf, als ihn Nicholas Georgescu-Roegen als Titel für sein Werk wählte. In diesem kritisierte er grundlegend bestimmte Sichtweisen neoliberaler Ökonom*in- nen. Ausgehend von dieser grundlegenden Kritik, die darauf abzielte, dass das aktuelle Wirtschaftssystem geflissentlich die Tatsache ignoriert, dass eine stetig steigende Vernutzung von Ressourcen irgendwann zu einer Überlastung der Kapazitäten des Planeten Erde führen würde, haben sich zahlreiche unterschiedliche Theorierichtungen entwickelt. Mittlerweile kann sogar von einer wachstumskritischen Bewegung gesprochen werden, die allerdings über die allgemeine Kritik am Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Messgröße für menschlichen Wohlstand hinausgeht. Stattdessen fragt sie nach „the structural and cultural function that the fixation on economic growth has been playing in modern, capitalist societies and envisions a radical transformation of basic social institutions.“ (Muraca/Schmelzer 2017, 174). Folglich ist Postwachstum auch keine plumpe Forderung nach weniger bzw. negativem Wachstum. Es geht vielmehr darum, eine „agnostische Haltung zum Wachstum“ zu entwickeln und darüber hinaus dafür zu sorgen, dass „das menschliche Wohlergehen [ge]fördert [wird] unabhängig davon, ob das Bruttoinlandsprodukt steigt, fällt oder auf einem bestimmten Niveau verharrt.“ (Raworth 2018, 295). Genau diese Loslösung vom Primaten des Wirtschaftswachstums als oberstes Ziel ist der Grundkonsens, auf dem die verschiedenen Theorien aufbauen. Bei der Frage, wie dies genau bewerkstelligt werden soll, decken die Vorschläge dann freilich von der Abschaffung von Eigentum (jedoch nicht von Besitz!) (vgl. Habermann 2016, 46-58) bis hin zu einer drastischen Minimierung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen (vgl. Miegel 2014, 102-109) eine überaus große Bandbreite ab. Dies zeigt aber auch, dass sich Postwachstumstheorien nicht auf das Feld der Ökonomie beschränken. Vielmehr geht es um gesamtgesellschaftliche Transformationen und um die Frage, wie ein „gutes Leben“ jenseits von materiellen Wachstumszwängen aussehen kann - und zwar ohne einen ständigen Zwang zur Effizienzsteigerung.
3. Probleme des Wohlfahrtsstaates ohne Wirtschaftswachstum
Bis heute fällt es schwer, Wohlfahrtsstaat ohne wirtschaftliches Wachstum zu denken. Es scheint sogar, dass Wachstum so sehr zur Staatsdoktrin wurde, dass sämtliche Politikfelder - und damit auch die Sozialpolitik - in letzter Instanz ebendiesem Ziel dienen müssen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer (2013, 38) bemerkte in diesem Zusammenhang: „Die enge Kopplung der normativen Vorstellung vom sozialen Frieden an das kontinuierliche Wirtschaftswachstum ist wohl am stärksten für die heutige Tiefenimprägnierung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik durch die Leitvorstellung des unendlichen Wachstums verantwortlich.“ Dass Wohlfahrtsstaaten in ihrer jetzigen Konstitution von dauerhaften wirtschaftlichen Wachstum abhängig sind, hat Opielka (2017, 150) bereits festgestellt. Bevor der Fokus aber auf den Wohlfahrtsstaat gelegt wird, gilt es, ebenfalls einige Probleme staatlicher Institutionen im Allgemeinen im Postwachstum herauszuarbeiten.
3.1 Generelle Probleme staatlicher Institutionalisierung im Postwachstum
Betrachtet man die Lösungsansätze, die proklamieren wie eine Transformation der heutigen Gesellschaft zu einer Postwachstumsgesellschaft gelingen kann, tritt ein immer wiederkehrendes Kernelement der Debatte zutage, das sich nicht nur für den Wohlfahrtsstaat, sondern für alle staatlichen Institutionen an sich als problematisch erweist: Die entscheidenden Impulse für die von den Autor*innen erwünschte Transformation gehen häufig von der Mikroebene der Gesellschaft aus. Dies ist insofern wenig verwunderlich, als dass sich Theoretiker*innen einer Postwachstumsgesellschaft aktuell mit einem sehr stabilen Wachstumsparadigma konfrontiert sehen, dass mittlerweile eine Vielzahl gesellschaftlicher Strukturen beherrscht. Somit erscheint etwa Paechs (2013, 219) Feststellung, dass Wege aus der Wachstumsgesellschaft „nicht im Inneren des stahlharten Politikgehäuses, das von der Angst ummantelt ist, sensible Wähler durch unbequeme Wahrheiten zu ängstigen“ beginnen können zunächst logisch. Auf der anderen Seite führt diese Sichtweise allerdings fast zwangsläufig zu einer verkürzten und damit unzureichenden Auseinandersetzung mit dem Staat und der Rolle, die er innerhalb einer Postwachstumsgesellschaft einnehmen soll. Natürlich stellt sich nun die Frage, wie ohne Berücksichtigung des Staates und seiner Institutionen an sich schlüssige Theorien für gesellschaftliche Transformationen entworfen werden können. Der Schlüssel liegt hierbei in der Tatsache, dass wachstumskritische Ansätze zwar bestimmte Gesellschaftsbereiche aus der kapitalistischen Wachstumslogik herausholen wollen, diese dann aber nicht automatisch in die Hände des Staates übertragen werden müssen. Besonders am Beispiel der Sorgearbeit lässt sich dies verdeutlichen: In Deutschland besteht wie allgemein bekannt aktuell ein erheblicher Mangel an Betreuungsplätzen für Kleinkinder, obwohl mittlerweile ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für 1-3-Jährige besteht. Postwachstumstheoretiker*innen würden hier weder für eine bessere Bezahlung von Erzieher*innen (marktwirtschaftlich orientierte Logik), noch für den Bau bzw. die Bewilligung von mehr Kitas (staatlich orientierte Logik) argumentieren, sondern nach einer Lösung jenseits dieser beiden Sphären suchen (vgl. Dengler/Lang 2019). Es kann hierbei von Maßnahmen gesprochen werden, die kollektiv sind. Denkbar wäre etwa eine Aufteilung der Betreuungsarbeit nicht nur auf Familienangehörige, die nicht die Eltern sind, sondern etwa auch auf Freund*innen oder Nachbar*innen. Noch weiter gedacht wäre auch eine Art Nachbarschafts- Kindergarten möglich, in der eine gewisse Anzahl von Kindern - z.B. aus einem Straßenzug - in stets wechselnden Privathaushalten von ebenfalls wechselnden Menschen betreut werden. Solche kollektiven Ansätze sind zunächst einmal nicht unmittelbar auf einen (Wohlfahrts-)Staat angewiesen, da hierbei zumeist mehrere Individuen dezentral und flexibel miteinander zusammenarbeiten. Weitere Beispiele für solche „Graswurzelbewegungen“, die versuchen, gewisse Teilbereiche des Lebens von Menschen ohne staatliche Intervention außerhalb einer Tauschlogik zu organisieren oder selbstzerstörerische Tendenzen des Kapitalismus zu untergraben, sind z.B. Allmenden bzw. Commons (vgl. Helfrich 2015) oder auch der Ansatz des Divestments (vgl. McKibben 2013). Für staatliche Institutionen bleibt in einem Modell, das sich lediglich auf solche Lösungswege festlegt ein Schattendasein. Wenn überhaupt fungiert der Staat hierbei als eine Art „Sprungbrett“, das Kollektiven den Weg bereitet. Die Notwendigkeit staatlicher Institutionen wird zwar nicht grundlegend geleugnet, jedoch werden diese „nur als Mittel zum Zweck der Umsetzung postwachstumstauglicher Daseinsformen betrachtet“ (Paech 2017, 44). Allerdings mutet es ein wenig zu pessimistisch an, staatlichen Institutionen sämtliche Kompetenz zur Impulsgebung für gesellschaftlicher Transformationen abzusprechen. Daher schlägt Koch (2020) vor, „Top-Down-“ mit „Bottom-Up-Effekten“ zu kombinieren - also sowohl staatliches, als auch individuelles Handeln als Möglichkeit zur Transformation von Gesellschaften zu sehen. Ziel muss es demnach also nicht sein, Gesellschaft gewissermaßen an strukturellen Institutionen wie dem Staat „vorbei“ zu transformieren, sondern dass Maßnahmen „von oben“ und „von unten“ zueinander hinarbeiten und sich gegenseitig ergänzen (vgl. Abschnitt 4.1)
3.2 Strukturelle Probleme des heutigen Wohlfahrtsstaates
Eine der wenigen Arbeiten zum Wohlfahrtsstaat in einer Postwachstumsgesellschaft stammt von Michael Opielka (2017), der zwei zentrale Thesen aufstellt, anhand derer er die Abhängigkeiten aktueller Wohlfahrtsstaatsmodelle von der kapitalistischen Wachstumslogik zu beschreiben versucht (ebd., 150). Diese sollen im Folgenden die Grundlage für eine Erörterung der Probleme des Wohlfahrtsstaates (wie er heute gedacht wird) im Postwachstum bilden.
3.2.1 Erwerbsarbeitszentriertheit
Eine These Opielkas lautet wie folgt: Der Wohlfahrtsstaat ist von Wirtschaftswachstum [.] abhängig, wenn sein Leistungsversprechen wesentlich auf bezahlter Erwerbsarbeit beruht und zwar sowohl durch die Erbringung von personellen Dienstleistungen im öffentlichen Sektor, wie durch die Finanzierung monetärer Transfers, die aus Ansprüchen aus einer hierarchisch gegliederten Lohnarbeit resultieren. Innerhalb der Dimension der Erwerbsarbeit hätte der Wohlfahrtsstaat also in doppelter Hinsicht Herausforderungen zu bewältigen, wenn Wirtschaftswachstum nicht mehr die dominierende Maxime sein sollte. Zum einen werden wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen häufig im Rahmen von bezahlter Lohnarbeit erbracht (man denke an die Angestellten im Gesundheits- und Bildungswesen) und sind somit unmittelbar der marktwirtschaftlichen Wachstumslogik unterworfen, zum anderen beruhen wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen aber auch essentiell auf individuellen Erwerbsbiographien und/oder den davon abhängigen Sozialabgaben der Bürger*innen, was etwa an gängigen Rentensystemen ersichtlich wird. Darüber hinaus werden stets Anstrengungen unternommen, Menschen, die momentan keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Im deutschen Raum ist hierbei seit den Hartz-Reformen eine Intensivierung dieser Bemühungen zu erkennen, die darauf abzielt, einen „marktkonformen Arbeitsbürger“ zu etablieren, der möglichst unabhängig von individuellen Präferenzen dem Arbeitsmarkt „dienen“ soll (Segbers 2016, 687ff.). Diese Fokussierung auf Erwerbsarbeit ist insofern wenig verwunderlich, da diese die entscheidende Triebfeder für die Zu- bzw. Abnahme des BIP ist, das im Allgemeinen zur Bewertung des Wohlstandes von Gesellschaften herangezogen wird. Wenn nun aber die kontinuierliche Steigerung des BIP als oberstes Ziel wegfällt, stellt sich auch die Frage, wie wohlfahrtsstaatliche Leistungen finanziert werden. Gleichzeitig tut sich jedoch auch eine anders gelagerte Problematik auf: Postwachstumsökonom*innen plädieren sehr häufig für eine Verkürzung der (Erwerbs-)Ar- beitszeiten (vgl. z.B. Sommer/Welzer 2017 195f.; Jackson 2014, 121). Neben anderen positiven Effekten soll damit die frei werdenden Zeitressourcen für die Gesellschaft gewinnbringend eingesetzt werden können. Die Pflege kranker Menschen, Nachbarschaftshilfe, Kinderbetreuung etc. fallen allerdings selten in den Bereich der Erwerbsarbeit und erscheinen dennoch zumindest nicht von vornherein unwürdig vom Wohlfahrtsstaat gefördert zu werden. Arbeitszeitverkürzung würde also neue Vorgehensweisen beim Verteilen von Ressourcen nötig machen, da ja unweigerlich weniger Geld durch Erwerbsarbeit verdient werden würde.
3.2.2 Fehlende Möglichkeiten zur Rationalisierung
Die andere These Opielkas (2017, 150) bezieht sich auf die strukturellen Gegebenheiten, innerhalb derer der Wohlfahrtsstaat in der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsform funktioniert. Hierzu führt er aus: [E] r ist [...] vom Wirtschaftswachstum abhängig, weil personelle Dienstleistungen im Wissenssektor nur begrenzt rationalisierbar sind, zugleich aber eine sektorenübergreifende Lohnkonkurrenz besteht, so dass auch der quartäre Sektor1 relativ hohe Einkommen bieten muss [...J.Dieser Befund leitet sich aus der sog. „baumolschen Kostenkrankheit“ oder auch Baumol-Effekt2 ab. Der Begriff geht auf die empirischen Untersuchungen des Ökonomen William J. Baumol zurück, die zeigten, dass mit einem Anstieg des BIP so gut wie immer ein etwa gleich großer Anstieg der Gesundheitskosten einhergeht (Baumol 2012, 94ff.). Als Grund für diese Korrelation gilt die Tatsache, dass sich die Effizienz personengebundene Dienstleistungen nicht beliebig weit steigern lässt. Ab einem gewissen Punkt führen Effizienzgewinne bei z.B Sorge- oder Gesundheitsarbeit zwangsläufig zu einer verminderten Qualität der entsprechenden Leistungen (vgl. zum Beispiel des Gesundheitswesens auch: Engartner 2016, 177-202). Allerdings müssen in der aktuellen Situation angesichts einer generellen Tendenz des stetigen Lohnanstieges auch die Löhne von Beschäftigten, die im Dienstleistungssektor arbeiten, steigen, damit weiterhin genügend Personen dazu bereit sind, diese Tätigkeiten zu ergreifen bzw. auszuüben. Dem Wohlfahrtsstaat wohnt also bereits ein Tendenz zum ständigen Wachstum inne. Wirtschaftswachstum (und damit steigende Einnahmen des Staates) ist bisher das Mittel der Wahl, um die Expansion des Wohlfahrtsstaates zu finanzieren.
4. Lösungsansätze und Perspektiven für einen PostwachstumsWohlfahrtsstaat
Nachdem die Probleme vorgestellt wurden, mit denen sich ein Wohlfahrtsstaat in seiner heutigen Konzeption in einer Postwachstumsgesellschaft konfrontiert sehen würde, soll nun erörtert werden, inwiefern Sozialpolitik transformiert werden müsste, um auf die veränderten Gegebenheiten angemessen reagieren zu können bzw. Entwicklungen zu einer Postwachstumsgesellschaft zu unterstützen.
4.1 Postwachstum mit und nicht gegen den Staat
4.1.1 Gegenseitige Befruchtung von „Bottom-Up“ und „Top-Down“
Die von Wachstumskritiker*innen immer wieder proklamierte Transformation von unten nach oben, lässt zweierlei Faktoren außer acht. Erstens sind es nicht allein Kund*innen bzw. Individuen, die zum Funktionieren des Kapitalismus beitragen. Darüber hinaus existieren ebenfalls Unternehmen und nicht zuletzt auch staatliche Institutionen, ohne deren konformes Verhalten eine Wachstumslogik ebenfalls zusammenbrechen würde (Ekardt 2017, 55). Zweitens erscheint es äußerst fragwürdig, ob Mikropraktiken wie Umsonstläden, freie Reparaturwerkstätten oder genossenschaftlich organisierte Landwirtschaftsprojekte allein wirklich das Potenzial haben, eine gesamtgesellschaftliche Transformation herbeizuführen. Ohne sagen zu wollen, dass diese Praktiken obsolet seien, erscheint es doch plausibler, dass sie „unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen ein gesellschaftliches Minderheitenprogramm“ (Lessenich 2014, 566) bleiben. Unter den momentanen Gegebenheiten erscheint folglich der Staat als derjenige, ohne den eine Umgestaltung der Ökonomie nicht gelingen kann. Nun ist es sicherlich utopisch sofort einen radikalen Umbau ebenjener zu erwarten, jedoch sind erste kleinere Schritte auch unter kapitalistischen Vorzeichen keineswegs ausgeschlossen. So wäre etwa die heutige Allgegenwärtigkeit von Windkraftanlagen in Deutschland schwer vorstellbar ohne das Erneuerbare- Energien-Gesetz (EEG), das aus einem Nischenprojekt eine stabile Alternative zu fossilen Brennstoffen geformt hat. Auch wenn es sich hierbei lediglich um eine Orientierung zum „grünen“ Wachstum hin handelte und der Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft wohl ungleich schwieriger zu bewerkstelligen sein wird, zeigt das Beispiel des EEG doch, dass gesellschaftliche Veränderungen auch von Makrostrukturen angestoßen werden können.
4.1.2 Ausrichtung am Suffizienzprinzip
Besonders viele Anknüpfungspunkte für staatliches Handeln im Rahmen der gegebenen natürlichen Grenzen bietet wahrscheinlich der Begriff der Suffizienz. Im Gegensatz zu seinem Gegenstück, der Effizienz (mehr Output bei weniger Input), erkennt dieser nämlich ebenjene Grenzen an. Daraus wird anschließend abgeleitet, dass sich ein Dasein auf dieser Welt an einem angemessenen Maß an z.B. Konsum aber auch technischem Fortschritt orientieren sollte. Dies geht natürlich mit einer normativen Komponente einer Gesellschaft des „Weniger“ einher. Suf- fizienzpolitiken könnten in diesem Sinne etwa das Auslaufen lassen von Subventionen für den Abbau fossiler Brennstoffe oder ein Genehmigungsstopp für den Bau von großen Tiermastanlagen sein. Interessanterweise findet das Prinzip der Suffizienz heutzutage vor allem in der Sozialpolitik Anwendung. Diese haben allerdings eher einen repressiven als emanzipatorischen Charakter (Winterfeld 2017, 67). So empfiehlt etwa ein Ratgeber für Empfänger*innen von Arbeitslosengeld-II, man möge sich doch einen Einkaufszettel vor dem Einkaufen schreiben und auch wirklich nur das kaufen, was dort aufgeschrieben wurde (Broschüre 2020, 79). Die hier dargestellte Logik zielt also darauf ab, mit dem Vorhandenen auszukommen. Die Alternative wäre in diesem Fall die Bezüge der Empfänger*innen zu erhöhen. Nun kann man sich sicherlich nicht zu Unrecht fragen, ob es nicht sinnvoller ist, suffizientes Handeln von finanziell besser gestellten Personen einzufordern. Eine dies bewirkende Maßnahme wäre etwa eine Deckelung von Gehältern und Unternehmensgewinnen. Alles, was über eine gewisse Grenze hin- aus (z.B. ein bestimmtes Vielfaches eines Grundeinkommens; vgl. hierzu Abschnitt 3.2) erwirtschaftet werden würde, würde dann dem Staat zufallen, sodass die „überschüssigen“ Gewinne der Gesellschaft als Ganzes zugute kommen. Die Festsetzung einer solchen Obergrenze wäre deshalb suffizient, weil sie Individuum und Unternehmen vom Zwang des unendlichen Wachstums befreit. Es ergibt sich schlicht kein individueller Mehrwert mehr, nach immer mehr Gehalt bzw. Gewinn zu streben, da man selbst nichts mehr davon hat. Insofern würden solche politischen Maßnahmen wohl stark zu einer Entschleunigung der Gesellschaft beitragen.
[...]
1Der eher unübliche Terminus des „quartären Sektors“ bezieht sich auf eine weitere Ausdifferenzierung des tertiären Sektors innerhalb der „Drei-Sektoren-Hypothese“, die menschliche Erwerbsarbeit in drei Hauptkategorien unterteilt. In Anlehnung an Kenessy (1987) beinhaltet der quartäre Sektor u.a. alles Wohlfahrtsstaatliche.
2 Da dieser von Opielka (2017, 142) vorgeschlagene Begriff weniger wertend erscheint, wird er im weiteren Verlauf dieser Hausarbeit beibehalten.