Der Abschuss der Flugmaschine im April 1994, in welcher sich der ruandische Präsident Habyarimana befand, setzte den Beginn für einen 100 Tage andauernden Völkermord, in dessen Verlauf etwa 800.000 Tutsi in systematischer Weise von Hutu ermordet wurden. Vor dem Hintergrund der Art und Intensität der Gewalt wird in der Arbeit die Frage aufgeworfen, inwiefern die situative Dynamik jener Gewalt als Erklärungsfaktor für das exzessive Handeln der Hutu betrachtet werden kann.
Zunächst wird im Folgenden die „Theorie der Konfrontationsspannung“ nach Collins als Grundlage der Untersuchung jener situativen Gewaltdynamik dargestellt, nach welcher die Gewalt einen mikrosoziologischen Moment der Anspannung und physiologischen Erregung passieren muss, damit Akteure in den Tunnel der Gewalt eintreten können. Methodisch ergänzt wird der theoretische Rahmen durch die qualitative Inhaltsanalyse, die in ihren Grundzügen dargestellt und nach einer Skizzierung des Völkermordes, welcher von den Vereinten Nationen definiert wird, über „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (Art. II der UN-Völkermordkonvention), an von Hatzfeld durchgeführten Interviews der Täter und Opfer Anwendung finden wird. Die dabei deduktiv abgeleiteten und an den Textkorpus angelegten Kategorien Besessenheit, Autopilot und Gruppenzwang sollen im Ergebnis die Grundlage zur Beurteilung bilden, inwiefern die situative Dynamik der Gewalt als Erklärungsfaktor für die Gräueltaten des Völkermordes betrachtet werden kann.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Verortung und Methodik
2.1 „Theorie der Konfrontationsspannung“ nach Collins
2.2 Qualitative Inhaltsanalyse
3. Empirie: Völkermord in Ruanda
4. Mikrosoziologische Analyse: Situative Gewaltdynamik im ruandischen Völkermord
4.1 Textkorpus und Analyseeinheiten
4.2 Kategoriensystem und Kodierleitfaden
4.3 Ergebnisse
5. Einfluss der situativen Gewaltdynamik auf das Handeln der Hutu
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Kodierleitfaden
Übersicht der extrahierten Paraphrasen
1. Einleitung
„Hundreds of thousands of people died in very personal and technologically primitive killing: many of the killers knew their victims and faced them directly, eye to eye. Most weapons used were machetes and clubs, rather than firearms and grenades.“ (Reyntjens 1996: 240)
Der Abschuss der Flugmaschine im April 1994, in welcher sich der ruandische Präsident Habyarimana befand, setzte den Beginn für einen 100 Tage andauernden Völkermord, in dessen Verlauf etwa 800.000 Tutsi in systematischer Weise von Hutu ermordet wurden (Stockhammer 2005: 23). Möglich wurde eine solch hohe Opferzahl durch die „massenhafte Beteiligung der Bevölkerung“, die initiiert und verstärkt wurde durch staatliche Koordination und mediale Mobilisierung1 (Scherrer 1999: 102). Die Täter bedienten sich bei den Massakern vornehmlich der Machete und Keule, mit welchen sie ebenfalls vormals Bekannte in grausamer Weise liquidierten. Vielfach wurden die Tutsi-Opfer vor ihrem Tod durch Vergewaltigungen, Verstümmelungen und erzwungenem Kannibalismus erniedrigt (Paul 2006: 37). Der Völkermord 1994 stellte den Kulminationspunkt gewaltvoller Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen dar, die mit der „Hutu-Revolution“ 1959 begannen und in der weiteren postkolonialen Folgezeit mit episodischen Verfolgungen und Tötungen von Tutsi in Ruanda (u.a. 1963, 1967. 1973, 1991) und Hutu in Burundi (1972) fortgesetzt wurden (Stockhammer 2005: 22).
Ansätze zur Erklärung der Gewaltexzesse über die ethnische Differenzierung zwischen den bereits vorkolonial existierenden Gruppen Hutu und Tutsi werden vielfach zurückgeführt auf die Prägung als „Rassen“ durch die Kolonialmächte Deutschland und Belgien, die diese Ideologie administrativ und institutionell zugunsten der Tutsi umgesetzt haben (Paul 2006, Mamdani 2001, Straus 2006). Alternativ dazu lassen sich demographische, politische und individuell-persönliche Faktoren in der Forschung finden (Reyntjens 1996, Mehler 2010, Fujii 2009). Vor dem Hintergrund der geschilderten Art und Intensität der Gewalt wird in der nachfolgenden mikrosoziologischen Betrachtung jedoch die Frage aufgeworfen: Inwiefern kann die situative Dynamik jener Gewalt als Erklärungsfaktor für das exzessive Handeln der Hutu betrachtet werden?
Zunächst wird im Folgenden die „Theorie der Konfrontationsspannung“ nach Collins (2016) als Grundlage der Untersuchung jener situativen Gewaltdynamik dargestellt, nach welcher die Gewalt einen mikrosoziologischen Moment der Anspannung und physiologischen Erregung passieren muss, damit Akteure in den „Tunnel der Gewalt“2 eintreten können. Methodisch ergänzt wird der theoretische Rahmen durch die qualitative Inhaltsanalyse (u.a. Mayring 2010), die in ihren Grundzügen dargestellt und nach einer Skizzierung des Völkermordes, welcher von den Vereinten Nationen definiert wird über „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“3 (Art. II der UN-Völkermordkonvention), an von Hatzfeld (2004, 2012) durchgeführten Interviews der Täter und Opfer Anwendung finden wird. Die dabei deduktiv abgeleiteten und an den Textkorpus angelegten Kategorien Besessenheit, Autopilot und Gruppenzwang sollen im Ergebnis die Grundlage zur Beurteilung bilden, inwiefern die situative Dynamik der Gewalt als Erklärungsfaktor für die Gräueltaten des Völkermordes betrachtet werden kann. Folgende Arbeitshypothese wird dabei verwendet:
Arbeitsthese: Kulturelle, ökonomische, soziale und politische Faktoren sind nicht ausreichend zur Erklärung der Eskalation zwischen Hutu und Tutsi und bedürfen einer Ergänzung durch die situative Gewaltdynamik.
2. Theoretische Verortung und Methodik
2.1 „Theorie der Konfrontationsspannung“ nach Collins
Collins mikrosoziologische Betrachtung der Gewaltdynamik basiert maßgeblich auf der Annahme einer physiologischen Erregung, im Sinne von Angst und Stress, in Konfrontationsbegegnungen (2008: 43). Dieser Zustand entfalte eine negative Auswirkung auf die Wahrnehmung, Feinmotorik und Koordination der Akteure. Damit die Gewalt jedoch realiter umgesetzt werden kann, muss eine Barriere der „Konfrontationsspannung“ überwunden werden. Motivationen zur Ausübung von Gewalt aufgrund von rassistischen Überzeugungen, Unterdrückung, Armut, Wut und Hoffnungslosigkeit seien dafür noch nicht ausreichend, da die reale Umsetzung emotional schwer durchzuführen sei (Collins 2016: 18). Gewalt meint nach Collins die Umgehung der Konfrontationsspannung, die u.a. mit den beiden hier zentral zu betrachtenden Mechanismen realisiert werden kann: die Suche nach einem schwachen Opfer, das dominiert werden kann, sowie die Orientierung an dem Publikum (Collins 2016: 20). Wird die Barriere überschritten, erfolgt der Eintritt in einen „Tunnel der Gewalt“, welcher mit Erfahrungen von Wahrnehmungsstörung und Besessenheit einhergehe. Collins führt eine zeitliche Differenzierung des Tunnel-Modells an, jedoch erscheint in dieser Betrachtung aufgrund der Dauer des Völkermordes besonders der „lange“ Tunnel von Relevanz (ebd.: 22). Drei charakteristische Mechanismen im Sinne einer Erweiterung der emotionalen Verstrickung werden angeführt: die „Selbst-Verstrickung der Täter mit den eigenen Rhythmen mit geringem Input der Opfer“, für welche die Raserei der Täter und Passivität der Opfer charakteristisch ist, die „wechselseitige Mikro-Koordination zwischen Täter und Opfer“, die mit einer Absenkung der physiologischen Erregung durch Gewöhnung bzw. Professionalisierung4 und der Erniedrigung der Opfer einhergeht, sowie die „Verstrickung mit dem Publikum“ (ebd.: 26f.). Die Passivität der Opfer wird von Collins auf die extrem hohe physiologische Anspannung zurückgeführt, welche diese letztlich in ihrem Handeln paralysiere (Collins 2008: 103). Aufrechterhalten werden diese Tunnel maßgeblich aufgrund der kommunikativen Beziehung zwischen den passiven Opfern und den dominanten Angreifern (Collins 2016: 30).
2.2 Qualitative Inhaltsanalyse
In der nachfolgenden mikrosoziologischen Betrachtung der Gewalt im ruandischen Völkermord wird die qualitative Inhaltsanalyse als methodisches Hilfsmittel verwendet. Diese ermöglicht eine textbasierte Analyse, welche sich durch ein systematisches und regel-geleitetes Vorgehensweise (entgegen einer „freien“ Interpretation) charakterisieren lässt, um ein Höchstmaß an intersubjektiver Überprüfbarkeit zu generieren (Mayring 2010: 601). Ausgangspunkt einer jeden qualitativen Inhaltsanalyse ist die Bestimmung des Textmaterials, welches den „Textkorpus“ bildet und sowohl auf die Entstehungssituation sowie auf formale Charakteristika untersucht wird (Mayring 2015: 55). Als mögliches Ausgangsmaterial können u.a. narrative Interviews, welche in dieser Untersuchung den Textkorpus konstituieren, aufgenommen werden (Lamnek 1995: 71). Die Richtung der Analyse gibt die theoretisch-abgeleitete Fragestellung vor.
Die Regelgeleitetheit wird besonders in dem aufzustellenden Ablaufmodell der Analyse deutlich, welche zunächst mit der Festlegung der Analyseeinheit verbunden ist: Kodiereinheit (kleinster auszuwertender Materialbestandteil und minimalster Textteil, der einer Kategorie zugeordnet werden kann), Kontexteinheit (größter Textteil, der einer Kategorie zugeordnet werden darf) und Auswertungseinheit (Festlegung darüber, welche Textbestandteile ausgewertet werden) (Mayring 2015: 61). Weiterhin bedarf es einer Festlegung der Analysetechnik, die nach Mayring in Zusammenfassung (induktive Kategorienbildung), Explikation (Kontextanalyse) und Strukturierung (deduktive Kategorienbildung) differenziert werden kann (2010: 602). Da die nachfolgende Untersuchung den Regeln der inhaltlichen Strukturierung folgt, sei auf die beiden anderen Techniken lediglich verwiesen.
Bei der inhaltlichen Strukturierung erfolgt die Bildung des Kategoriensystems deduktiv anhand einer zu wählenden theoretischen Grundlage. In diesem Fall die „Theorie der Konfrontationsspannung“ nach Collins. Dazu wird ein Kodierleitfaden gebildet, welcher die genaue Definition der Kategorien, Ankerbeispiele und Kodierregeln umfasst (Mayring 2015: 97). Das Kategoriensystem dient als Instrumentarium zur regelgeleiteten Zuordnung von Paraphrasen zu den einzelnen Kategorien (ebd.: 61). Die Textanalyse ist dabei ein zirkuläres Verfahren, das die Kategorien anhand der Texte in mehrfachen Durchläufen überprüft und gegebenenfalls korrigiert (Mayring 2010: 603). Das Ergebnis, die Häufigkeiten der kategorisierten Paraphrasen, kann ebenfalls quantitativ dargestellt werden.
3. Empirie: Völkermord in Ruanda
Ruandas Historie ist geprägt von der deutschen und belgischen Kolonialisierung, welche die bereits vorkolonial existierenden Gruppen Hutu und Tutsi entlang rassenideologischer Überzeugungen differenziert behandelten und Letztere als „Herrenmenschen“ administrativ und politisch bevorzugten5 (Scherrer 1999: 107). Die „Hamitenthese“, wonach die Tutsis als dominierende Rasse aus Äthiopien zur Einnahme der Vorherrschaft eingewandert seien, wurde in der Kolonialzeit zur Legitimierung der Privilegien benutzt, aber im Zuge der Abhängigkeit Ruandas 1962 von den Hutu zunehmend gegen die Tutsi instrumentalisiert, welche kein indigenes Mitglied der Gesellschaft seien (Straus 2006: 20, Wissbar 1998: 127).
Die sogenannte „Hutu-Revolution“ 1959, welche jene Unabhängigkeit von der belgischen Kolonialmacht einleitete, hatte den Sturz der Tutsi als dominierende Minderheit und die Besetzung der vakanten Stellen durch Hutu zur Folge (Mehler 2010: 253). Dies trieb zahlreiche Tutsi in die Flucht. Die postkoloniale Folgezeit war geprägt von der Dominanz der Hutu bei gleichzeitiger Diskriminierung und vereinzelten Massakern an den Tutsis (Straus 2006). Gegenwehr erfolgte in den 1990er Jahren durch die von Exil-Tutsis in Uganda gebildeten RPF (Rwandese Patriotic Front), die durch eine Intervention im Norden Ruandas einen Bürgerkrieg mit der Habyarimana-Regierung auslösten, der innenpolitisch abermals von Massakern an der Tutsi-Mehrheit begleitet war (Paul 2006: 36). Das Arusha-Abkommen II 1993 sollte zur Beendigung des Bürgerkriegs und Demobilisierung beider Armeen führen (Wissbar 1998: 122).
Der eigentliche Völkermord wurde ein Jahr später durch den Abschuss der Flugmaschine, in der sich der ruandische Staatspräsident Habyarimana befand, in Verbindung mit dem im Vorfeld von Tutsis getöteten Hutu-Präsident in Burundi ausgelöst (Mamdani 2001: 215). Wer für den Abschuss verantwortlich ist, konnte bisher nicht klar nachgewiesen werden.6 Die Hutu machten jedoch die Tutsi für den Anschlag verantwortlich und leiteten eine systematische Verfolgung und Tötung dieser ein. Signifikant hierbei erscheint die massenhafte Beteiligung der Bevölkerung, die durch den Staat und Rundfunk mobilisiert und angeleitet wurde (Scherrer 1999: 102). Der ruandische Staat knüpft damit an die starke Administration im Vorfeld des Völkermordes an, der eine Ausbildung von Individualismus verhindert, sodass sich die Ruander der „grauen Masse“ unterordnen (Reyntjens 1996: 245). Auch die durchschnittliche Opferzahl pro Tag von 10.000 Toten verweist auf die effiziente Organisation und Planung der Massaker, welche meist mit Macheten und Keulen ausgeführt wurden und das Töten von vertrauen Personen (z.B. Nachbarn) inbegriffen (Paul 2006: 37). Die RPF beendete letztlich einen Völkermord, in dessen Verlauf etwa 800.000 Tutsi getötet wurden und hunderttausende in die Nachbarländer flüchteten (Mehler 2010: 249). Vielfach wird den Vereinten Nationen aufgrund des Nicht-Eingreifens Versagen vorgeworfen (Scherrer 1999: 116f.).
Die Frontstellung des Völkermordes verweist zwar auf historische Wurzeln, aber dies vermag die Eskalation nicht ausreichend zu begründen (Mehler 2010: 252). Es lassen sich in der Forschung zahlreiche alternative Erklärungsansätze finden: Reyntjens (1996: 241) sieht vornehmlich politische Gründe ausschlaggebend, die sich mit einem starken ruandischen Staat und der Ideologisierung der Gesellschaft während und nach der Unabhängigkeitskämpfe verbinden. Mehler (2010: 257) führt demographische Gründe an, da sich die ruandische Population von der Unabhängigkeit bis zum Völkermord mehr als verdoppelt hat, was zu einem Anstieg territorialer und materieller Streitigkeiten geführt habe. Betrachtet Fujii (2009: 77) weniger den ethnischen Hass als handlungsleitend, sondern vielmehr situative und persönliche Motive, führt Straus (2006: 36) Mechanismen an, die von Ethnizität zu Gewalt führen könnten: Dehumanisierung, Misstrauen in Mitglieder anderer Ethnien, starke politische Überzeugungen und Propaganda. Entsprechend der Arbeitshypothese, dass diese Ansätze nicht ausreichend seien, wird nun die situative Gewaltdynamik auf mikrosoziologischer Ebene analysiert.
4. Mikrosoziologische Analyse: Situative Gewaltdynamik im ruandischen Völkermord
4.1 Textkorpus und Analyseeinheiten
Das verwendete Textmaterial basiert auf narrativen Interviews von Jean Hatzfeld, welcher in „Nur das nackte Leben“ (2004) zunächst 14 überlebende Tutsi und im Rahmen des Werkes „Zeit der Macheten“ (2012) ebenfalls 10 Hutu interviewte. Folglich entspricht der ausgewählte Textkorpus der Gesamtheit jener Erfahrungsberichte mit analytischer Fokussierung auf die Täter. Die interviewten Tutsi stammten aus Nyamata, Ntarama, Kanzenze oder Gatare und erlebten den Völkermord in der Ausgangssituation zu großen Teilen auch dort. Bei der Täter-auswahl bezog sich Hatzfeld regional insbesondere auf Gitarama, Kibungo, Muyange und Kibuye. Jean Hatzfeld, ein Journalist, der mehrfach nach Ruanda reiste, strebte mit der Zusammenstellung von narrativen Interviews an, einen Beitrag zur medialen Aufarbeitung des Völkermordes zu leisten (vgl. Hatzfeld 2004: 249).
Die zu analysierenden Interviews enthalten Aussagen über die Vorgehensweise, Motivation und Gefühlslage der Hutu beim Töten der Tutsi. Dies lässt, in Verbindung mit den theoretischen Annahmen nach Collins, Rückschlüsse auf die Gründe des exzessiven Handelns der Hutu zu. Nachfolgend werden die Aussagen der Interviewten derart kodiert, dass eine Proposition den minimalsten Textteil der Analyse abbildet und einer Kategorie insgesamt mindestens eine Paraphrase zugeordnet werden können muss (Kodiereinheit). Als Kontexteinheit werden maximal drei Sätze festgelegt. Zunächst erfolgt die Analyse der Täter-Interviews und anschließend die der Tutsi-Überlebenden. Die weitere Analyse folgt dem Ablaufschema der inhaltlichen Strukturierung nach Mayring (2015: 104).
4.2 Kategoriensystem und Kodierleitfaden
Die theoretische Grundlage zur Konstituierung der Kategorien bilden die drei Mechanismen, welche die mikrosoziologischen Prozesse kürzerer Tunnel zur Anwendung für längere Tunnel erweitern: „Selbst-Verstrickung der Täter mit den eigenen körperlichen Rhythmen bei geringem Input vom Opfer“, „wechselseitige Verstrickung der Rhythmen von Täter und Opfer“ und „Verstrickung mit einer Gruppe“ (Collins 2016: 26f.). Ergänzt wird dies durch Wahrnehmungsveränderungen, die aufgrund der physiologischen Erregung beim Eintritt in den „Tunnel der Gewalt“ von Collins als charakteristisch angeführt werden (ebd.: 21).
Konkret bedeutet dies, dass aus den beiden ersten Mechanismen die Kategorie Besessenheit (K1) abgeleitet werden kann. Denn nach Collins seien die Gewaltakteure nach ersterem zunehmend mit sich selbst verstrickt, fokussieren sich auf den eigenen Zorn und verfallen partiell in Raserei (K1.1). Kodiert werden Textbestandteile hierbei dann, wenn die Täter in Ekstase auf mehrere Opfer einschlagen, dabei Lust am Töten verspüren oder eine Eigen- oder Fremdcharakterisierung entlang des Merkmals anführen. Zur Orientierung dienen Wörter wie „bestialisch“, „wild“, „blutgierig“, „bösartig“ und „besessen“. Als Ankerbeispiel kann angeführt werden: „Wir wurden immer bösartiger, immer kaltblütiger, immer blutgieriger“ (Hatzfeld 2012: 54).
Die zweite Unterkategorie bildet die Erniedrigung der Opfer (K1.2), die sich aus dem zweiten Mechanismus ableiten lässt. Hiernach haben die Täter gelernt, die schwachen Opfer zu identifizieren und deren Konfrontationsspannung gegen sie selbst zu wenden (Colins 2016: 29). Textteile können dieser Unterkategorie zugeordnet werden, wenn die Hutu ihre Opfer vorführen, verspotten, verstümmeln, vergewaltigen, leiden lassen oder zu Gräueltaten zwingen. Als Ankerbeispiel dient: „Die Totmacher schnitten dem Gefangenen zuerst die Gliedmaße ab, dann zertrümmerten sie die Knochen mit einem Knüppel, ohne allerdings ihre Opfer ganz zu töten“ (Hatzfeld 2012: 144).
Ebenfalls aus dem zweiten Mechanismus, der Verstrickung der körperlichen Rhythmen von Täter und Opfer, lässt sich die Kategorie Autopilot (K2) ableiten. Akteure, die regelmäßig Gewalt anwenden, können in einem Lernprozess inbegriffen sein, der eine Senkung der physiologischen Erregung in Konfrontationssituationen zur Folge hat. Jene Gewaltakteure können folglich in den „Tunnel der Gewalt“ eintreten und dennoch effizient handeln (Collins 2016: 29). Kodiert werden hiernach Textstellen, welche deutliche Anzeichen auf Routine, Gewohnheit und Professionalisierung hinsichtlich des Tötens aufweisen. Sowohl im technischen Umgang mit den Waffen als auch der emotionale Umgang mit der Vollstreckung. Jene Textbestandteile müssen einen unmittelbaren Zusammenhang zum Töten aufweisen, um kodiert werden zu können. Als Ankerbeispiel kann angeführt werden: „In dem Zustand, in dem wir uns befanden, machte uns der Gedanke, dass wir dabei waren, unsere Nachbarn bis auf den Letzten zu töten, nichts aus“ (Hatzfeld 2012: 51).
Der dritte Mechanismus bildet die Grundlage für die dritte Kategorie, die Gruppenverstrickung (K3). Collins bezieht sich bei diesem Mechanismus auf die Wechselbeziehungen zwischen den Mitgliedern der Tätergruppe, die sich im Falle einer gemeinsamen Ausrichtung immer weiter anstacheln würden (2016: 32). Differenziert wird bei der Kodierung zwischen den beiden Unterkategorien vertikale Beziehungsgefüge (K3.1) einerseits und horizontales Beziehungsgefüge (K3.2) andererseits. Erstere wird dadurch charakterisiert, dass einzelne Hutu Befehlsempfänger sind, welche von staatlicher Stelle bzw. deren Vorgesetzten in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt oder sogar zu Handlungen gezwungen werden. Kodiert werden können derartige Textteile, wenn die Hutu sich aufgrund von Anordnungen zu einem bestimmten Handeln gezwungen sehen und bei Nicht-Beachtung Konsequenten fürchten. Verdeutlicht wird dies durch ein Ankerbeispiel: „Unsere Angst vor der Wut der Befehlshaber war größer als die vor dem Blutvergießen“ (Hatzfeld 2012: 76). Das horizontale Beziehungsgefüge als zweite Unterkategorie hingegen, bezieht sich auf den Intergruppendruck bei der Interaktion mit anderen Hutu in ähnlicher Position. Nachfolgend werden lediglich die Textpassagen zugeordnet, welche auf einen Handlungszwang hinweisen, der sich aus dem wahrgenommenen Gruppendruck aufgrund der Beobachtung und Erwartung anderer Gruppenmitglieder ergibt. Zu betrachtende Beweggründe sind die Angst vor einem Verlust der Anerkennung, aber auch Sanktionen in Form von informellen Forderungen oder nach der Weitermeldung von Verfehlungen an Vorgesetzte. Exemplarisch kann dieses Ankerbeispiel angeführt werden: „Wer wegen eines Bekannten die Machete sinken lässt, der untergräbt den guten Willen der Kollegen“ (Hatzfeld 2012: 129).
[...]
1 U.a. der Radiosender Radio-Télévision Libre des Mille Collines und die Zeitschrift Kangura (Wissbar 1998: 136).
2 Theoretische Metapher zur Umschreibung des Zustandes während des Gewaltvollzuges.
3 Unter Handlungen wird u.a. die Tötung, schwere körperliche bzw. seelische Schadenszufügung oder Maßnahmen zur Geburtenverhinderung von Mitgliedern der verfolgten Gruppe verstanden.
4 An anderer Stelle erweitert Collins die Professionalisierung durch den Begriff „Autopilot“, der das mehr oder minder unbewusste Handeln nach erlernten Gewohnheiten meint (2016: 36).
5 Bevölkerungsverteilung: 85% Hutu, 14% Tutsi und 1% Twa (Stockhammer 2005: 18).
6 Aufgrund der schnellen Reaktion und des hohen Grades der Vorbereitung und Organisation (z.B. Ausbildung Interahamwe) wird der Abschuss vielfach den Hutu selbst zugerechnet (u.a. Des Forges 2003: 226, Grabinski/ Römmer 1998: 146, Straus 2006: 45).