Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob es für die Bundesrepublik Deutschland nicht sinnvoll wäre, Sabbatical als sozial-politische Aufgabe zu diskutieren. Die vorliegende Hausarbeit soll dabei einen kurzen Einblick über einige Hintergrundinformationen, Theorien und Überlegungen bieten, die als geeignet und relevant erscheinen, um diese Frage zu diskutieren.
Dafür werde ich zunächst auf die Ursprünge des Sabbaticals eingehen und auf einige seiner überlieferten Bedeutungen, um dann einen Einblick zu geben, wie sich die moderne Idee des Sabbaticals davon unterscheidet. Als nächstes werde ich Alexander Rüstows Grundprinzipien über den Staat und sein Verhältnis zur Wirtschaft skizzieren und kritisch ergänzen. Dann werde ich seine Grundgedanken um die des Sabbaticals erweitern. Darauf wird eine Gegenüberstellung folgen, in der ich einige Pro- und Kontra-Argumente zur Auszeit umreißen werde. Im Fazit werden schließlich die wichtigsten Aussagen der Hausarbeit zusammengefasst und es wird ein vorläufiges Ergebnis präsentiert werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Ursprung und ursprüngliche Bedeutungen des Sabbaticals und seine heutige Gestalt
Rüstows Grundideen zum Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft
Erweiterung der Grundideen Rüstows um die des Sabbaticals
Abwägung: Pro und Kontra Sabbatical
Fazit
Literatur- und Quellenverzeichnis
Einleitung
2013, im Rahmen meines Studiums, hörte ich zum ersten Mal von Sabbatical, worunter in der Wirtschaft ein Langzeiturlaub oder ein Sonderurlaub für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstanden wird (vgl. Bartscher (o.J.): S. 1). Häufig findet man auch die Bezeichnung „Auszeit vom Job“ (vgl. Hess (2009): S. 3, Suche durch Google mit den Begriffen „Auszeit vom Job“ am 03.08.2013).
Durch Recherchieren entdeckte ich, dass die Idee bezüglich des Sabbaticals aus den USA kommt und dort ursprünglich von den Universitäten für ihre Lehrkräfte gedacht war. Inzwischen hielt dieses Angebot (nicht nur für Professorinnen und Professoren) Einzug in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Rieder (2005): S. 1, vgl. Redmann/Goll (2010): S. 1). Außerdem erfuhr ich, dass es verschiedene Begriffe für Sabbatical gibt. So spricht man bei einem „Langzeiturlaub“ von mindestens zwölf Monaten von einem Sabbatjahr und bei einem Zeitraum von drei bis zwölf Monaten von einem Sabbatical (vgl. Hess (2009): S.19. 20). Der Einfachheit halber werde ich in der vorliegenden Hausarbeit nur den Begriff „Sabbatical“ und Umschreibungen dafür verwenden, wenngleich damit auch ein Sabbatjahr gemeint sein kann.
Zwar sind in Deutschland rechtliche Grundsätze für die Auszeit festgelegt und nach diesen kann theoretisch jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer eine Ruhezeit in Anspruch nehmen, aber je nach Profession gelten unterschiedliche Regeln (vgl. Hess (2009): S. 19. 20). Zudem gibt es hierzulande keinen Rechtsanspruch auf ein Sabbatical (vgl. TVöD Office Professional (o.J.): S. 1). Darüber hinaus stellte ich fest, dass hierzulande vor allem zwei Modelle praktiziert werden um ein Sabbatical zu nehmen: Zum einen die Variante, bei welcher man im Vorfeld der Auszeit so viel arbeitet, dass man sie sich nehmen kann (Zeitsparkonto) und zum anderen die, bei der man während der freien Zeit auf einen Teil seines Gehalts verzichtet (vgl. Rieder (2005): S. 1). Dabei – so dachte ich mir – müsste es zu Ungleichheiten kommen, da nicht alle die Möglichkeit für ein Zeitsparkonto haben (z.B. weil ein Betrieb das nicht anbietet oder Menschen dies aus privaten Gründen nicht möglich ist, da sie z.B. ein pflegebedürftiges Familienmitglied versorgen) und nicht alle so viel verdienen, dass sie während einer solchen Pause auf ihr Gehalt verzichten können. Des Weiteren führen die uneinheitliche Regelungen, wie und unter welchen Bedingungen ein Sabbatical durchgeführt werden kann (z.B. in Bezug auf eine Garantie des Arbeitsplatzes) (vgl. Rieder (2005): S. 3) zu Ungleichheiten, nicht nur unmittelbar auf die Auszeit, sondern auch auf die Gestaltung eines weiteren beruflichen Werdegangs. Somit werden bestehende soziale Unterschiede u.U. verstärkt. Dies führt mich zu der Fragestellung, ob es für die Bundesrepublik Deutschland nicht sinnvoll wäre, Sabbatical als sozialpolitische Aufgabe zu diskutieren. Die vorliegende Hausarbeit soll dabei einen kurzen Einblick über einige Hintergrundinformationen, Theorien und Überlegungen bieten, die mir dafür als geeignet bzw. relevant erscheinen um diese Frage zu diskutieren.
Dafür werde ich zunächst auf die Ursprünge des Sabbaticals eingehen und auf einige seiner überlieferten Bedeutungen, um dann einen Einblick zu geben, wie sich die moderne Idee des Sabbaticals davon unterscheidet. Als nächstes werde ich Alexander Rüstows Grundprinzipien über den Staat und sein Verhältnis zur Wirtschaft skizzieren und kritisch ergänzen. Dann werde ich seine Grundgedanken um die des Sabbaticals erweitern. Darauf wird eine Gegenüberstellung folgen, in der ich einige Pro- und Kontra-Argumente zur Auszeit umreißen werde. Im Fazit werden schließlich die wichtigsten Aussagen der Hausarbeit zusammengefasst und es wird ein vorläufiges Ergebnis präsentiert werden.
Ursprung und ursprüngliche Bedeutungen des Sabbaticals und seine heutige Gestalt
Unter diesem Gliederungspunkt werden der Sabbat, das Sabbatjahr (in diesem Fall ist im Gegensatz zur Einleitung das biblische gemeint) und das Jubeljahr erläutert, da alle drei zusammenhängen und die moderne Idee des Sabbaticals speisen. Außerdem wird – wie bereits in der Einleitung erwähnt – eine Auswahl ihrer ursprünglichen Bedeutungen ansatzweise beleuchtet. Dabei wird ein Schwerpunkt auf den Sabbat gelegt, da Gedanken und Bestimmungen, die ihn betreffen zum größten Teil auf das Sabbatjahr und das Jubeljahr übertragen werden können. Dann werde ich darauf eingehen, was es mit der modernen Konzeption des Sabbaticals auf sich hat. Im Zuge dessen werden einige Aspekte, die ich für zentral halte genannt, in der sich die heutige Form von den alttestamentlichen Bestimmungen und Gedanken unterscheidet.
In Exodus 20,8-11 findet sich zum ersten Mal im Pentateuch (also den fünf Bücher Moses) das Gebot an den Sabbattag zu denken und ihn zu heiligen (vgl. Vers 8; ein Teil der zehn Gebote, die Gott nach jüdischem und christlichen Glauben seinem auserwählten Volk, dem Volk Israel, gab). Das sollte dadurch geschehen, indem der Hausherr an diesem Tag ruhte und keine Arbeit verrichtete; weder er noch die, welche zu seiner Hausgemeinschaft bzw. Familie gehörten (dazu zählen auch seine Knechte und Mägde) noch seine Tiere (vgl. Vers 10). In Vers elf folgt die Begründung: „Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und er ruhte am siebten Tag; darum hat der HERR den Sabbattag gesegnet und geheiligt“ (Exodus 20,11 zitiert nach Christliche Literaturverbreitung (2006): John MacArthur Studienbibel. Schlachter Version 2000). In der Parallelstelle dazu, Deuteronomium 5,12-15 wird als Begründung dafür, dass der Mensch und seine Familie an diesem Tag nicht arbeiten sollen auf die Versklavung des Volkes Israel in Ägypten und seine Befreiung durch Gott hingewiesen (vgl. Vers 15). Außerdem sollten die Nutztiere und die Menschen, die für ihren Hausherrn arbeiteten sowie die Fremden Zeit haben, sich erholen zu können. Dies ist ein weiterer Grund für das Gebot der Sabbatruhe (vgl. Exodus 23,12).
Abraham J. Heschel, amerikanischer Rabbiner und jüdischer Theologe, schreibt dazu in seinem Buch „Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen“, dass die Zeit ein wesentlicher Teil der menschlichen Existenz ist. Er warnt davor, lediglich nach Ausdehnung des Raumes – dazu gehört für ihn auch das Streben nach Besitz und Macht – zu trachten, da es für den Menschen mehr gibt als dieses. Seiner Auffassung nach ist der Geist des Menschen von den Dingen des Raumes eingenommen, weshalb es wichtig ist, Zeit für Geistiges und Geistliches zu haben. Allerdings, so behauptet er, nutzen wir die Zeit lediglich dafür, um Raum zu erobern. Ihm geht es nicht darum, Habe und Macht zu verachten, sondern auch die Wirklichkeit der Zeit zu berücksichtigen (vgl. Heschel (1990): S. 1.2, Klappentext). Er schreibt außerdem, dass Gott nicht an den Raum gebunden ist, sondern in der Zeit zu finden ist (vgl. Heschel (1990): S. 3). Der jüdische Theologe erklärt, dass das Judentum eine Religion ist, welche die Heiligung der Zeit als Ziel hat, und dass die Bibel mehr an der zeitlichen Perspektive interessiert ist als am Raum (vgl Heschel (1990): S. 5.6). Für das jüdische Volk ist Gott ein Gott der in der Geschichte (die Betonung liegt dabei auf der Zeitperspektive) handelt: Er erschuf die Welt und er befreite das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten. An beide Ereignisse soll am Sabbattag gedacht werden (s.o.). Aber am Sabbat sind auch andere Komponenten von Wichtigkeit: Er ist ein Tag zur Reue über die Sünde und zur Umkehr zu Gott und ein Tag zum Feiern (vgl. Heschel (1990): S. 6.7.9). Heschel bezeichnet den Sabbat als ein Heiligtum der Zeit. Nicht nur, weil es das „höhere Ziel geistigen Lebens ist (…) heilige Augenblicke zu erleben“ (Heschel (1990): S. 4), weil der Mensch durch religiöse Erlebnisse erfährt, dass es eine geistige Gegenwart gibt, sondern, weil Gott selbst den Sabbat segnete und heiligte (vgl. Genesis 2,3, Heschel (1990): S. 7.8).
Die Bestimmungen zum Sabbatjahr finden sich in Exodus 23,10.11 sowie in Leviticus 25,1-8. Es sollte jeweils im siebten Jahr gefeiert werden und man durfte in diesem Jahr weder sähen, noch ernten, noch sich um seinen Weinberg kümmern (vgl. Leviticus 25,1-5). Denn das Sabbatjahr sollte ein Jahr der Ruhe und Erholung für das Land sein, damit es sich regenerieren konnte. Dabei durften alle Menschen als auch die Nutztiere und die wilden Tiere von dem essen, was wild wuchs (vgl. Leviticus 25,6.7 und MacArthurs Erklärung zu Leviticus 25,1-7 in Christliche Literatur-Verbreitung (2006): John MacArthur Studienbibel Schlachter Version 2000). In Exodus 23,11 findet sich zum Sabbatjahr die Begründung, dass die Erträge des Brachlandes (inklusive der Weinberge und Ölbaumgärten) für die Armen des Volkes Israels gedacht waren.
An die Aufforderung, das Sabbatjahr zu halten, war die Zusage Gottes geknüpft, im sechsten Jahr seinen Segen zu geben, sodass das Volk Ernte für drei Jahre haben wird und sie daher bis hinein ins neunte Jahr davon essen können (vgl. Leviticus 25,18-22). Mit dieser Verheißung wird - wie beim Sabbat – der Blick in besonderer Weise auf Gott als den Versorger, Geber und Erhalter aller Dinge (also als der Handelnde) gelenkt. Außerdem findet sich darin die (theologische) Aussage, dass es sich lohnt Gott zu vertrauen, da er Wort hält (vgl. Mac Arthurs Erklärung zu Leviticus 25,18-22 in Christliche Literatur-Verbreitung (2006): John MacArthur Studienbibel Schlachter Version 2000)1.
Immer wenn sieben Sabbatjahre vollendet waren sollte das Jubeljahr - auch Halljahr genannt - (vgl. Leviticus 25,8-55;27,17-24) im fünfzigsten Jahr begangen werden (vgl. Leviticus 25,8-10). Es war dafür gedacht, dass jeder2 sein Eigentum zurückerhalten sollte, der es aus es aus (wirtschaftlicher) Not verkaufen musste (vgl. Leviticus 25,10,14-16,25-34) und jede und jeder zu seiner Familie zurückkehren konnte, die oder der sich aufgrund einer Notlage verkaufen musste oder verkauft wurde (vgl. Leviticus 25,10,39-43,50-55). Hans G. Nutzinger, Professor für Theorie privater und öffentlicher Unternehmen, sieht in den Geboten zum Schuldenerlass ein Gebot zur Armutsvermeidung und ein Solidaritätsprinzip der jüdischen Gesellschaft als Ausdruck seines Bundes mit Gott (vgl. Nutzinger (2007): S. 139-142). Außerdem durfte in diesem Jahr – wie im Sabbatjahr - weder gesät noch geerntet werden, noch der Weinberg gepflegt werden (vgl. Leviticus 25,11.12). Zudem galt es in jenen feierlichen Jahren für den Besitz des Herrn (damit ist u.a. die Stiftshütte, bzw. später der Tempel gemeint) zu sorgen (vgl. MacArthurs Erklärung zu Leviticus 25,1-55 in Christliche Literatur-Verbreitung (2006): John MacArthur Studienbibel Schlachter Version 2000).
Sowohl dem Sabbat, als auch dem Sabbatjahr und dem Jubeljahr ist es gemein, dass sie - gemäß der Überlieferung des Pentateuchs – feste, regelmäßige Bestimmungen (sowohl inhaltlich als auch zeitlich) Gottes für sein Volk und für die, die bei ihnen wohnten und nicht zum Volk gehörten, waren. Es gab davon keine Ausnahme. Alle drei Feierlichkeiten sollten zudem den Blick auf Gott als Urheber und Akteur lenken (s.o.).
Die Idee „Sabbatical“ kommt im Grunde zwar aus der Bibel und ist an das hebräische Wort „Sabbat“ angelehnt (vgl. Hess (2009): S. 19), aber die moderne Form, fußt auf anderen Gedanken und Gründen und ist von den ursprünglichen Bestimmungen und Bedeutungen des Sabbats entfernt: Zum einen liefert der Wunsch nach einem Ausstieg - aus welchem Anlass heraus auch immer (vgl. Hess (2009): S. 9) - einen Grund aber auch wirtschaftliche Interessen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber (vgl. Rieder (2011): S. 1.2). Zwar träumen laut Hess viele in der BRD von einem Ausstieg, aber wenige von ihnen setzen dies in die Tat um. Hess nennt verschiedene Ängste, wie z.B. die Sorge darum, wie das Umfeld wohl reagieren wird als Auslöser dafür (vgl. Hess (2009): S. 9). Aber wie bereits erwähnt, scheinen die Möglichkeiten für ein Sabbatical ein marginales Phänomen zu sein – wegen Gründen, die in der Einleitung zur Sprache kamen. Bisher haben noch nicht alle eine Chance zur Teilhabe an der Umsetzung einer längeren Freistellung von der Arbeit – wenn man die Elternzeit nicht als ein Sabbatical deklarieren möchte (vgl. Hess (2009): S. 9). Somit besteht ein Unterschied zu den alttestamentlichen Regelungen darin, dass ein Sabbatical nicht für alle möglich ist, was aber auch heißt, dass niemand, im Gegensatz zu damals (regelmäßig) dazu verpflichtet ist. Außerdem gibt es - wie bereits in der Einleitung festgehalten – keine einheitlichen Regeln, die den Inhalt oder die Dauer der Auszeit bestimmen würden (vgl. Rieder (2005): S. 3). Darin findet sich ein weiterer Unterschied zu den an das ganze Volk Israel gerichteten Bestimmungen aus dem Pentateuch. Eine weitere Differenz liegt in der theologischen Sinnhaftigkeit des Sabbaticals. Im Alten Testament von zentraler Bedeutung, ist sie heute von keiner oder geringer Relevanz. So spielt die religiöse Komponente z.B. eine Rolle, wenn jemand aus religiöser Überzeugung ein Jahr frei von seiner Arbeit haben möchte. Diese Gründe, die an die Stelle der theologischen Prinzipien getreten sind, werden unter dem Abschnitt „Abwägung: Pro und Kontra Sabbatical“ um weitere Gesichtspunkte bereichert und diskutiert. Aufgrund der hier genannten Ansätze, lässt sich für die Sozialpolitik der Diskussionspunkt ableiten, wie es möglich wäre, Sabbatical für alle zu ermöglichen – wenn der Staat sich Sabbatical zu einer Aufgabe machen wollte.
Rüstows Grundideen zum Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft
Alexander Rüstows Grundprinzipien zum Verhältnis vom Staat zur Wirtschaft sind besonders geeignet, die eingangs gestellte Frage zu erörtern, weil er sich durch sie zur Freiheit der Menschen bekennt (vgl. Rüstow (1950: S. 8-10). Und das obwohl er in Einzelfällen durchaus patriarchale Vorgehensweisen des Staates gegenüber dessen Bürgerinnen und Bürger empfiehlt, wenn es um das Erreichen überwirtschaftlicher Werte wie Familie, Religion, Kultur geht (vgl. Rüstow (1960): S. 12-15). Seine Grundposition geht von der Notwendigkeit aus, dass in einer Marktgesellschaft die Chancengleichheit gesichert ist (vgl. Rüstow (1960): S. 10). Dass der Staat die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft gestalten soll, damit die Bürger und Bürgerinnen ein menschenwürdiges Leben führen können (vgl. Rüstow (1960): S. 10.12) ist ein weiteres zentrales Anliegen. Im Folgenden werden die verschiedenen Punkte mit kritischen Anmerkungen genauer ausgeführt. Dabei werde ich seine am 29. Juni 1960 gehaltene Rede „Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit“ (Rüstow (1960): S. 7-16) der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft zugrunde legen:
Rüstow (1885-1960, Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft – vgl. Bergheim (2011): S. 1. 2) war Anhänger und Vertreter des Neoliberalismus (vgl. Kubon-Gilke/Bender (2013): S. 26, Rüstow (1960): S. 7). Er sieht den Unterschied zwischen Neoliberalismus und dem reinen Wirtschaftsliberalismus, den er als Paläoliberalismus3 bezeichnet, darin, dass der Wirtschaftsliberalismus im Gegensatz zum Neoliberalismus die Wirtschaft und den Markt als Zentrum „menschlicher Dinge“ (Rüstow (1960): S. 7) sähe. Seiner Auffassung nach betont der von ihm als Gegenentwurf formulierte Neoliberalismus hingegen überwirtschaftliche Werte, denen die Wirtschaft dienen soll. Unter diesen Werten, die er für bedeutender als Wirtschaft ansieht, (vgl. Rüstow (1960): S. 7.8) versteht er Werte wie „Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das Religiöse, das Ethische, das Ästhetische, kurz gesagt, das Menschliche, das Kulturelle überhaupt“ (Rüstow (1960): S. 8). Er stellt klar, dass die Soziale Marktwirtschaft die Gesellschaft als Ganze im Blick haben und nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft fokussiert sein sollte. Da die überwirtschaftlichen Werte seiner Meinung nach nur durch die Wirtschaft bestehen können, da diese die materielle Grundlage jener Werte bildet, ist die Wirtschaft das Fundament für ein menschenwürdiges Leben. Da die überwirtschaftlichen Werte allerdings wichtiger als die Wirtschaft selbst sind, muss sich die Wirtschaft ihren Forderungen stellen und den Zweck zur Sicherung der materiellen Existenz erfüllen. Deshalb muss die Wirtschaft den überwirtschaftlichen Werten entsprechend gestaltet werden. Dies ist laut Rüstow letztlich nur in der (sozialen) Marktwirtschaft möglich, weil sie (die Gesellschaft als Ganzes im Blick hat und in ihr die Freiheit der Wirtschaft und der agierenden Menschen gegeben ist. Seiner Auffassung nach ist die Freiheit der Wirtschaft unabdingbar für die politische und die menschliche Freiheit und dient bzw. fördert somit die Würde des Menschen (vgl. Rüstow (1960): S. 8). Im Folgenden legt er weiter dar, warum die Marktwirtschaft seiner Auffassung nach das beste Wirtschaftssystem ist und am förderlichsten für die überwirtschaftlichen Werte ist: Sie ist am produktivsten und eine Steigerung der Produktivität mündet schließlich darin, dass das Existenzminimum gesichert wird. Die Sicherung des Existenzminimums, entspricht einer überwirtschaftlichen, einer sozialen und ethischen Forderung. Die wirtschaftliche Produktivität soll also so lange gesteigert werden, bis ein menschenwürdiges Leben für alle – auch für die Bewohner und Bewohnerinnen der sogenannten Entwicklungsländer - möglich ist (vgl. Rüstow (1960): S. 8-10). Daraus folgt die „Forderung nach sozialpolitischem Engagement des Staates“ (Kubon-Gilke/Bender (2013): S. 27). Hierbei muss überlegt werden (von Seiten des Sozialstaates bzw. von Seiten der Sozialpolitik), wie das soziokulturelle Existenzminimum definiert und bestimmt ist und was unter einem menschenwürdigen Leben verstanden wird. Dabei muss neben der Chancengleichheit auch diskutiert werden, wie und in welchem Ausmaß die von der Wirtschaft erworbenen Mittel umverteilt werden sollten, damit für alle ein Leben in Würde möglich ist. Darüber hinaus gilt es abzuwägen, in welcher Form die Mittel den Gesellschaftsmitgliedern zur Sicherung des Existenzminimums oder anderen Menschen, die Unterstützung durch die Gesellschaft benötigen, zur Verfügung gestellt werden sollen. Diese Gedanken sollten in der Sozialpolitik bedacht werden und von ihr entsprechend umgesetzt werden. Denn indem der Staat Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik betreibt und ökonomische Mittel an bedürftige Menschen und Schichten verteilt, gestaltet er Rahmenbedingungen, um ein menschenwürdiges Leben für die Bürger und Bürgerinnen zu ermöglichen (vgl. Rüstow (1960): S. 12). Er wirkt also auf gesellschaftliche, soziale Bedingungen und Verhältnisse ein und kommt somit der Forderung nach sozialpolitischem Engagement nach (vgl. Kaufmann (2009): S. 134). Allerdings sollte dabei beachtet werden, inwieweit und ob der Staat in das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger eingreifen darf und in welcher Form die (durch die Wirtschaft) erworbenen Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen. Denn Rüstow betont zum einen die Freiheit und die Würde des Menschen (vgl. Rüstow (1960): S. 8-10), zum anderen wünscht er sich paternalistische Maßnahmen im Rahmen der von ihm plädierten Vitalpolitik des Staates. Dabei wird dem Staat implizit unterstellt, dass er weiß, wie sich der Mensch in bestimmten Situationen fühlt (oder fühlen sollte) und was für Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger am förderlichsten ist. Außerdem wird es im Rahmen der Vitalpolitik zur Aufgabe des Staates erklärt, auf die überwirtschaftlichen Werte aller Menschen zu achten, die auf öffentliche Hilfe angewiesen sind (vgl. Rüstow (1960): S. 12). So sollen z.B. Mütter kleiner Kinder „eine Art verlängerte Stillprämie“ (Rüstow (1960): S. 14) bekommen, damit sie zu Hause bei ihren kleinen Kinder bleiben und nicht aus finanziellen Gründen arbeiten gehen müssen. Am liebsten hätte er diese Idee mit einem Arbeitsverbot für Mütter kleiner Kinder kombiniert, damit diese auf alle Fälle für ihre Kinder da sind, um diese mit mütterlichen Liebe zu umsorgen und somit den Kindern und damit auch der Gesellschaft zu nützen. Somit ist überwirtschaftlichen Werten – in dem Fall dem Wohl des Kindes und der Gesellschaft – gedient (vgl. Rüstow (1960): S. 14). In diesen Gedankengängen wird die Individualität und Autonomie der betroffenen Bürger und Bürgerinnen sichtbar eingeschränkt (das konkrete Beispiel ist wohl den zeitlichen Umständen zuzuschreiben). Generell gilt es zu berücksichtigen und zu würdigen, dass es in einer Demokratie (sowohl damals, als Rüstow seine Rede hielt, als auch heute, wenngleich auch in anderer Weise) einen Pluralismus von Weltanschauungen und Wertevorstellungen gibt (vgl. Gärtner (2012): S. 52). Zudem sollten (patriarchale) Eingriffe des Staates überprüft werden, ob sie angemessen sind, die gewünschte Wirkung haben und ob und inwieweit der Staat tatsächlich die Freiheit der Individuen eingrenzen darf, u.a. wenn es um die Verteilung (öffentlicher) Gelder geht. Ferner ist es angebracht, die Ambitionen hinter staatlichem Eingreifen kritisch zu überprüfen. All dies sollte in der Sozialpolitik diskutiert werden, falls es zu der Überlegung kommen sollte, Sabbatical zu einer sozialpolitischen Aufgabe zu machen.
[...]
1 In der Realität wurden sie nicht gehalten (vgl. Mac Arthurs Erklärung zu Jeremia 25,11) in Christliche Literatur-Verbreitung (2006): John MacArthur Studienbibel Schlachter Version 2000).
2 Hier wird bewusst ausschließlich die maskuline Form verwendet, da die Güter in der Regel im Besitz des männlichen Familienoberhauptes waren (vgl. z.B. Numeri 27,1-11).
3 Paläoliberalismus bedeutet so viel wie veralteter Liberalismus (vgl. Wermke/Kunkel/Scholze-Stubenrecht (2010): S. 757).