Die Entwicklung des Identitätsbegriffs innerhalb der formalen Logik wird in der vorliegenden Arbeit exemplarisch anhand von Systemen untersucht, die zum einen von GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646 - 1716) und zum anderen von CHARLES SANDERS PEIRCE (1839 - 1914) entwickelt und beschrieben wurden. Die Auswahl dieser beiden Denker wurde motiviert durch eine Anmerkung von DON D. ROBERTS in dessen Buch "The Existential Graphs of Charles S. Peirce". ROBERTS stellt fest, dass in einer Arbeit von PEIRCE eine moderne Definition der Identität angeben wird. Die Fragen, ob und inwieweit diese Kritik tatsächlich gerechtfertigt ist und welche grundsätzlichen Problemstellungen der angesprochenen Konfusion systematisch zugrunde liegen, bilden den roten Faden der vorliegenden Arbeit.
Die Bedeutung und die Relevanz des Identitätsbegriffs im Rahmen der Erkenntnistheorie wird zunächst im ersten Kapitel dieser Arbeit kurz erörtert. Im zweiten Kapitel werden einige Probleme dargestellt, die im Zusammenhang mit dem Identitätsbegriff in der Geschichte der Philosophie und speziell in der traditionellen Logik behandelt wurden. Einige grundlegende Aspekte formaler Systeme und deren Syntax und Semantik sind Thema des dritten Kapitels. Im vierten Kapitel werden einige der logischen Kalküle, die von LEIBNIZ entwickelt wurden, untersucht, wobei der Schwerpunkt auf dem sogenannten "Identitätskalkül" liegt. Die "Algebra der Logik" von PEIRCE ist der Gegenstand des fünften Kapitels. Die ebenfalls von PEIRCE eingeführten "Existential Graphs" werden im sechsten Kapitel betrachtet, wobei der Schwerpunkt auf den sogenannten Beta-Graphen liegt. Das siebte Kapitel ist zwei logischen Schlussmodi gewidmet, die mit den zuvor behandelten Systemen in unterschiedlicher Weise formalisiert werden können und die zur Veranschaulichung der zuvor herausgearbeiteten Besonderheiten der betrachteten Systeme im Hinblick auf Identitäten geeignet erscheinen. In einer kurzen Zusammenfassung wird die Eingangsfrage abermals aufgegriffen und ein Ausblick auf die Behandlung der Identität in moderneren logischen Entwürfen gegeben.
Inhalt
Einführung
1 Erkenntnistheoretische Betrachtungen
2 Problemgeschichte des Identitätsbegriffs
3 Syntax und Semantik formaler Systeme
4 Die logischen Kalküle von G. W. Leibniz
5 Die Algebra der Logik von C. S. Peirce
6 Die „Existential Graphs“ von C. S. Peirce
7 Kettenschluss und Modus Barbara
Zusammenfassung
Literatur
Anhang: Liste der Symbole
Einführung
Es gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten vernunftbegabter Wesen, Identität gegebenenfalls erkennen zu können und in der Lage zu sein, andere Personen über eine entsprechende Erkenntnis auch adäquat zu informieren. Es handelt sich hierbei um unentbehrliche Leistungsmerkmale jedes Denk- und Kommunikationsvermögens. Diese wichtigen Fähigkeiten reichen vom einfachen Wiedererkennen von Gegenständen, Personen oder geographischen Orten bis hin zur Formulierung abstrakter wissenschaftlicher Ergebnisse, wie zum Beispiel der Gleichheit der Gewichtskraft einer imaginären Flüssigkeitsmenge und der Auftriebskraft, die auf einen Körper wirkt, der genau diese Flüssigkeitsmenge verdrängt. Ersteres ist geradezu lebensnotwendige Orientierungsgrundlage im Zuge eines jeden Lebensvollzugs in der realen Welt. Letzteres ist jene Erkenntnis, die Archimedes (ca. 287 – 212 v. Chr.) sein sprichwörtlich gewordenes „Heureka“ ausrufen lies und die einen sehr markanten Punkt in der frühen Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften darstellt. Die Identität ist, wie die Beispiele zeigen, zunächst ein erkenntnistheoretischer, metaphysischer oder ontologischer Begriff. Unter anderem ist die Frage zu klären, ob das „Sein“ einer Entität und das „Mit-sich-selbst-identisch-sein“ ein und dasselbe sind. Ob und inwieweit der Begriff der Identität auch als ein wesentlicher Grundbegriff der Logik betrachtet werden kann oder ob eine „Theorie der Identität“ sogar als notwendiger Bestandteil jeder Logik angesehen werden muss, ist eine Frage, die auch noch in jüngerer Zeit kontrovers diskutiert wird1.
Für die formale Logik ist die Einführung spezieller Symbolsysteme, die auch als künstliche Sprachen aufgefasst werden können, und zugehöriger Kalküle, die der Methodik der Schlussfolgerungen zugrunde gelegt werden oder die für die Berechnung von Wahrheitswerten Verwendung finden, charakteristisch. Innerhalb derartiger Systeme können dem Begriff der Identität sehr unterschiedliche Rollen und somit jeweils auch ein sehr unterschiedlicher Stellenwert zukommen. Im Zuge der Entwicklung der modernen Logik wurde erkannt, dass eine rein formale Definition des Begriffs der Identität erst im Rahmen einer Prädikatenlogik mindestens zweiter Stufe möglich wird. Prädikatenlogische Systeme höherer Stufe wurden erst im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt und eingehend erforscht. Hierbei wurde u. a. festgestellt, dass in solchen Systemen die Formulierung von Aussagen möglich ist, deren Wahrheitswert, oder allgemeiner deren Gültigkeit (s. u. Kapitel 3), innerhalb des jeweiligen Systems prinzipiell nicht geklärt werden kann.
Die Entwicklung des Identitätsbegriffs innerhalb der formalen Logik wird in der vorliegenden Arbeit exemplarisch anhand von Systemen untersucht, die zum einen von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) und zum anderen von Charles Sanders Peirce (1839 - 1914) entwickelt und beschrieben wurden. Die Auswahl dieser beiden Denker wurde motiviert durch eine Anmerkung von Don D. Roberts in dessen Buch „ The Existential Graphs of Charles S. Peirce “. Roberts stellt fest, dass in einer Arbeit von Peirce eine moderne Definition der Identität angeben wird und dass hierbei die „Leibnizsche Konfusion von Verwendung und Nennung“2 vermieden wird. Die Fragen, ob und inwieweit diese Kritik tatsächlich gerechtfertigt ist und welche grundsätzlichen Problemstellungen der angesprochenen Konfusion systematisch zugrunde liegen, bilden den roten Faden der vorliegenden Arbeit.
Die Bedeutung und die Relevanz des Identitätsbegriffs im Rahmen der Erkenntnistheorie wird zunächst im ersten Kapitel dieser Arbeit kurz erörtert. Im zweiten Kapitel werden einige Probleme dargestellt, die im Zusammenhang mit dem Identitätsbegriff in der Geschichte der Philosophie und speziell in der traditionellen Logik behandelt wurden. Einige grundlegende Aspekte formaler Systeme und deren Syntax und Semantik sind Thema des dritten Kapitels. Im vierten Kapitel werden einige der logischen Kalküle, die von Leibniz entwickelt wurden, untersucht, wobei der Schwerpunkt auf dem sogenannten „Identitätskalkül“ liegt. Die „Algebra der Logik“3 von Peirce ist der Gegenstand des fünften Kapitels. Die ebenfalls von Peirce eingeführten „Existential Graphs“ werden im sechsten Kapitel betrachtet, wobei der Schwerpunkt auf den sogenannten Beta-Graphen liegt. Das siebte Kapitel ist zwei logischen Schlussmodi gewidmet, die mit den zuvor behandelten Systemen in unterschiedlicher Weise formalisiert werden können und die zur Veranschaulichung der zuvor herausgearbeiteten Besonderheiten der betrachteten Systeme im Hinblick auf Identitäten geeignet erscheinen. In einer kurzen Zusammenfassung wird die Eingangsfrage abermals aufgegriffen und ein Ausblick auf die Behandlung der Identität in moderneren logischen Entwürfen gegeben.
1. Erkenntnistheoretische Betrachtungen
Die wesentliche Voraussetzung aller Erkenntnis und allem Wissens ist „die Fähigkeit zu unterscheiden“4. „Etwas zu erkennen oder etwas zu wissen bedeutet, etwas von etwas anderem unterscheiden zu können“5. Peter Bieri bezeichnet dies als die Fähigkeit der „Diskrimination“. Das Gelingen einer Diskrimination hängt bei Wahrnehmungsprozessen vorrangig davon ab, ob das sensorische Vermögen hinreichend gut entwickelt ist, um ausreichend viele Merkmale dessen, das unterschieden und somit erkannt werden soll, zu erfassen. Im Bereich der Kommunikation muss diesem Vermögen ein hinreichend ausdifferenziertes Begriffssystem gegenüberstehen. Nun besteht die Identität in der Tatsache, dass unterschiedliche Merkmale gerade nicht erkennbar sind und nicht sprachlich ausgedrückt werden können. Die Identität ist somit ein negativer Begriff, der das Nichtvorhandensein der Unterscheidbarkeit ausdrückt. Es ist der Gegenbegriff zur „Verschiedenheit“, allerdings ist er in gewisser Hinsicht problematischer als dieser. Die Tatsache, dass zwei Entitäten verschieden sind, kann anhand einer Abweichung in nur einer einzigen Eigenschaft der betrachteten Entitäten erkannt und begrifflich erklärt werden. Der theoretische Nachweis einer Identität besteht hingegen aus einem potentiell unabschließbaren Prozess der Überprüfung einer im Allgemeinen unendlich großen Mannigfaltigkeit von Eigenschaften. Eine solche Überprüfung läuft im Grenzfall auf eine Aussage hinaus, die die Form einer Konjunktion mit unendlich vielen Gliedern aufweist, die nur durch Verwendung eines Allquantors auf eine formal endliche Form gebracht werden kann. In der Praxis findet ein solcher Überprüfungsprozess allerdings eher in einer Art und Weise statt, in der nur wenige charakteristische oder übergeordnete Merkmale bzgl. vorliegender Übereinstimmungen untersucht werden. Das Phänomen des Erkennens von Übereinstimmungen und des darauf basierenden Wiedererkennens einzelner Entitäten ist nicht gebunden an irgendeine Form von Wissenschaftlichkeit und noch nicht einmal dem Menschen vorbehalten. Selbst recht einfache tierische Lebewesen verfügen bereits notwendigerweise über die diesem Phänomen zugrundeliegenden Fähigkeiten, wobei dies auch experimentell nachgewiesen werden kann. Oft spielt hierbei eine einzelne besonders ausgeprägte sensorische Fähigkeit die Schlüsselrolle.
Die Individuen zahlreicher Tierarten können sich etwa bekanntermaßen allein auf Grundlage des Geruchs zuverlässig gegenseitig erkennen. Die eventuelle Möglichkeit einer derartigen Priorisierung einzelner Eigenschaften gegenüber der Gesamtheit aller Eigenschaften wird in den nachfolgenden theoretischen Betrachtungen nicht berücksichtigt.
2. Problemgeschichte des Identitätsbegriffs
Eine grundsätzliche philosophische Kontroverse, in der das Wesen der Identität eine wichtige Rolle spielt, wird bereits durch die gegensätzlichen Lehrmeinungen der Vorsokratiker Parmenides (ca. 520 – 455 v. Chr.) und Heraklit (ca. 520 – 460 v. Chr.) begründet. Es geht hierbei um die vermeintliche Unvereinbarkeit der Konzepte des „Seins oder Nicht-Seins“ und des „Werdens und Vergehens“. Heraklit wird der Satz „Du kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ zugeschrieben, mit dem seine Überzeugung ausgedrückt wird, dass alles in einem permanentem Wandlungsprozess begriffen sei, oder kürzer, dass „alles fließt“ (πάντα ῥεῖ). Dass ein solcher, immerwährender Wandlungsprozess einer verlässlichen Identitätsfeststellung im Wege stehen kann, wird auch in der von Plutarch (ca. 45 – 125 n. Chr.) überlieferten Geschichte vom „Schiff des Theseus“ deutlich, die durch Thomas Hobbes (1588 - 1679) derart weiter ausgearbeitet wurde, dass zusätzlich zum eigentlichen Schiff ein weiteres Schiff betrachtet wird, dass – modern gesprochen – durch die Wiederaufbereitung entsorgter Einzelteile des ursprünglichen Schiffes erst nach und nach entsteht. Offenbar erweist sich ein absoluter Identitätsbegriff als ungeeignet für die Klärung der Frage, ob oder inwiefern ein Schiff, dessen Bauteile im Laufe der Zeit sämtlich ausgetauscht wurden, oder aber ein Schiff, dass aus den im Zuge solcher Umbaumaßnahmen angefallenen Einzelteilen neu zusammengesetzt wurde, mit dem ursprünglichen Schiff identisch sind. Lösungsvorschläge für derartige Probleme werden in der jüngeren Literatur zumeist unter dem Begriff der „relativen Identität“ behandelt6. Entsprechende Ansätze können in der vorliegenden Arbeit nicht weiter untersucht werden.
Auf eine Mehrdeutigkeit des Begriffs der Identität weist bereits Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) hin. Er schreibt in der Topik: „Das Identische, um es nur in einem allgemeinen Umriß zu beschreiben, scheint drei verschiedene Bedeutungen zu haben. Wir nennen etwas identisch der Zahl oder der Art oder der Gattung nach: …“7. Tugendhat und Wolf zitieren diese Passage aus einer anderen Übersetzung, wobei sie einige Auslassungen vornehmen. Dem Zitat stellen sie die Feststellung voran, dass „[d]er Begriff der Identität […] in zwei Bedeutungen verwendet“8 wird. Dies steht offenbar im Widerspruch zum Textoriginal. Die Begriffe „Art“ und „Gattung“ sind in der Textversion von Tugendhat und Wolf zum Begriff „Spezies“ zusammengefasst. Die Unterscheidung zwischen „Art“ und „Gattung“ hängt bei Aristoteles mit der jeweiligen Betrachtungsrichtung innerhalb eines zugrundeliegenden Begriffsbaumes zusammen. Unter einem Begriffsbaum oder einer Dihairesis (διαίρεσις) wird ein baumartiges System verstanden, in dem Oberbegriffe (= Gattungen) und Unterbegriffe (= Arten) hierarchisch angeordnet sind. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dieser Unterscheidung und der Frage nach der Intension und der Extension eines Begriffs, die bekanntlich tatsächlich in der Geschichte der Logik immer wieder zu „Konfusion“ geführt hat. An anderer Stelle stellt Aristoteles klar, dass die Identität „im Sinne von der Zahl nach identisch“9 als der eigentliche Sinn dieses Wortes aufzufassen ist. Die zentrale Bedingung für Identität in diesem engen Sinne formuliert er folgendermaßen: „Was von dem einen, muss von dem anderen, und wovon das eine, von dem muss auch das andere ausgesagt werden“10. Durch diese etwas umständliche Formulierung, in der das Verb „aussagen“ implizit einmal aktiv und einmal passiv zu interpretieren ist, werden eine intensionale und eine extensionale Version der Aussage zusammengefasst.
3. Syntax und Semantik formaler Systeme
Formale Systeme spielen eine grundlegende Rolle in vielfältigen Bereichen der Mathematik, der Informatik und der Philosophie, wobei dem Feld der Logik in allen diesen Disziplinen in je eigener Art und Weise besondere Relevanz zukommt. Diese Multidisziplinarität hat zur Folge, dass die Nomenklatur zu diesem Thema insgesamt sowohl recht umfangreich als auch unübersichtlich und uneinheitlich ist. Im Folgenden werden zunächst nur einige konkrete Grundbegriffe eingeführt, um auf diese im weiteren Textverlauf Bezug nehmen zu können. In einem sehr weitgefassten Sinne kann all jenes als formales System angesehen werden, das die folgenden Merkmale aufweist:
- Es steht ein in der Regel endlicher „Zeichenvorrat“ zur Verfügung.
- Es gibt eine evtl. unendlich große Menge „wohlgeformter Formeln“, die ausschließlich aus jeweils endlich vielen Elementen des Zeichenvorrats zusammengesetzt sind und die auf der Basis eines endlichen Katalogs vorgegebener „Bildungsregeln“ aus diesen erzeugt werden können.
- Es gibt eine unter Umständen leere Menge wohlgeformter Formeln, denen a priori die Eigenschaft der „Gültigkeit“ zugeschrieben wird. Die Elemente dieser Menge, also jene gültigen Formeln, die keiner Ableitung (s. u.) bedürfen, werden „Axiome“ des Systems genannt.
- Es gibt einen endlichen Katalog von „Ableitungsregeln“, die es gestatten, ausgehend von bekannten gültigen Formeln weitere gültige Formeln zu erzeugen. Diese Regeln sind so geartet, dass jede abgeleitete gültige Formel grundsätzlich auch eine wohlgeformte Formel ist.
Der Zeichenvorrat des Systems wird mitunter auch als dessen „Alphabet“ bezeichnet. Diese Bezeichnung wird im Folgenden bewusst vermieden, da hierdurch der falsche Eindruck entstehen kann, dass nur solche Systeme behandelt werden können, deren Formeln als Zeichenketten dargestellt werden können, die „Wörter“ oder „Sätze“ repräsentieren. Tatsächlich können auch ganz andersartige Systeme, etwa solche, die auf zweidimensionalen graphischen Darstellungen beruhen, durchaus der oben angegebenen Beschreibung entsprechen. Statt von „gültigen Formeln“ wird in der Literatur häufig von „Theoremen“ oder „Wahrheiten“ gesprochen und die „Ableitungsregeln“ werden oft als „Schlussregeln“ bezeichnet. Problematisch ist, dass durch die uneinheitliche Verwendung all dieser Bezeichnungen mitunter die Trennlinie zwischen der Syntax und der Semantik der untersuchten Systeme verwischt wird. Es sei daher ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die bisher in diesem Abschnitt angesprochenen Begriffe sämtlich ausschließlich der Syntax formaler Systeme zugerechnet werden sollen.
Ein konkretes formales System kann so geartet sein, dass seine gültigen Formeln jeweils derart interpretierbar sind, dass sie in Sätze einer natürlichen Sprache übersetzt werden können. Die entsprechenden Übersetzungsregeln gehören zur Semantik des formalen Systems. Einem formalen System können im Prinzip mehrere verschiedene Semantiken zugeordnet sein. Zwei verschiedene formale Systeme besitzen genau dann dieselbe „Ausdrucksstärke“, wenn jede gültige Formel des einen Systems in eine gültige Formel des anderen Systems übersetzt werden kann und umgekehrt. Die Gesamtheit der gültigen Formeln eines formalen Systems wird als Objektsprache bezeichnet. Eine Sprache, die zur Formulierung der Bildungs- und Ableitungsregeln eines formalen Systems Verwendung finden kann oder die geeignet ist, Aussagen über Elemente einer Objektsprache zu machen, heißt Metasprache. Es ist allerdings nicht notwendig, dass das jeweilige Regelwerk tatsächlich in einer Metasprache formuliert sein muss. Die betrachteten Regeln können vielmehr auch aus sich selbst heraus, d. h. in ähnlicher Weise wie die physikalischen Gesetze, Geltung besitzen. Die Trennlinie zwischen Objektsprache und Metasprache wird besonders in frühen Versuchen, die Logik zu formalisieren, oft nicht hinreichend scharf gezogen. Auch bei Leibniz finden sich oft Formulierungen, in denen Elemente der künstlich eingeführten formalen Sprache mit normalsprachlichen Teilen vermischt sind. Solche halbformalen Strukturen können zur Ursache für Mehrdeutigkeit im Zuge der Interpretation („Konfusion“) werden.
In den Systemen der formalen Logik kann die Identität auf mindestens drei verschiedene Weisen in Erscheinung treten:
1. Die Ausdrucksmöglichkeiten einer Objektsprache können so beschränkt sein, dass die Relation der Identität formal nicht dargestellt werden kann. Alle Identitätsaussagen bleiben in diesem Fall der metasprachlichen Ebene oder der semantischen Interpretation vorbehalten.
2. Die Identitätsrelation kann durch die spezielle Einführung eines zugehörigen Sprachelements ausdrücklich eingeführt werden.
3. In Systemen mit hinreichend großer Ausdrucksstärke kann die Identität durch eine entsprechende Definition innerhalb der Objektsprache formal eingeführt werden.
Die klassische Aussagenlogik und die aristotelische Syllogistik, die in ihren modernen formalisierten Darstellungsvarianten einen Spezialfall der monadischen Prädikatenlogik erster Stufe darstellt, fallen in die erste Gruppe. Das typische System der zweiten Gruppe wird „Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität“ genannt. Die prädikatenlogischen Systeme zweiter oder höherer Stufe bilden schließlich die dritte Gruppe. Die klassische Aussagenlogik gestattet die Formulierung einer speziellen Äquivalenzrelation unter Verwendung eines entsprechenden Junktors, der Bikonditional heißt. Symbolisiert wird das Bikonditional häufig durch das Zeichen „ “, was zu Verwirrung führen kann, da dieses Zeichen in der Arithmetik häufig ausdrücklich als Symbol für die Identität zweier Ausdrücke verwendet wird. Zwar ist auch die Identität eine Äquivalenzrelation, allerdings ist neben den üblichen Bedingungen der Reflexivität, der Symmetrie und der Transitivität hier noch eine weitergehende Bedingung notwendig, die die Einzigartigkeit einer betrachteten Entität sicherstellt. Eine solche Einzigartigkeit wird für das Bikonditional und andere Äquivalenzrelationen nicht gefordert.
[...]
1 Kneale u. Kneale 1962 S. 742; Auf die im Literaturverzeichnis aufgeführten Schriften wird hier und in allen weiteren Fußnoten verkürzt verwiesen durch Nennung der jeweiligen Autorennamen und des relevanten Erscheinungsdatums sowie gegebenenfalls der Angabe der Seitenzahlen.
2 Roberts 1973 S. 132; Roberts nimmt Bezug auf Peirce 1885. Er schreibt hierzu: “Peirce gives the modern definition of identity, avoiding Leibniz’s confusion of use and mention.” Die deutsche Übersetzung im Text stammt vom Autor dieser Arbeit.
3 Peirce 1885.
4 Bieri 1987 S. 15.
5 a. a. O.; Hervorhebung im Original.
6 Griffin 1977 S. 177 ff.
7 Aristoteles 1995 Band 2 (Übersetzt von Eugen Rolfes), Topik 103a.
8 Tugendhat u. Wolf 1993 S. 168.
9 Aristoteles 1995 Band 2 Topik 151b.
10 a. a. O. Topik 152b.