Um die Frage, ob eine „letzter Wille Pille“ als würdiger Ausweg aus dem Leben wünschenswert ist, zu beantworten möchte ich zunächst den Begriff Sterbehilfe genauer eingrenzen und die „letzte Wille Pille“ entsprechend einordnen. Danach werde ich auf die aktuelle gesetzliche Lage in Bezug auf die Sterbehilfe in Deutschland eingehen. Diese sollte einen Schluss auf die öffentliche ethische Einschätzung der Sterbehilfe zulassen, da sich unsere Gesetze ja (hoffentlich) an unserem moralischen Kompass orientieren. Danach möchte ich überprüfen, ob die Ausgabe einer „letzter Wille Pille“ mit dem Georgetown-Mantra von Childress und Beauchamp vereinbar oder unter entsprechenden Umständen vielleicht sogar geboten ist. Ein starkes und häufig gebrachtes Argument gegen die Legalisierung der Sterbehilfe ist der Normschutz. Ich möchte meinen Geist diesbezüglich erhellen und dann mit diesem auch dieses Argument beleuchten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Definition der Sterbehilfe nach Bettina Schöne-Seifert
2.1.1 Aktive Sterbehilfe
2.1.2 Passive Sterbehilfe
2.1.3 Indirekte Sterbehilfe
2.1.4 Beihilfe zum Suizid
2.2 Anwendung des Georgetown Mantra / Prinzipienethik
2.2.1 Das Prinzip Autonomie (respect for autonomy)
2.2.2 Das Prinzip Schadenvermeidung (nonmaleficience)
2.2.3 Das Prinzip Fürsorge (beneficience)
2.2.4 Das Prinzip Gerechtigkeit (justice)
2.3 Bedingungen echter Dammbruchrisiken nach Bettina Schöne-Seifert
3 Fazit und Ergebnis
4 Quellen und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Sollten wir des Lebens müden Menschen einen legalen und würdigen aber künstlichen Ausweg aus dem Leben schaffen? Um diese Frage soll es in dieser Hausarbeit gehen. Der eigene Tod ist wahrscheinlich für die meisten Menschen nicht besonders erstrebenswert. Dementsprechend beschäftigen wir uns eher selten damit. Manche Menschen allerdings scheinen den Tod als mindestens das kleinere Übel zu bewerten. Insbesondere diejenigen, die dem natürlichen Ende ihres eigenen Lebens alters- oder krankheitsbedingt bereits relativ nahe gekommen sind. Eben jene wollen ihrem natürlichen Tod besonders häufig zuvor kommen, in dem sie selbst Hand anlegen. (Das Wort ‚natürlich‘ nutze ich an dieser Stelle vollständig ohne Wertung.) Das jedenfalls, geht aus einer Statistik des statistischen Bundesamtes über die Rate der Selbsttötungen in Deutschland nach Altersgruppen hervor:
„Im Jahr 2017 belief sich die Selbstmordrate in Deutschland auf 11,2 Suizide je 100.000 Einwohner. Damit ist die Rate gegenüber dem Vorjahr leicht gesunken. Unverändert steigt die Suizidrate mit voranschreitendem Alter deutlich an: liegt sie bis zum Alter von 45 Jahren unter dem Bundesdurchschnitt, steigt sie bis zum 70. Lebensjahr auf rund 15 je 100.000, um schließlich in der Altersgruppe der über 85-Jährigen auf über 30 je 100.000 anzuwachsen.“ (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318224/umfrage/selbstmordrate-in-deutschland-nach-altersgruppe/)
Diese Statistik zeigt also auf, dass das Thema eine besondere Relevanz hat, insbesondere für jene Menschen die bereits 70 Jahre und länger leben.
Geht es um Sterbehilfe im Allgemeinen, gibt es in der Hauptsache zwei Lager: Die einen fordern, dass die sterbenden Menschen besser begleitet werden, sodass das Bedürfnis nach Sterbehilfe seltener wird; die anderen streben ein weiter gehendes juridisches und moralisches Recht auf Sterbehilfe an, um dem Sterben mehr Würde zu verleihen (vgl. Schöne-Seifert „Einführung in die Medizinethik“ S. 110).
Sollte also jenen Menschen, deren Erwartungen an ihr restliches Leben so gering sind, dass sie dieses lieber nicht mehr erleben möchten, ein einfacher und legaler Ausweg aus dem Leben ermöglicht werden?
Prüfen möchte ich das Szenario „letzter Wille Pille“ oder auch „Pille von Drion“. Ein Konzept das in den Niederlanden immer wieder diskutiert wird, seit es 1991 von dem Rechtsanwalt Huib Drion erstmals vorgeschlagen wurde (vergleiche NRC Handelsblad vom 19.10.1992). In seinem Aufsatz schreibt er, dass es Situationen gibt in denen der Tod dem Leben vorzuziehen ist. Auch sei es egal, ob es sich um alte Menschen, unheilbar kranke oder psychiatrische Patienten handelt. Er wünscht sich eine todbringende Pille, als humane Alternative zu den „üblichen“ unannehmbaren und schrecklichen Methoden sich das Leben zu nehmen. (vgl. Huib Drion „Het zelfgewilde einde van oude mensen" S. 28). In dieser Hausarbeit möchte ich also überprüfen, ob die Bereitstellung einer solchen Pille moralisch geboten ist, oder nicht und mit welchen Risiken oder möglichen Vorteilen die Freigabe einer solchen Pille verbunden ist.
Angelehnt an einen Artikel aus der Zeitung Rheinische Post vom 09. Juni 2016 (https://rp-online.de/politik/niederlande-erwaegen-suizidpille_aid-18446017) möchte ich in dieser Hausarbeit von folgenden Eigenschaften der Pille und ihrer Vergabe ausgehen: Die Pille könnte nach Aufklärung und Beratung durch einen Arzt oder eine Ärztin oder anderes geeignetes medizinisches Personal für jeden Menschen erhältlich gemacht werden. Es könnte auch eine Altersgrenze eingeführt werden. Allerdings könnte es Schwierigkeiten geben, eine solche Altersgrenze zu rechtfertigen. Erstens vor einem Teil der Menschen oberhalb dieser Altersgrenze – diese könnten sich diskriminiert und im schlimmsten Fall zur Selbsttötung gedrängt fühlen – andererseits vor jüngeren suizidalen Menschen, denen lediglich auf Grund ihres Alters die Chance auf ein humanes selbstbestimmtes Ende verwehrt oder erschwert wird. Es ginge bei der Altersbegrenzung um die Minimierung solcher Fälle, in denen möglicher Weise aus einer Kurzschlussreaktion heraus gehandelt wird. Dabei soll sie nicht so interpretiert werden, dass man den unüberlegten Suizid eines älteren Menschen eher in Kauf nimmt, als den eines jüngeren. Die Gleichwertigkeit aller Menschenleben steht ausser Frage. Ich denke es kann nur davon ausgegangen werden, dass der Suizid einer älteren Person eher wohl überlegt ist, als der Suizid einer jüngeren. Eine weitere Methode um Kurzschlussreaktionen auszuschließen könnte sein, dass die Pille aus zwei Teilen besteht, welche mit einem zeitlichen Abstand von wenigen Stunden genommen wird. Erst der zweite Teil leitet den Tod ein. So würde den Suizidenten Bedenkzeit gegeben, bevor sie sich tatsächlich das Leben nehmen.
Auch der Missbrauch der Pille sollte ausgeschlossen werden. Um dem Missbrauch der Pille durch Dritte vorzubeugen, könnte zum Beispiel ein Safe zur Verwahrung der Pille vorgeschrieben sein.
In dieser Abhandlung soll es sich also um eine Pille handeln, welche nach eingehender Aufklärung ausgehändigt wird. Sie führt bei Einnehmen des zweiten Teils zum Tot, vorausgesetzt der erste Teil wurde wenige Stunden vorher bereits eingenommen. Die Anwesenheit eines Arztes ist bei der Einnahme nicht erforderlich. Außerdem möchte ich die Personengruppe der Bezugsbefähigten auf alte Menschen (70 Jahre und älter) beschränken und jene, die ohne Aussicht auf Heilung tödlich erkrankt sind. Bei jüngeren, nicht terminal erkrankten Menschen sollte meines Erachtens eine noch eingehendere Überprüfung der Situation erfolgen, um auszuschließen, dass sie nicht alle Alternativen bedacht haben. Diese Auswahl an Bedingungen treffe ich an dieser Stelle nicht ausschließlich nur aus Gründen der inhaltlichen Eingrenzung dieser Arbeit, sondern auch intuitiv scheint mir diese Eingrenzung zunächst sinnvoll zu sein.
Ob es ethisch vertretbar ist oder nicht oder sogar wünschenswert oder nicht, bei der Vergabe einer solchen Pille auf eine Altersbegrenzung zu verzichten, ist eine Frage, auf die ich in dieser Hausarbeit nicht näher eingehen möchte. Nur soviel sei gesagt: Ein Hauptargument gegen die Einführung eines Mindestalters bzw. die Definition einer für den Erhalt einer solchen Pille notwendigen Lebenssituation ist, dass möglicher Weise eine Erwartungshaltung an die alten oder unheilbar tödlich erkrankten Menschen entsteht, ihrem Leben den Mitmenschen zuliebe ein frühzeitiges Ende zu setzen. Selbstverständlich ist ein Umgang mit der entsprechenden Menschengruppe der das Gegenteil gewährleistet Grundvorraussetzung, um die Legalisierung einer „letzter Wille Pille“ in Erwägung zu ziehen. Deshalb gehe ich in dieser Hausarbeit davon aus, dass diese Grundvoraussetzung beispielsweise durch die Einrichtung von mehr Palliativstationen, erfüllt ist. Sowieso ist es mir ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass ich selbstverständlich der Meinung bin, niemand sollte sterben wollen und der beste Weg ist, auch wenn sich Argumente dafür finden ließen, nicht eine zum Tot führende Pille, sondern eine so geartete Betreuung, dass niemand der nicht unmittelbar sterben muss, sterben möchte.
Um die Frage, ob eine „letzter Wille Pille“ als würdiger Ausweg aus dem Leben wünschenswert ist, zu beantworten möchte ich zunächst den Begriff Sterbehilfe genauer eingrenzen und die „letzte Wille Pille“ entsprechend einordnen. Danach werde ich auf die aktuelle gesetzliche Lage in Bezug auf die Sterbehilfe in Deutschland eingehen. Diese sollte einen Schluss auf die öffentliche ethische Einschätzung der Sterbehilfe zulassen, da sich unsere Gesetze ja (hoffentlich) an unserem moralischen Kompass orientieren. Danach möchte ich überprüfen, ob die Ausgabe einer „letzter Wille Pille“ mit dem Georgetown-Mantra von Childress und Beauchamp vereinbar oder unter entsprechenden Umständen vielleicht sogar geboten ist. Ein starkes und häufig gebrachtes Argument gegen die Legalisierung der Sterbehilfe ist der Normschutz. Ich möchte meinen Geist diesbezüglich erhellen und dann mit diesem auch dieses Argument beleuchten.
2 Hauptteil
2.1 Definition Sterbehilfe nach Bettina Schöne-Seifert
Die Medizinethikerin und Professorin Bettina Schöne-Seifert erklärt den Begriff Sterbehilfe folgendermaßen: „Die Bezeichnung Sterbehilfe [sollte] suchen Handlungen und Unterlassungen vorbehalten bleiben, die darauf abzielen, im Interesse eines schwerkranken Patienten dessen Tod zuzulassen oder herbeizuführen[…].“ (Grundlagen der Medizinethik, Schöne-Seifert S. 114). Die Ausgabe einer „letzter Wille Pille“ ist demnach als eine Form der Sterbehilfe einzuordnen. Die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe können ethisch und rechtlich gesehen durchaus unterschiedlich bewertet werden. Ich möchte also erörtern, um welche Form der Sterbehilfe es sich bei der Pille von Drion handelt.
In Ihrem Buch mit dem Titel „Grundlagen der Medizinethik“ unterteilt Bettina Schöne-Seifert die Sterbehilfe etwas konkreter in aktive -, passive- und indirekte Sterbehilfe, so wie in Beihilfe zum Suizid. Diese Unterteilung genießt allgemeine Anerkennung und man könnte meinen, auch das Strafgesetzbuch (StGb) bediene sich gewissermaßen dieser Unterteilung. Um die Einführung einer „letzter Wille Pille“ gesetzlich und ethisch einordnen zu können möchte ich also zunächst auf vier Formen der Sterbehilfe kurz eingehen und überprüfen, wie diese Formen der Sterbehilfe rechtlich zu bewerten sind, bzw. wie das Strafgesetzbuch und damit der Staat und damit theoretisch die Öffentlichkeit zu der Pille Stünde bzw. steht, wenn die Pille von Drion unter diese Kategorie der Sterbehilfe fiele.
2.1.1 Aktive Sterbehilfe
Als aktive Sterbehilfe (auch aktive direkte Sterbehilfe genannt) werden „[…] alle Tätigkeiten, die den Tod eines Patienten herbeiführen, bzw. den Sterbeprozess einleiten bezeichnet. Beispielsweise das Verabreichen einer tödlichen Überdosis von Insulin oder Barbituraten […]“ (Schöne-Seifert, S. 114).
Das bloße Bereitstellen einer terminierenden Pille kann hier nicht eingeordnet werden. Immerhin bleibt es dem Patienten selbst überlassen, ob er oder sie die Tablette auch tatsächlich einnimmt oder nicht.
Aktive Sterbehilfe steht in Deutschland nach wie vor unter Strafe. Der §216 Tötung auf Verlangen besagt: „(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.“ (https://dejure.org/gesetze/StGB/216.html) Da es sich bei der Pille von Drion aber nicht um aktive Sterbehilfe handelt, lässt sich aus dem Verbot der aktiven Sterbehilfe auch kein Schluss auf die rechtliche Einschätzung der Pille von Drion ziehen.
2.1.2 Passive Sterbehilfe
Als passive Sterbehilfe wird der Behandlungsverzicht und damit das Zulassen des Sterbens eines Patienten verstanden. Dazu zählt das Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen, so wie das abbrechen ebensolcher. Das Unterlassen von Herzrhythmus Massagen beispielsweise ist also genauso Sterbehilfe, wie das Abschalten von Geräten die dem Lebenserhalt dienen, vorausgesetzt der Patient hat vorher einen entsprechenden Wunsch geäußert (vgl. Schöne-Seifert S. 114).
Bricht also ein Arzt oder eine Ärztin eine lebenserhaltende Maßnahme ab, wird das als Unterlassen durch Tun eingestuft. Hat der Patient dieses Verhalten zuvor z.B. in einer Patientenverfügung gewünscht, so ist dieses Verhalten in Deutschland nicht verboten. Jedenfalls lässt sich im Strafgesetzbuch kein Paragraph mit gegenteiliger Aussage finden. Passive Sterbehilfe ist direkt mit einem Unterlassen verbunden. Das Bereitstellen eines tödlichen Medikaments hat so wenig mit Unterlassen zu tun, dass ich an dieser Stelle auf die rechtliche Einstufung nicht näher eingehen möchte als bisher geschehen.
2.1.3 Indirekte Sterbehilfe
Unter indirekter Sterbehilfe (auch aktive indirekte Sterbehilfe genannt) werden Maßnahmen verstanden, die nicht in erster Linie dem Einleiten eines Sterbeprozesses dienen, sondern primär aus der Motivation der Schmerzlinderung heraus verabreicht werden. Die Beschleunigung des Sterbevorganges wird dabei lediglich als Nebeneffekt in Kauf genommen und gilt nicht als Motivation für das so geartete Handeln (vgl. Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 114).
In der Revision eines Urteils vor dem Bundesgerichtshof wurde am 15. November 1996 indirekte Sterbehilfe erstmals in Deutschland als zulässig erklärt. Im zweiten Leitsatz heißt es hier:
„Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen wird bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, daß sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann (BGH 3 StR 79/96 - Urteil vom 15. November 1996 (LG Kiel) – https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/3/96/3-79-96.php3).
Mit anderen Worten, indirekte Sterbehilfe ist hier als nicht unzulässig eingestuft worden. Mir ist nicht bekannt, dass seit dem zitierten Gerichtsurteil ein anderes Urteil die Indirekte Sterbehilfe als unzulässig erklärt hat.
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