ZIVILISIERTE GRAUSAMKEIT - Der Mensch als williger Vollstrecker
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Der stets mögliche Zivilisationsbruch
Ganz normale Männer?
Der vermeintlich gelungene Zivilisationsprozeß
Wenn ein Buch wie "Hitlers Willing Executioners", auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des NS-Regimes die alten Diskussionen um Schuld und Täterschaft der Deutschen im Nationalsozialismus wieder zu entfachen vermag, so vermutlich auch und vielleicht sogar vor allem deshalb, weil es um die dunkle Ahnung geht, daß weder Nachgeborene und noch kommende Generationen sich in einer vergleichbaren Situation sehr viel anders verhalten hätten.
Das eigentliche Dilemma im Umgang mit dem, was uns heute im Nationalsozialismus und insbesondere im Holocaust und dessen Vorbereitung entgegentritt, liegt wohl darin, daß nicht allein der Zivilisationsbruch, sondern gleichermaßen auch der vermeintlich gelungene Zivilisationsprozeß die "Täter aus freien Stücken" hervorbrachte und hervorbringt.
Der stets mögliche Zivilisationsbruch
In seiner kürzlich erschienenen Studie über die "willigen Vollstrecker" untermauerte der amerikanische Politologe und Historiker Daniel J. Goldhagen seine These von der stillschweigenden Billigung der Massenmorde an den Juden durch die Mehrzahl der Deutschen unter anderem mit Äußerungen in den Briefen von Angehörigen des Polizeibataillons 101, aber auch mit Photos, auf denen die Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder festgehalten wurde. (siehe auch: > Hitlers Rassenkrieg. Der Rußlandfeldzug und der Holocaust< http://www.wissen24.de/vorschau/23092.html). Man sieht auf diesen Bildern lachende SS-Chargen, aber auch freundlich dreinblickende Wehrmachtssoldaten, die offensichtlich stolz darauf sind, bei den Mordaktionen dabeisein zu können. Aus ihren Gesichtern spricht kein Unrechtsbewußtsein, statt dessen die Gewißheit, sich einer Aufgabe verschrieben zu haben, und zwar im Namen von "Führer und Volk".
Wenn Goldhagen die Massaker des deutschen Polizeibataillons an den jüdischen Menschen Osteuropas in allen Einzelheiten schildert, so liefert er zwar keine Beweise für den vermeintlichen Rückhalt, den die "Täter aus freien Stücken" in der Bevölkerung hatten, zeigt aber sehr genau, wozu selbst "ganz normale Familienväter" in bestimmten Konstellationen fähig sind und welche schrecklichen Folgen daraus für die Betroffenen erwachsen.
Massaker, Greuel und Exzesse aber sind in der Kriegsgeschichte wieder und wieder verzeichnet. Die Spur dieser Gewalttaten zieht sich von Magdeburg während des Dreißigjährigen Krieges, durch das Shenandoah-Tal in Nordvirginia während des amerikanischen Sezessionskriegs, bis ins vietnanesische My Lai. Und selbst die griechische Zivilisation war gegen den Zivilisationsbruch nicht gefeit. Thukidides schildert Gemetzel des Peloponesischen Krieges, die den Exzessen im gerade zu Ende gegangenen Bosnien-Krieg kaum nachstehen.
Wir sollten uns davor hüten, Greuel und Exzesse als balkanische oder zentralafrikanische Besonderheit abzutun. Nicht nur in den Kriegen in Bosnien oder Ruanda, sondern in jedem anderen Krieg auch, kommt es zu einer Außerkraftsetzung des gesellschaftlichen Tötungsverbots und damit zur Gefahr, daß im psychologischen Sinn männliche Tiefenschichten angeschnitten und aktiviert werden, die sich jeglicher Kontrolle entziehen. Die aus diesen Schichten emporsteigenden Gewaltphantasien lassen sich natürlich wesentlich ungefährlicher an der wehrlosen Zivilbevölkerung ausleben als an den feindlichen Kombattanten.
Selbstverständlich aber liegt zwischen den Massakern, die attavistische Inseln im regulären Kriegsgeschehen sind und der Alltäglichkeit der Zivilisationsbruchs im Holocaust ein Abgrund. Schon allein deshalb, weil der "reguläre Krieg" historisch betrachtet ein durchaus notwendiger Teil des langwierigen und widersprüchlichen Zivilisationsprozesses war und ist: Wenn wir nämlich mit Norbert Elias unter Zivilisierung den Abbau der Anwendung direkter Gewalt innerhalb der Gesellschaften verstehen, so kann man sich den Prozeß der Zivilisierung wohl am einfachsten - wenn auch etwas oberflächlich - daran verdeutlichen, daß im Mittelalter jeder Graf, jeder kleine Ritter das Recht besaß, zum Schwert zu greifen und seinem Nachbarn Fehde zu erklären. Das gilt mit den entsprechenden Aktualisierungen heute noch genauso u.a. für die afghanischen "Freiheitskämpfer" oder die liberianischen "warlords". Dieses "Recht" zur Kleinkriegführung wurde in der Frühen Neuzeit dem einzelnen Kriegsherrn immer weiter entzogen, indem der entstehende moderne Staat die Gewaltanwendung monopolisierte. Andererseits militarisierte sich der Staat nach außen immer weiter - vielleicht im Ausgleich für diesen insgesamt sehr schwierigen und komplizierten Prozeß der Zivilisierung im Innern - bis hin zu den Weltkriegen und zum zehnfachen "Overkill" des Kalten Kriegs. Als dann die äußere Bedrohung entfiel, zerbrachen vielerorts und vor allem in unseren Köpfen prompt die Gewißheiten und Grundlagen (!) unserer modernen Zivilisation: unser Glaube an Gewalttabuisierung, Affektkontrolle und Selbststeuerung und auch Selbstzwang.
Doch zurück zum Problem der individuellen Gewalt gegenüber wehrlosen Opfern. Selbst der angesprochene Abgrund zwischen Massakern im regulären Krieg und der Alltäglichkeit des Zivilisationsbruchs im Holocaust erscheint grundsätzlich nicht unüberbrückbar. Die historischen Abläufe waren sogar recht banal und im militärischen Sinne durchaus nicht so ungewöhnlich. Der Amerikanische Historiker Christopher Browning untersuchte vor wenigen Jahren die Beteiligung derselben Hamburger Polizisten an der Vernichtung der Juden. Das "Reserve-Polizeibataillon 101" setzte sich keineswegs aus ausgesuchten Männern zusammen, die prädestiniert gewesen wären, einen rassistischen Vernichtungskrieg zu führen. Ihre ursprüngliche Aufgabe bestand im Wachdienst in den besetzten polnischen Gebieten. Es war der SS- und Polizeiführer von Lublin, Odilo Globocnik, dem die Vernichtung der Juden in seinem Bezirk nicht schnell genug voranging und der deshalb auf die Ordnungspolizisten zurückgriff.
Ganz normale Männer?
Im Zentrum des Buches von Browning, das er bezeichnenderweise "Ganz normale Männer" nannte, findet sich folgende Geschichte: Am 13. Juli 1942 gegen zwei Uhr morgens verläßt das Hamburger "Reserve-Polizeibataillons 101" die polnische Stadt Bilgoraj in Richtung Jozefow, einer kleinen Gemeinde im Süden Lublins, in der 1.800 Juden wohnen. Kurz vor vier Uhr sind die Männer am Ziel und sammeln sich im Morgengrauen um ihren Bataillonskommandeur Major Trapp.
Erst jetzt erfahren sie ihren Auftrag. Trapp, bleich und nervös, erklärt ihnen, daß sie den Befehl hätten, die Juden des Ortes zusammenzutreiben, die arbeitsfähigen Männer "auszusondern", und die übrigen, einschließlich der Alten, Frauen und Kinder, zu erschießen.
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