Die folgende Arbeit geht der statistischen Verbindung von Migrationshintergrund und Bildungserfolg auf Basis von Grundschülern in Nordrhein-Westfalen nach.
Der Begriff des Migrationshintergrundes ist wesentlich komplexer als es zu Beginn scheinen mag. Die Erhebung und die daraus resultierende Statistik der einzelnen Bundesländer lassen sich, aufgrund unstimmiger Erhebungsverfahren, nicht miteinander vergleichen. Gründe sind unter anderem dafür, dass die offizielle Definition der Kultusministerkonferenz (KMK) nicht in allen Bundesländern einheitlich übernommen wurde. In Nordrhein-Westfalen (NRW) wird eine eigene Definition für ein valides Erhebungskonzept genutzt und grenzt sich damit von der offiziellen Variante ab, welche dadurch keine Umsetzung der KMK-Definition ermöglicht. Die Bildungsbeteiligung der Schüler kann demnach inkorrekt interpretiert werden, was eine politische Handlung zur Folge hätte, die sich auf die Schüler auswirkt. Die politische und die wissenschaftlichen Sichtweisen und Folgen werden dahingehend untersucht, wie die Definition des Migrationshintergrundes vom KMK und vom Land NRW sich auf die Bildungserfolge von Grundschülern auswirkt.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition Migrationshintergrund
2.1 Kultusministerkonferenz und Nordrhein-Westfalen
2.2 Wissenschaftliche Merkmale
2.3 Politische Merkmale
3. Bildungserfolg
4. Grundschule
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Schulstatistische Erfassung des Migrationshintergrundes von Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen in Hamburg und NRW im Schuljahr 2014/15
Tabelle 2: Ausländische Schülerinnen und Schülern der Grundschule aus NRW und Hamburg im Schuljahr 2014/15
Anhangsverzeichnis
Anhang 1: Daten- und Informationsbasis zur Erstellung von Tabelle 1
Anhang 1.1: Quelle: Kemper 2016
Anhang 1.2: Quelle: Kemper 2016
Anhang 2: Datenbasis zur Erstellung von Tabelle 2
Anhang 2.1: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2015
Anhang 2.2: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2015
Anhang 2.3: Happe et al. 2016
Abkürzungsverzeichnis
Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW)
Kultusministerkonferenz (KMK)
Nordrhein-Westfalen (NRW)
Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG)
Operationalisierung (OP)
Migrationshintergrund und Bildungserfolg - Wie die Definition des Migrationshintergrundes die Statistik des Bildungserfolg von Grundschülern in Nordrhein-Westfalen beeinflusst.
Zusammenfassung
Der Begriff des Migrationshintergrundes ist wesentlich komplexer als es zu Beginn scheinen mag. Die Erhebung und die daraus resultierende Statistik der einzelnen Bundesländer lassen sich, aufgrund unstimmiger Erhebungsverfahren, nicht mit einander vergleichen. Gründe sind unteranderem dafür, dass die offizielle Definition der Kultusministerkonferenz (KMK) nicht in allen Bundesländern einheitlich übernommen wurde. In Nordrhein-Westfalen (NRW) wird eine eigene Definition für ein valides Erhebungskonzept genutzt und grenzt sich damit von der offiziellen Variante ab, welche dadurch keine Umsetzung der KMK-Definition ermöglicht. Die Bildungsbeteiligung der Schüler kann demnach inkorrekt interpretiert werden, was eine politische Handlung zur Folge hätte, die sich auf die Schüler auswirkt. Die politische und die wissenschaftlichen Sichtweisen und Folgen werden dahingehend untersucht, wie die Definition des Migrationshintergrundes vom KMK und vom Land NRW sich auf die Bildungserfolge von Grundschülern auswirkt.
Migration background and educational success - How the definition of migration background influences the statistics of the educational success of primary school pupils.
Abstract
The concept of migration background is much more complex than it might seem at the beginning. The survey and the resulting statistics for the individual federal states cannot be compared with one another due to inconsistent survey procedures. Reasons include the fact that the official definition of the Conference of Ministers of Education and Cultural Affairs (KMK) has not been adopted uniformly in all federal states. In North Rhine-Westphalia (NRW) a separate definition is used for a valid survey concept and is thus differentiated from the official variant, which does not allow the KMK definition to be implemented. The educational participation of the students can therefore be interpreted incorrectly, which would result in a political action that affects the students. The political and scientific perspectives and consequences are examined to the extent that the definition of the migration background from the KMK and the state of North Rhine-Westphalia affects the educational success of primary school children.
1. Einleitung
„Kinder sind unsere Zukunft“1, schreibt die Bundesregierung auf ihrer Website zur Entwicklungspolitik. Die Schulbildung stellt, bei der Entwicklung der Kinder, einen wesentlichen Bestandteil dar. Der Bildungserfolg oder auch Misserfolg begleitet durch die einzelnen Phasen des schulischen Werdegangs. Bereits nach dem Abschluss der Grundschule ist der Weg zur ersten Sekundarstufe und der somit nächsten Schulform geebnet. Zu Beginn des Schuljahres 2019/20 wurden in Deutschlands Grundschulen rund 733.000 Schüler eingeschult2. Der errechnete Anteil ergibt, dass 13,1% davon ausländische Schüler sind3. Ein näherer Blick auf die Statistiken von ausländischen Schüler verbirgt, dass die Begriffsdefinition und Zuordnung von ausländischen Schüler auf Bundesebene in einer engen Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz (KMK) oder den Kultusbehörden auf Länderebene erfolgt (Statistisches Bundesamt 2020, S.4). Die Annahme besteht, dass die Operationalisierung des Migrationshintergrundes die Anzahl der Schüler mit Migrationshintergrund beeinflusst. Zusätzlich ist mehr noch anzunehmen, dass von der Operationalisierung auch die erzielten Ergebnisse hinsichtlich der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolges von Schüler mit Migrationshintergrund abhängt (Kemper 2017, S.94). Die Schlussfolgerung: Es entsteht bei der Erhebung von Schüler mit Migrationshintergrund der Effekt von Over-/Undercoverage. Schüler mit Migrationshintergrund werden in den Statistiken doppelt erfasst, sowohl mit also auch ohne Migrationshintergrund, oder fallen insgesamt aus der Statistik heraus. Die daraus resultierende Fragestellung, welche in dem Forschungsprojekt beantwortet werden soll, lautet: Wie wirkt sich die Definition des Migrationshintergrundes auf den statistischen Bildungserfolg von Grundschülern mit Migrationshintergrund in Deutschland aus?
Die Grundschule stellt den Beginn der schulischen Bildung dar und ist somit Grundbaustein, welcher die spätere Entwicklung prägt. Der Schulwechsel nach Beendung der vierten Klasse selektiert Kinder nach ihren erlernten Fähigkeiten und Wissensstand auf unterschiedliche Schulformen. Aufgrund der Komplexität wird im Forschungsprojekt der Schwerpunkt auf den Bildungserfolg der Grundschule gelegt.
Die Definition des Migrationshintergrundes vom Land Nordrhein-Westfalen (NRW) weist Unterschiede zu der offiziellen Definition der KMK auf. Diese Unterschiede beziehen sich auf die Merkmalszusammensetzung, die den Migrationshintergrund, für Erhebungen, Statistiken und Vergleichsstudien innerhalb der Schullaufbahn, definieren sollen. Es wird konkret auf die Merkmale, die den Migrationshintergrund definieren sollen, eingegangen und die unterschiedliche Zusammenstellung gegenübergestellt. Die wissenschaftliche als auch praktische Relevanz dieser Fragestellung liegt darin, dass die amtlichen Statistiken beziehungsweise die empirischen Bildungsforschung, mit dem statistischen Konstrukt „Migrationshintergrund“, eine politische Richtung vorgeben können (Marianne Krüger-Potratz 2010, S.288). Statistiken sind nur mit gewissen Einschränkungen miteinander vergleichbar. Durch eine einheitliche Merkmalszusammenstellung fallen Schüler mit Migrationshintergrund nicht mehr aus der Statistik oder werden doppelt gewertet. Somit kann einer fehlerhaften Schlussfolgerung, welche zu Handlungen in der Politik führt, entgegengewirkt werden. Die Theorie „Sozialer Aufbau von Zielbevölkerungen: Auswirkungen auf politische Verfahren und politische Inhalte“ von Ingram und Schneider (1993) wird bei der Überprüfung der Forschungsfrage zu Rate gezogen. Die, in der Theorie dargestellte Zielpopulation ist auf Schüler mit Migrationshintergrund anzuwenden, welche sich im sozialen Konstrukt, hier Grundschule, befinden (Ingram u. Schneider 1993).
Im Folgenden wird zu aller erst die Definition des Migrationshintergrundes diskutiert und kritisch hinterfragt, indem ein genauer Blick auf die offizielle KMK-Definition im Unterschied zu der NRW-Definition geworfen wird. Ergänzend werden zusätzlich die wissenschaftlichen, als auch die politischen Merkmale untersucht, welche den Migrationshintergrund definieren. Im zweiten Teil des Forschungsprojektes wird der Bildungserfolg zu der Definition hinzugenommen. In der Analysedimension werden die zentralen Begriffe, Migrationshintergrund und Bildungserfolg, mit Hinzunahme des theoretischen Ansatzes von Ingram und Schneider (1993), auf Unstimmigkeiten in den Statistiken und den Einfluss auf den Bildungserfolg analysiert. Der Bildungserfolg wird auf der Basis der Grundschule abgebildet, um einen ausführlichen und Zusammenhängenden Einblick auf den schulischen Werdegang geben zu können, ohne wichtige Definitionsunterscheidungen innerhalb der Statistik zur Erfassung von Schülern mit Migrationshintergrund zu vernachlässigen. Abschließend wird ein Resümee aus der Analyse der Statistiken und den Definitionsmerkmalen gezogen, in wie weit sich die unterschiedliche Merkmalszusammenstellung, der Definition Migrationshintergrund, auf den Bildungserfolg von Grundschülern auswirkt.
2. Definition Migrationshintergrund
Die Einführung des Terminus Migrationshintergrund lässt sich zurückführen auf den Anfang der 2000er-Jahre in dem Schulleistungsstudien international verglichen werden sollten (Kemper 2010, S.315). Die Erfassung eines Migrationshintergrundes ist jedoch nicht so eindeutig, wie der feststehende Begriff suggerieren mag. Zuvor wurde als Unterscheidungsmerkmal, ob ein Migrationshintergrund vorliegt oder nicht, nur die „Staatsangehörigkeit“ genutzt. Das neu erschaffene Konstrukt, eröffnet die Möglichkeit den migrationsbedingten demografischen Wandel genauer zu erfassen (Kemper 2010, S.315-316). Die Zusammensetzung der Definitionsbestimmung des Migrationshintergrundes ist komplex und auswechselbar. Um Unstimmigkeiten innerhalb Deutschlands entgegenzuwirken und die Erfassung von Schülern mit Migrationshintergrund zu vereinfachen, wurde durch die Kultusministerkonferenz 2008 eine offizielle Definition festgelegt, die als Vorschlag gilt, um eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährlisten (KMK 2008, S.30). Dennoch nutzt das Bundesland NRW eine andere Zusammenstellung von Merkmalen zur Bestimmung des Migrationshintergrundes (Kemper 2010, S.317). Die Definition, ob Schüler einen Migrationshintergrund besitzen, wird innerhalb NRW, zusätzlich zu der „Staatsangehörigkeit“, mit weiteren Merkmalen, wie den Spätaussiedlerstatus und die Religionszugehörigkeit, definiert (Kemper 2010, S.317).
Für amtliche Statistik wird grundlegend „die Staatsbürgerschaft herangezogen, um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Migrantengruppe zu bestimmen“ (Gresch u. Kirsten 2011, S.209). Die Problematik dabei: Over- und Undercoverage, wobei sich nicht alle Schüler mit Migrationshintergrund erfassen lassen. In den Statistiken bleiben eingebürgerte Migranten mit ihren Nachkommen sowie Zuwanderer mit deutscher Staatsbürgerschaft, wie Spätaussiedler, unberücksichtigt, wobei diese Gruppen einen nennenswerten Bevölkerungsteil ausmachen (Gresch u. Kirsten 2011, S.209). Um die Auswirkung von Over- und Undercoverage bei der Erhebung des Migrationshintergrundes auf den Bildungserfolg zu beschreiben, muss vorab dargestellt werden, was die jeweiligen Effekte aussagen.
Overcoverage bezeichnet den Effekt, „dass die Auswahlgesamtheit Elemente umfasst, die nicht zur intendierten Grundgesamtheit gehören“ (Behnke et al. 2010, S.146). Der gegenteilige Effekt ist Undercoverage, wobei die Auswahlgesamtheit nicht alle Elemente der intendierten Grundgesamtheit enthält (Behnke et al. 2010, S.146). Auf die Forschungsfrage lassen sich die Effekte insofern beziehen, dass wenn der Migrationshintergrund eng gefasst wird, etwa über die (nichtdeutsche) Staatsangehörigkeit, dann wird der Bildungserfolg unterschätzt (vgl. Gresch u. Kristen 2011) (Kemper 2017, S.94). Schüler mit Doppelpass bleiben dabei unberücksichtigt, was sich auf Teile der Zweiten bis Dritten Generation oder gar Spätaussiedler bezieht. Die Unberücksichtigten, wären somit auf den Effekt des Undercoverage zurück zu führen. Die „in einer engen Fassung des Migrationshintergrundes Unberücksichtigten weisen höhere ökonomische und bildungsbezogene Ressourcen und eine höhere Bildungsbeteiligung auf als nicht eingebürgerte Personen ohne deutschen Pass“ (Kemper 2017 S.94).
Im Gegensatz zum eng gefassten, liegt ein weit gefasster Migrationshintergrund vor, wenn zu den Merkmal Staatsangehörigkeit weitere Merkmale zur Bestimmung eines Migrationshintergrundes erhoben werden. Ein weiteres Vorgehen für die Erfassung einer weiten Fassung ist die Verwendung eines Merkmals, das einen höheren Anteil von Schülern misst, als im Vergleich zum Staatsangehörigkeitsmerkmal. Ziel von einer weiten Fassung ist es, wenn die größtmögliche Zahl von erhobenen Migrationsmerkmale inhaltlich sinnvoll mit einem Migrationshintergrund verknüpft wird (Kemper 2016, S.3).
Doch nicht nur zwischen den Bundesländern findet eine unterschiedliche Herangehensweise an die Begriffsbestimmung eines Migrationshintergrundes statt. Wissenschaft und Politik nutzen jeweils andere Merkmalszusammenstellungen, wodurch Unterschiede in der Wahrnehmung und der Erhebung von Daten herausgestellt werden. Im nächsten Abschnitt werden die Merkmale von KMK und NRW thematisiert, welche in der Diskussion zur Definierung des Migrationshintergrundes eine zentrale Rolle einnehmen.
2.1 Kultusministerkonferenz und Nordrhein-Westfalen
„Es existieren verschiedene Definitionen nebeneinander. Aufgrund der verfügbaren Daten hat sich die Kultusministerkonferenz auf drei Merkmale verständigt.“ (KMK 2008, S.30). Schüler weisen bereits einen Migrationshintergrund auf, wenn mindestens eines der drei Merkmale zutrifft:
„1. keine deutsche Staatsangehörigkeit,
2. nichtdeutsches Geburtsland,
3. nichtdeutsche Verkehrssprache in der Familie bzw. im häuslichen Umfeld (auch wenn der Schüler/die Schülerin die deutsche Sprache beherrscht und kein Förderbedarf besteht).“ (KMK 2008, S.30).
Spätaussiedler berücksichtigt die Definition der Kultusministerkonferenz nicht, ebenso fallen auch Eingebürgerte, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aus der Erhebung heraus, weil sie in die Rubrik ohne Migrationshintergrund fallen (Kemper 2010, S.317).
Um den Hintergrund von Migration weiter zu fassen, wäre eine Erhebung der Migrationsmerkmale der Eltern von Nöten. Diese Informationen zu beschaffen, gestaltet sich in der Praxis als schwierig, weshalb diese Daten in der KMK-Definition und den Schulstatistiken in vielen Länder unberücksichtigt bleiben (Kemper 2017, S.92-93). In der Praxis sind die Angaben zu den Eltern meist auf freiwilliger Basis oder werden bei der Schulanmeldung in Form von Elternfragebögen erhoben (Kemper 2016, S.9). Folglich wird die zweite Generation, der in Deutschland Geborenen mit Migrationshintergrund, schulstatistisch nicht ausreichend erfasst (Kemper 2017, S.93). Durch das geänderte Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) §44 im Jahr 2000, wird dieser Effekt sogar noch verstärkt (Kemper 2017, S.93). Wenn das Generationskonzept berücksichtigt werden würde, „dann fällt der Anteil der Bevölkerung „mit Migrationshintergrund“ in Deutschland ungefähr doppelt so hoch aus als bei der Verwendung des Merkmals Staatsangehörigkeit“ (Gogolin u. Maaz 2019, S.3).
NRW ist das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands. Seit dem Schuljahr 2007/08 wird in dort ein neues schulstatistisches Erhebungskonzept verwendet. Somit bilden sich anhand der „Zuwanderungsgeschichte“ andere analytische Möglichkeiten, weil zusätzliche Schülermerkmale und ergänzende Elterninformationen in das Erhebungskonzept hineinfließen (Kemper 2017, S.93). Für Schüler in NRW kann damit exemplarisch überprüft werden, wie „Ergebnisse zur Bildungsbeteiligung von der gewählten Operationalisierung des Migrationshintergrundes abhängen“ (Kemper 2017, S.91). Nach mehreren Erhebungsjahren hat 2012/13 das Statistische Landesamt Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) die Daten als valide angesehen, jedoch nur auf Landesebene (Kemper 2017, S.93). Nach IT.NRW orientiert sich das Erhebungskonzept an der Schulleistungsvergleichsstudie PISA. Demzufolge weisen Schüler einen Migrationshintergrund bereits einen auf, wenn:
- „die Schülerin bzw. der Schüler selbst zugewandert ist oder
- ein oder beide Elternteile zugewandert sind oder
- die Verkehrssprache in der Familie nicht Deutsch ist“.
(Große-Venhaus 2012, S.1).
Bei der Gegenüberstellung der Definitionen für den Nachweis eines Migrationshintergrundes lässt sich feststellen, dass die Merkmale des Landes NRW über die zuvor genannten Merkmale des KMK hinausgehen. Unabhängig von der Zuwanderungsgeschichte der Schüler erfasst die Schulstatistik des Landes NRW ebenfalls die Staatsangehörigkeit und den möglichen Spätaussiedlerstatus. Des Weiteren liegen Informationen zum Zeitpunkt des Zuzuges von Zugewanderten vor (Kemper 2017, S.94).
Das in NRW verwendete schulstatistisches Erhebungskonzept von einem Migrationshintergrund birgt jedoch Nachteile. Merkmalsverknüpfungen und Differenzierungen sind nicht mehr möglich, da durch die Erweiterung der Migrationsmerkmale Aggregatdaten5 erhoben werden und nicht Individualdaten. Bei der Erhebung von Individualdaten werden die Merkmale separat für jede einzelne Person erfasst (Kemper 2016, S.3). Durch die Unterschiedlichkeit der Erhebungsdaten ist die NRW-Operationalisierung nicht kompatible mit der KMK empfohlenen Operationalisierung. Die Folge: Schulstatistische Aggregatdaten lassen keine Verknüpfungen zwischen verschiedenen Merkmalen zu. Deshalb wird ein Vergleich zwischen Ländern und die Erfassung von Schülern mit Migrationshintergrund erschwert (Kemper 2017, S.105/109). Die Konsequenzen zeigen sich sowohl in Bezug auf die Bildungsergebnisse, welche auf verschiedenen schulstatistischen Konzepten basieren, als auch bei der Steuerung des Bildungssystems (Kemper 2017, S.109).
Die Problematik der unterschiedlichen Erhebungskonzepte von NRW und KMK, kann durch den theoretischen Ansatz der “Social Construction of target populations“ verdeutlicht werden. Das soziale Konstrukt des Bildungserfolges von Schülern mit Migrationshintergrund haben einen starken Einfluss auf öffentliche Vertreter. Die politische Agenda, als auch die Steuerung des Bildungssystems kann durch verschiedene Bildungsergebnisse geprägt werden (Ingram u. Schneider 1993, S. 334). In der Praxis könnten die Merkmalszusammenstellungen bei der Verteilung von Ressourcen, wie weitere Fördermaßnahmen, eine wichtige Rolle spielen (Kemper 2017 S. 109). Ein weiterer Schwachpunkt gegenüber des NRW-Datensatzes ist, dass Merkmale ab dem Schuljahr 2015/16 ungenauer erhoben werden. Das Zuwanderungsalter wird demnach nicht mehr wie zuvor nach Altersstufen ausdifferenziert und ebenfalls wird keine Unterscheidung mehr nach der Anzahl der zugewanderten Elternteile in die Erhebung aufgenommen (Kemper 2017, S.105).
Sowohl die Definition der Kultusministerkonferenz als auch die Definition des Landes NRW wurden auf die zentralen Merkmale zur Bestimmung des Migrationshintergrundes untersucht. Die unterschiedlichen Erhebungsmerkmale weisen bei beiden Definitionen Kritikpunkte auf. Im Weiteren wird eine wissenschaftliche Sicht auf die Merkmale geworfen, um den Effekt der Merkmalszusammenstellung auf Analyse und Statistiken zu verdeutlichen. Bei der politischen Sichtweise wird auf die Theorie von Ingram und Schneider näher eingegangen, um darzustellen, welche Auswirkung die unterschiedlichen Bildungserfolg Ergebnisse von Schüler mit Migrationshintergrund in der Politik haben kann.
2.2 Wissenschaftliche Merkmale
Das Erhebungskonzept zur Bestimmung des Migrationshintergrundes des Landes NRW wurde ab dem Schuljahr 2015/16 reduziert. Das Zuwanderungsalter wird nicht nach Altersstufen ausdifferenziert und es findet keine Unterscheidung mehr bezüglich der Anzahl der zugewanderten Elternteile statt (Kemper 2017, S.105). Der geringe Nutzen einer weitergehenden Differenzierung, welche das Statistische Landesamt als Grund nennt, kann von der wissenschaftlichen Warte aus nicht geteilt werden. Das Zuzugsalter steht in Abhängigkeit mit der besuchten Schulform und weist dahin gehend Unterschiede auf (Kemper 2017, S.105). Der Aufwand der Erhebung von Elterninformation konnte bis jetzt nur Stichproben basiert realisiert werden, beispielsweise im Rahmen einer PISA-Studie 2012. Der Definition zufolge lag ein Migrationshintergrund vor, wenn mindestens ein Elternteil im Ausland geboren worden ist (Gebhardt et al. 2013, S.277).
Aus analytischer Sichtweise würde eine Individualstatistik mit denselben Merkmalen, wie NRW sie erhebt weitere interessante Operationalisierungen des Migrationshintergrundes erlauben, als die Aggregatdaten. Der Begriff Migrationshintergrund könnte mit der Merkmalszusammenstellung auf Individualebene weiter gefasst werden, jedoch immer mit der Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit. Die Frage: Wie viele Schüler der dritten Generation innerhalb der Zweiten Generation sind, könnte geprüft werden? Durch die Erhebungstechnik werden Schüler in NRW der zweiten Generation zugeordnet, wenn sie einen Migrationshintergrund aufweisen, aber nicht selbst zugewandert sind. Die Schlussfolgerung wäre, dass auch Schüler, in einen quantitativ geringen Umfang, eine nichtdeutsche Familiensprache haben, nicht zugewandert sind und die Elternteile ebenfalls nicht zugewandert sind (Kemper 2017, S.105). Aus der wissenschaftlichen Sicht wäre jedoch eine Erfassung der Verkehrssprache zusätzlich neben der Muttersprache sinnvoll, um eine Vergleichbarkeit vom Migrationshintergrund zur KMK-Definition zu besitzen (Kemper 2016, S.12).
In Schulleistungsstudien wird der Generationsstatus herangezogen in dem bei der Erhebung eine Angabe zum eigenen Geburtsland und dem der Eltern, gegeben falls noch den der Großeltern, gemacht wird (Gresch u. Kirsten 2011, S.212). Bei der Aufteilung der Generationenfolge ist zu erwarten, dass eine Angleichung in den Merkmalen von Zugewanderten und Mehrheitsbevölkerung stattfindet, da sie zum Teil der Assimilationsperspektive folgt. Die Unterscheidung der Genrationsfolge ist dabei immer abhängig vom Forschungsgegenstand, welcher in der Analyse berücksichtigt werden muss (Gresch u. Kirsten 2011, S.212). Durch eine Verknüpfung von Herkunft und Generationenstatus können „Migrationsströme in der generationalen Zusammensetzung einzelner Gruppen identifiziert werden“ (Gresch u. Kirsten 2011, S.212). Zusätzlich kann dargestellt werden, wie Integrationsprozesse für einzelne Herkunftsgruppen verlaufen und die Unterschiedlichkeit zwischen den Gruppen in der Generationsfolge. Trotz des Mehrwertes einer Verknüpfung von Herkunft und Generationsstatus ist die Umsetzung derzeit nicht standardgemäß (Gresch u. Kirsten 2011, S.212). „Welche Konsequenzen sind bei diesen unterschiedlichen Operationalisierungsstrategien für Einschätzungen zur Bildungsbeteiligung von Migranten und ihren Nachkommen zu erwarten?“ (Gresch u. Kirsten 2011, S. 212). Diese Fragestellung wird im Laufe des Forschungsprojektes nur am Rande beantwortet werden. Die Frage spielt in die behandelte Forschungsfrage mit ein, der Schwerpunkt unterscheidet sich jedoch. Die daraus ableitende Schlussfolgerung ist aber ähnlich: Wissenschaftliche Studien kombinieren unterschiedliche Merkmale zur Erhebung des Migrationshintergrundes. Dennoch zeigt sich, dass zu Erhebung des Migrationshintergrundes in amtlichen Statistiken und in der Bildungsforschung nicht ausnahmslos die gleichen Merkmale miteinander kombiniert werden (Kemper 2010, S.315). In diesem Abschnitt wurde der wissenschaftliche Standpunkt näher betrachtet. Das Ergebnis ist, dass eine möglichst differenzierte Erfassung der zugewanderten Bevölkerung zu Forschungszwecken hilfreich sein kann, aber ebenfalls für eine angemessene Bildungsplanung (Kemper 2010, S.316).
Auf den Aspekt der Bildungsplanung, in Bezug auf die Erfassung des Migrationshintergrundes, wird aus politischer Sichtweise näher eingegangen. Um die Politischen Handlungen zu verdeutlichen, wird die Theorie von Ingram und Schneider als Grundbasis hinzugezogen.
2.3 Politische Merkmale
Das soziale Konstrukt des Bildungserfolg von migrationshintergründigen Schülern bezieht sich in der Theorie auf zwei Merkmale:
„(1) das Erkennen der gemeinsamen Merkmale, die eine Zielpopulation als sozial bedeutsam auszeichnen, und (2) die Zuordnung spezifischer, valenzorientierter Werte, Symbole und Bilder zu den Merkmalen.“
(Ingram und Schneider 1993, S.335).
Durch die Politik, Sozialisation, Medien und Religion werden soziale Konstrukte geschaffen, die wir als Stereotypen über eine bestimmte Gruppe von Menschen, kennen (Ingram und Schneider 1993, S.335). Der Stereotyp stellt den Bildungserfolg von Schüler mit Migrationshintergrund dar, wobei die Annahme ist, dass diese Gruppe an bestimmten Menschen schlechter abschneidet, als Schüler ohne Migrationshintergrund. Das soziale Konstrukt ermöglicht die Basis, dass Schüler mit Migrationshintergrund als benachteiligte Menschen dargestellt werden, „deren Armut nicht ihre Schuld ist, oder als faule Personen, die von der harten Arbeit anderer Menschen profitieren.“ (Ingram und Schneider 1993, S.335). Die Annahme, dass ein geringerer Bildungserfolg häufiger bei Schülern mit Migrationshintergrund zu finden ist, kann als messbare Variable für das Verständnis der komplexen Beziehung zwischen demokratischer Regierungsführung und der öffentlichen Ordnung genutzt werden. Denn alle Faktoren stehen in einem Zusammenhang miteinander. Demnach kann die Regierungsführung beeinflusst werden, je nach dem wie die öffentliche Ordnung auf diese einwirkt. Ein zentrales Merkmal ist der Bildungserfolg, liegt dieser hoch oder niedrig bei Schüler mit Migrationshintergrund, hat es demnach Auswirkung auf die Gestaltung der Förderung.
Die Theorie von Ingram und Schneider (1993) basiert auf der Frage, wie Politik die Demokratie beeinflusst. Die Überlegung wird mit der Bildung von sozialen Konstrukten weitergeführt, in dem sie implizieren, was für eine Politik erforderlich ist, um Demokratien in der Gesellschaft zu bedienen (Ingram und Schneider 1993, S.343). Die Messung des Bildungserfolges und der Anteile der Schüler mit Migrationshintergrund ist entscheidend, um nachzuvollziehen, welche Politik am wahrscheinlichsten logisch oder unlogisch ist in ihrer Handlung. Die Bildung von sozialen Konstrukten wirkt sich auf die Zielsetzung, die Strategien sowie die Umsetzung innerhalb der Politik auf die Zielpopulation aus (Ingram und Schneider 1993, S.345).
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1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/entwicklungspolitik/menschenrechte/kinder-sind-unsere-zukunft-346624 Letzter Zugriff: 21.09.2020
2 https://de.statista.com/themen/250/schule/#dossierSummary__chapter2 Letzter Zugriff: 21.09.2020
3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/235965/umfrage/anteil-auslaendischer-schueler-an-allgemeinbildenden-schulen-in-deutschland/ Letzter Zugriff: 21.09.2020
4 „Durch die Geburt erwirbt ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Ist bei der Geburt des Kindes nur der Vater deutscher Staatsangehöriger und ist zur Begründung der Abstammung nach den deutschen Gesetzen die Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft erforderlich, so bedarf es zur Geltendmachung des Erwerbs einer nach den deutschen Gesetzen wirksamen Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft; die Anerkennungserklärung muß abgegeben oder das Feststellungsverfahren muß eingeleitet sein, bevor das Kind das 23. Lebensjahr vollendet hat.“ (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2000, §4 Absatz 1, S.1-2).
5 Aggregatdaten entstehen, in dem Individualdaten zusammengefasst werden.