Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde im Zuge der Erzberger‘schen Steuer- und Finanzreformen ein neues, weitreichend reformiertes Steuerrecht für die Weimarer Republik geschaffen. Dieses stellte unter anderem eine Reaktion auf die angespannte fiskalische Situation des Reichs dar. Die Reichsabgabenordnung von 1919 sollte das Mantelgesetz dieses neuen Steuerrechts sein, allgemeine Grundsätze enthalten und so die einzelnen Steuergesetze entlasten und einheitliche Rechtsanwendungsstandards gewährleisten.
§ 4 RAO, die bis dahin einzige Rechtsanwendungsnorm des deutschen Rechts, spielte eine maßgebliche Rolle bei der Schaffung einheitlicher Rechtsanwendungsstandards im deutschen Steuerrecht. Normiert wurde darin unter anderem die wirtschaftliche Betrachtungsweise. Ferner mahnte die Vorschrift zur Berücksichtigung des Zwecks und stärkte so die Rolle der teleologischen Gesetzesauslegung im Steuerrecht im Allgemeinen. Für jenes bedeutete § 4 RAO damit einen Siegeszug der Interessenjurisprudenz. Beim RFH, der die Norm in der Folgezeit so häufig wie kaum eine andere anwandte, stellte sich eine freiere Rechtsanwendungspraxis ein. In der Folge dieser freieren Rechtsanwendungspraxis emanzipierte sich das Steuerrecht als Teilrechtsgebiet mit eigenständiger Zwecklogik insbesondere vom Zivilrecht.
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Historischer Kontext
A. Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz
B. Steuerrecht bis 1919
C. Finanzielle Lage des Deutschen Reichs infolge des Krieges
D. Geänderte Staatsauffassung
Entstehung von § 4 im historischen Kontext
A. Errichtung des RFH und der Reichsfinanzverwaltung
B. Entstehung der RAO und Diskussionen um § 4
§ 4 und die steuerrechtliche Rechtsanwendung
A. Neue steuerrechtliche Rechtsanwendung
I. Berücksichtigung oberster Besteuerungsgrundsätze
II. Einfluss der Interessenjurisprudenz
III. Berücksichtigung der Entwicklung der Verhältnisse
IV. Wirtschaftliche Betrachtungsweise
V. Typisierende Betrachtungsweise
VI. Weite und enge Auslegung
VII. § 4 und § 5
VIII. § 4 und § 80 I 1
IX. Umgang mit Befreiungs- und Ausnahmevorschriften
X. Umgang mit Verfahrensvorschriften
XI. Handhabung von Rechtsbegriffen anderer Rechtsgebiete
B. Emanzipation des Steuerrechts vom Zivilrecht
Schluss
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Kautschuk ist der einzige Stoff, mit dem der Jurist arbeiten kann.“1
- Albert Hensel
Einleitung
Das heutige Steuerrechtssystem ist ohne die Erzberger’schen Steuer- und Finanzreformen nach Ende des Ersten Weltkriegs nicht denkbar. Geschaffen wurden seinerzeit die Grundstrukturen der heutigen Steuerrechtsordnung.2
Eine der wesentlichen Institutionen jener Reformen, die Reichsabgabenordnung von 1919,3 hat in Teilen bis dato Bestand - in Form der AO.
Eine der Normen dieses Werkes wiederum soll nunmehr Gegenstand der Betrachtung sein. Enno Becker, der Schöpfer der RAO, bezeichnete jene gar als deren Herzstück.4 Gemeint ist § 4,5 welcher vorschrieb:
„Bei Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“6
Die Norm beschäftigte sich augenscheinlich mit den Denkvorgängen bei Auslegung und Anwendung der Steuergesetze und stellte insofern ein Unikum innerhalb der deutschen Rechtsordnung dar.
Um die Rolle von § 4 für die Rechtsanwendung im Steuerrecht abzubilden, wird die vorliegende Arbeit zunächst den historischen Kontext zu untersuchen haben, in welchem die Norm erging. Sodann wird der Gesetzgebungsprozess zu betrachten sein, um herauszustellen, auf welche Weise um deren Ausgestaltung gerungen wurde. Schließlich werden deren Auswirkungen auf die Rechtsanwendung im Steuerrecht und die mit der hierdurch angestoßenen Entwicklung steuerrechtlicher Rechtsanwendung einhergehende Entwicklung des Steuerrechts selbst innerhalb der Gesamtrechtsordnung zu untersuchen sein, wobei auch begünstigende Umstände nicht verschwiegen werden sollen.
Historischer Kontext
Die normativen Postulate der Steuerrechtswissenschaft sind nicht mit einem Mal erdacht und installiert worden. Sie sind zuvorderst auf geschichtlichem Boden gewachsen. Sollen die Auswirkungen der Methodennorm des § 4 auf das Steuerrecht untersucht werden, so ist zunächst der historische Kontext, in dem sie erging, zu beleuchten.
A. Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz
Im 19. Jahrhundert war die Rechtsanwendung weitgehend durch die sog. Begriffsjurisprudenz geprägt. Der Verehrung der im römischen Recht erwachsenen Rechtskultur und Wertungskonsistenz stand ein Misstrauen gegen den zeitgenössischen Gesetzgeber gegenüber. Unternommen wurde der Versuch, eine innere Logik des Rechts zu erarbeiten, die jenes als geschlossenes System erfasst. Zu diesem Zwecke war das Rechtssystem in eine geschlossene, philologisch-logische Begriffspyramide einzubetten versucht worden.7 Der hieraus resultierende Formalismus abstrahierte das Recht jedoch von der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit, welche es zu ordnen berufen war.8
In Konsequenz dieser Dissonanz erwuchs eine Gegenbewegung: Die sog. Interessenjurisprudenz betrachtete das Recht nicht mehr bloß als ein geschlossenes, abstraktes System, durchdrungen von formaler Logik. Das Recht solle sich durchaus auch an Verkehrsbedürfnissen orientieren und die je situativ einander gegenüberstehenden Interessen erforschen.9 Dies indes, ohne die Kraft verbindlicher Gesetze zu leugnen, sondern eben unter Betonung der Notwendigkeit der Berücksichtigung aller relevanten Anhaltspunkte bei Auslegung der Gesetze. Selbst bei vermeintlich klarem Wortlaut solle Rücksicht auf den Zweck und das Ergebnis der Auslegung zu nehmen sein.10 Der Begriff des Rechts nämlich sei, so Ihering, „bekanntlich ein praktischer, d.h. ein Zweckbegriff.“11 Dies erfordere eine Beschäftigung mit der Frage des je nach Kontext intendierten Ordnungsziels.12
B. Steuerrecht bis 1919
Historisch gesehen beschäftigte sich die Rechtswissenschaft erst spät eingehender mit dem Steuerwesen.13 Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde allenfalls das Steuerverfahren juristisch ausgewertet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden steuerrechtlich interessierte Juristen folglich ein immer noch weitgehend unbearbeitetes Gebiet vor.14
Vor Geltung der WRV ferner lagen die steuerrechtlichen Kompetenzen weitestgehend bei den einzelnen Gliedstaaten des Reichs.15 Zwar war bereits ab der Jahrhundertwende eine Tendenz der Verfassungsentwicklung in Richtung des Reichs zu verzeichnen.16 Einheitliche Besteuerungsprinzipien waren indes nicht elaboriert, was einer juristischen Durchdringung des materiellen Steuerrechts im Wege stand.17 Vor 1919 wurde das Steuerrecht so vor allem als Folgerecht des Zivilrechts aufgefasst, wo auf einen Fundus operablen Vorwissens zurückgegriffen werden konnte.18
C. Finanzielle Lage des Deutschen Reichs infolge des Krieges
Der Status quo verdeutlichte die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung des Steuerrechts sowie von dessen Verwaltung und Rechtsprechung auf Reichsebene bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs.19 Als „Kostgänger der Länder“ litt das Reich, welches sich vor allem durch Zölle, einige direkte Steuern und eben sog. Matrikularbeiträge der Gliedstaaten finanziert hatte, unter chronischer Finanzknappheit.20
Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote lag vor Kriegsbeginn noch bei ca. 8 % des BIP.21 Die erheblichen Kriegskosten hatte das Reich nicht aus eigenen Mitteln, sondern überwiegend schuldenfinanziert – insbesondere über Anleihen.22 Dies in der unerfüllten Erwartung, den Krieg zu gewinnen. So drohte nach Kriegsende der Staatsbankrott: Zu Staatsschulden i.H.v. ca. 150 % des BIP kamen Kosten der Demobilisierung, der Wiederbelebung der zivilen Wirtschaft, der Kriegsopferversorgung sowie die Reparationsforderungen der Siegermächte.23 Das Reich befand sich in einem Zustand katastrophaler Finanznot.24 Eine erhebliche Steigerung der Einnahmen des Reichs war also unumgänglich.25
D. Geänderte Staatsauffassung
Zudem manifestierte sich nach Ende des Ersten Weltkriegs generell eine geänderte Staatsauffassung.26 Insbesondere die WRV ebnete einem Bundesstaat mit wesentlich mehr zentralisierten Kompetenzen dabei den Weg.27 Eine Ausweitung gesellschaftlicher Aufgaben des Staates ferner wirkte sich ebenfalls auf den staatlichen Finanzbedarf aus.28
Entstehung von § 4 im historischen Kontext
Gesucht wurde also insbesondere in Anbetracht der finanziellen Lage des Reichs nach Kriegsende eine neue Steuerrechtsordnung, sodass effizient eine große Steuerlast nach jeweiliger Leistungsfähigkeit auf die Steuerpflichtigen verteilt werden konnte, ohne dabei die Wirtschaft zum Erliegen zu bringen.
Die Erzberger’schen Reformen sind als Reaktion auf diesen Befund zu verstehen. Durch sie vollzog sich eine nahezu vollständige Umgestaltung des deutschen Steuerwesens.29
A. Errichtung des RFH und der Reichsfinanzverwaltung
Die Errichtung des RFH erfolgte im Zuge jener sogar noch vor der Novemberrevolution 1918.30 Bereits im Juli des Jahres hatte der Reichstag seine Zustimmung zu neuen Kriegssteuern von dessen Errichtung abhängig gemacht.31 Dies, um unverzüglich eine reichseinheitliche Rechtsprechung im Steuerrecht herzustellen; durch entsprechende Kompetenzverschiebungen war der RFH fortan für alle wesentlichen Steuerfragen letztinstanzlich zuständig.32
Ferner übernahm das Reich die Verwaltung für fast alle Steuerarten.33 Eine spezialisierte Finanzverwaltung wurde installiert, welcher sodann mit der RAO ein zentral kodifiziertes Verwaltungsrecht bereitgestellt wurde.34
Die Rechtsprechung des RFH gewann für das Steuerrecht einen erheblichen Einfluss insofern sie die Finanzverwaltungspraxis unmittelbar beeinflusste.35 Hensel fand großes Lob für dessen Arbeit. Keine andere Stelle habe zur „fruchtbaren Fortbildung des Steuerrechts [...] so viel beigetragen“ wie der RFH.36
Erzberger’s Reformen brachten so die erstrebte reichsweite Vereinheitlichung mit sich.37 Das Steueraufkommen verdoppelte sich nahezu.38 Nach Inflation und Währungsstabilisierung lag die gesamtwirtschaftliche Steuerquote bei 15 % des BIP.39
B. Entstehung der RAO und Diskussionen um § 4
Der Anstoß zur Schöpfung der RAO war ebenfalls noch von der alten kaiserlichen Administration erteilt worden.40
Der Zustand des bisherigen Steuerrechts hatte zu dem Befund geführt, dass ein Mantelgesetz gefehlt hatte, welches die einzelnen Steuergesetze entlastet, gemeinsame Vorschriften enthält und so für einheitliche Rechtsanwendungsstandards in den einzelnen Steuerarten sorgt.41
Die RAO sollte, so Becker, insbesondere dem Ziel verschrieben sein, effizient Steueraufkommen zu generieren. Die finanzielle Notlage des Reiches habe es geboten, „die Besteuerung streng durchzuführen, alle Löcher zu verstopfen und für eine wirkliche Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sorgen.“42 Zudem sollte die RAO Ausdruck einer geänderten Staatsauffassung sein, denn die Neugestaltung des Abgabenwesens stellte auch einen maßgeblichen Faktor auf dem Weg zu einem modernen, sozialen Rechtsstaat dar.43
Becker, der mit der Erarbeitung eines Entwurfs zur RAO beauftragt worden war, konnte in Anbetracht des Zustandes des Steuerrechts vor 1919 auf keinem vorhandenen Fundament, auf keiner gefestigten steuerjuristischen Begriffsbildung aufbauen.44 Als Arbeitsgrundlagen dienten lediglich die vorhandenen steuerrechtlichen Gesetzestexte, die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts sowie vorhandene Linien der Rechtsprechung zum Steuer- und Verwaltungsrecht.45 Zwischen November 1918 und Ostern 1919 gelang es ihm, einen vorläufigen Entwurf fertig zu stellen.46
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurden im Staatenausschuss unter anderem die weiten Spielräume, die vor allem die §§ 4, 5 und 80 I 1 in gezielter Abkehr von der Prävalenz zivilrechtlicher Begriffsbedeutungen der Rechtsanwendung im Steuerrecht eröffneten, kritisiert. In einer hieraus möglicherweise resultierenden Verselbständigung des Steuerrechts sahen manche eine Gefahr für die Rechtssicherheit und die Einheit der Rechtsordnung.47 Letztlich wurde als Kompromiss S. 2 des Entwurfs zu § 4 und Hs. 2 des Entwurfs zu § 80 I 1 gestrichen.48 Regierungsvertreter wiederum hielten § 4 für unnötig insofern er lediglich Selbstverständliches normiere.49 In den Beratungen der Nationalversammlung schließlich wurde § 4 nicht mehr gesondert erörtert.50
Hensel war der Auffassung, die RAO habe es immerhin vermieden, bislang Ungeklärtes in allzu strenge Formen zu zwängen.51 Gerade in Anbetracht ihrer stellenweisen Unbestimmtheit und Ausdehnbarkeit hielt jener sie für ein brauchbares Arbeitsinstrument für Verwaltung und Rechtsprechung.52 So sei es dem RFH anvertraut gewesen, Unklarheiten in den Steuergesetzen zu beseitigen.53
Letztlich enthielt die RAO ein allgemeines Steuerschuldrecht, Verfahrensrecht und Steuerstrafrecht und leistete zudem mit § 4 einen hermeneutischen Beitrag.54 Speziell § 4 sei, so Becker, dazu da gewesen, den RFH wie auch die Finanzverwaltung zur Durchsetzung des Zwecks der Steuergesetze trotz ggf. unzureichender gesetzlicher Formulierungen anzuhalten.55
§ 4 und die steuerrechtliche Rechtsanwendung
§ 4 war die einzige Methodennorm des deutschen Rechts.56 Ein historisches Vorbild existierte nicht.57 Die Vorschrift sei, so Becker, vor allem aus praktischen Gründen in die RAO aufgenommen worden und könne nur aus ihrer praktischen Bedeutung heraus verstanden werden.58
A. Neue steuerrechtliche Rechtsanwendung
Vor Erlass der RAO war die Rechtsprechung des RFH noch eher zivilrechtsorientiert,59 wohingegen das RG, das vor Gründung des RFH auch in Steuersachen Recht gesprochen hatte, auch früher bereits teilweise zu einer substanzorientierten Rechtsprechung geneigt hatte.60 Dies, obwohl der RFH in einem Gutachten – ebenfalls noch vor Erlass der RAO – bereits von dem steuerrechtlichen Prinzip der Erfassung tatsächlicher Gestaltungen im wirtschaftlichen Leben in Abgrenzung zur bloß formalen Gestaltung gesprochen hatte.61
Mit Erlass der RAO änderte sich die Haltung des RFH in Auslegungsfragen grundlegend,62 was wesentlich auf die Methodennorm des § 4 zurückzuführen ist.63 In RFHE 5, 228 hatte der RFH die Norm erstmals explizit zur Betonung der Eigenständigkeit des Steuerrechts in Auslegungsfragen herangezogen. Entsprechendes fand sich später in zahlreichen Urteilen wieder.64 Insgesamt entwickelte die Rechtsprechung des RFH - es war vor allem der RFH, der zur Anwendung des § 4 berufen war65 - eine deutlich freiere Rechtsanwendungspraxis.66 Die Norm leistete Orientierung in einer Zeit, in der es der steuerrechtlichen Rechtsanwendung an systematischen Vorarbeiten und operabler Terminologie fehlte.67 In der Folgezeit wurde die Vorschrift so häufig wie kaum eine andere in der Rechtsprechung des RFH herangezogen.68
I. Berücksichtigung oberster Besteuerungsgrundsätze
Heute werden oberste Besteuerungsgrundsätze vor allem dem Grundgesetz entnommen. In der Weimarer Zeit indes beschäftigte sich die Steuerrechtswissenschaft weniger mit Verfassungs- als vielmehr mit Einzelfragen.69 Dies dürfte nicht zuletzt der damals umstrittenen und vielfach verneinten Bindungswirkung der Grundrechte anzulasten sein.70 Überhaupt sollte sich die Erkenntnis der Verfassungsbindung fiskalischer Staatsgewalt erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollends durchsetzen.71 Es wurde vielmehr auf durch die Finanzwissenschaften elaborierte Grundsätze rekurriert,72 denen die Rechtswissenschaft das Feld des Steuerwesens im 19. Jahrhundert weitestgehend überlassen hatte.73 Zur Rechtsanwendung zog der RFH so etwa die Grundsätze der Klarheit und Einfachheit der Besteuerung,74 der Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung75 sowie der Einfachheit und Bequemlichkeit der Besteuerung76 heran.
II. Einfluss der Interessenjurisprudenz
Einen erheblichen Einfluss auf die Normierung wie auch auf die Handhabung von § 4 übte die Interessenjurisprudenz aus. Becker betonte entsprechend, er habe mit der Vorschrift Ihering zum Sieg über dessen wissenschaftliche Gegner verhelfen wollen.77
Die auch in der Weimarer Zeit noch verbreitete Begriffsjurisprudenz sollte überwunden und durch § 4 einer „Verknöcherung des Rechts“ vorgebeugt werden.78 Entsprechend stellte die Norm ein legislatives Parteiergreifen inmitten der damaligen Methodenkontroverse dar.79
Die Ausschaltung von Zweckerwägungen bei der Rechtsanwendung hatte insbesondere die inhaltliche Ausformung von Rechtsbegriffen zur wesensmäßigen Erfassung des jeweiligen Rechtssatzes erschwert.80
Inwiefern ferner Gerichte auch rechtsschöpferisch tätig werden können, beurteilte sich je ausgehend von formaljuristischen Prämissen oder aber jenen der Interessenjurisprudenz fundamental unterschiedlich.81
Entsprechend sollte § 4, der explizit zur Berücksichtigung des Zwecks der Steuergesetze mahnte, dem RFH eine „weitherzige Prüfung des Falls“ auch zur Ausarbeitung von Richtlinien zur effektiven Erfassung der Besteuerungsgrundlage ermöglichen.82
Nunmehr sollte der Zweck der Norm Ausgangspunkt der Begriffsbildung sein.83 Dies galt insbesondere für das Steuerrecht, welches sich deutlich konturierte Begrifflichkeiten erst noch zu erarbeiten hatte.84
So läutete die Norm für das Steuerrecht den Übergang von der Begriffs- zur Interessenjurisprudenz ein.85
III. Berücksichtigung der Entwicklung der Verhältnisse
§ 4 wies zudem dazu an, bei Auslegung der Steuergesetze die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. Becker zufolge sollte dies der Fortentwicklung des Steuerrechts durch die Rechtsprechung dergestalt dienen, dass bei der Auslegung dem Willen des historischen Gesetzgebers keine entscheidende Rolle mehr beigemessen werde.86 Zu beachten sollte die Entwicklung geltenden Rechts87 wie auch der tatsächlichen Verhältnisse88 sein.
IV. Wirtschaftliche Betrachtungsweise
Eine häufig mit § 4 in Verbindung gebrachte – vermeintliche – Rechts- anwendungsbesonderheit des Steuerrechts stellt die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise dar.89 Bezeichnenderweise wies die Norm zur Beachtung der wirtschaftlichen Bedeutung der Steuergesetze bei deren Auslegung an. Auch anderen Rechtsgebieten ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise indes nicht fremd – insbesondere dem Privatrecht nicht.90 Gemeinhin wird diese aber überwiegend mit dem Steuerrecht in Verbindung gebracht.91
1. Bedeutung und Auswirkungen
Trotz ihres Namens sollten mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht rechtliche Formen wirtschaftlich, sondern wirtschaftliche Formen rechtlich erfasst werden.92 Jene gehe, so Ball, „von den Machtverhältnissen des Lebens“ aus, sei demnach eine Betrachtung des „Ist“.93 Zu würdigen sollte die steuerrechtliche Zwecklogik bei der Rechtsanwendung sein. Maßgeblich für das Steuerrecht ist nämlich insbesondere die Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit,94 wohingegen es dem Zivilrecht um die Abgrenzung von Rechtspositionen geht.95 Somit soll sich die steuerrechtliche Rechtsanwendung an der Erfassung des wirtschaftlichen Gehalts des zu erfassenden Sachverhalts orientieren.96 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise spielte sich insbesondere an der Schnittstelle zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung ab.97
Becker sah in § 4 deren Normierung,98 welche vor allem im Kontext des damaligen Methodenstreits verständlicher wird, insofern die wirtschaftliche Betrachtungsweise gerade der Verwirklichung steuerrechtlicher Zwecklogik diente.99 Gleichwohl hatte jene in der Norm nicht ihren eigentlichen Ursprung, insofern sich Gesetzesauslegung nach de facto wirtschaftlicher Betrachtungsweise in der Judikatur bereits vor Erlass der RAO nachweisen lässt.100 Immerhin aber wurde jene mit § 4 im Steuerrecht verbindlich.101
2. Gesetzesauslegung und Sachverhaltsbeurteilung
Dem Wortlaut nach beschäftigte sich § 4 unmittelbar nur mit der Gesetzesauslegung. In Anbetracht dessen aber, dass der Entwurf der Vorschrift in S.2 vorsah, was § 1 III StAnpG 1934 später ausdrücklich vorschrieb und Becker in der ständigen Rechtsprechung des RFH als ohnehin verwirklicht ansah,102 stellt sich die Frage, welche Rolle Gesetzesauslegung einerseits und Sachverhaltsbeurteilung andererseits in der Rechtsanwendungspraxis des RFH spielten. Obgleich nämlich S.2 der Entwurfsfassung zu § 4 1919 gestrichen worden war, sah Becker ihn implizit gleichwohl in § 4 enthalten und die Sachverhaltsbeurteilung als zweites Element der wirtschaftlichen Betrachtungsweise an.103
Zur Rolle der Gesetzesauslegung in der Rechtsanwendung stellte Brandt allgemein fest, die Würdigung der Umstände des Einzelfalls sei Sachverhaltsauswertung, wohingegen Gesetzesauslegung auf die Gewinnung von Erkenntnissen abziele, die das Verständnis der Norm auch für künftige potenzielle Anwendungsfälle verbessere.104 Jede Gesetzesanwendung gründet auf der Voraussetzung, dass die Lebenswirklichkeit in Gestalt des Sachverhalts der Beurteilung durch das vermutlich anwendbare Gesetz unterworfen wird.105 Wird aber der Lebenssachverhalt auslegenderweise verformt, so ergibt sich die Rechtsfolge nicht mehr aus dem Gesetz, sondern in Wahrheit aus Fiktion.106 Die Maßstäbe zur Beurteilung des Tatsachenstoffs müssen also aus dem Gesetz selbst folgen.107 Die Gesetzesauslegung spielt demnach die maßgebende Rolle bei der Rechtsanwendung. Sie wird von der Methodenlehre geleitet, welche die Rechtsanwendung in solche Bahnen lenken soll, in denen das geltende Recht seinen intendierten Ausdruck findet.108 Somit kann auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise nur als eine Auslegungstechnik verstanden werden, die Gesetze dergestalt mit Sinn füllt, dass jenen der Auftrag der Sachverhaltsauswertung auf das wirtschaftlich Tatsächliche, steuerrechtlich Maßgebliche hin erteilt wird.109 Der so geschärfte Blick auf den Sachverhalt durch den Filter des gesetzlichen Tatbestandes ermöglicht schließlich die Subsumtion.110 Die Frage ist also nicht, ob der Sachverhalt so weit auslegbar ist, dass er zum Gesetz passt, sondern ob das Gesetz durch Auslegung so weit konkretisiert werden kann, dass es auf den Sachverhalt Anwendung findet.111
[...]
1 Hensel, VVDStRL 1927, 63, 72.
2 Bach, StuW 2019, 105.
3 RGBl. 1919 Nr. 242, 1993.
4 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 9.
5 Paragrafen ohne Gesetzesangabe sind solche der RAO 1919.
6 RGBl. 1919 Nr. 242, 1993, 1994. Ab 1931 §9 RAO, s. RGBl. 1931 I, 161. Ab 1934 Umformulierung und Ausgliederung in das StAnpG, § 1, s. RGBl. 1934 I, 925.
7 Haferkamp, 463 ff.; Wieacker, 400 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, 296 f.
8 Heck 1914, 1 ff.
9 Heck 1932, 16 ff., 72 ff.; bereits anklingend auch bei v. Ihering 1866, 126 f.
10 Fuchs, JW 1922, 7 f.
11 v. Ihering 1872, 7.
12 v. Ihering 1904, V ff.
13 Walz, 1 ff.; Ball, VerwArch 31, 308, 309; Nawiasky, LZ 1921, 41, 42 f.
14 Walz, 3 f.
15 Paulick, 32 f.; Bach, StuW 2019, 105 f.; Leidel, 46 f.
16 Ullmann, 60 ff., 72 ff.
17 Offerhaus, UR 1993, 319; Tipke, AöR 94, 224, 226; Ball, VerwArch 31, 308 f.
18 Geiler, StuW 1927, 497, 503 ff.; Ball, StuW 1928, 995, 996 f.; Polland, 7 ff.
19 Kumpf, FS-RFH-BFH 1993, 23 ff.
20 Waldhoff, StuW 2020, 147, 148 f.; Hentschel, in: Conze/Lepsius, 256, 264 ff.
21 Spoerer, in: Rahlf, 102, 106.
22 Schultz, 200 ff.
23 Bach, StuW 2019, 105, 107; Schmoeckel, Rn. 442; Herbert, 189 ff.
24 Walz, 211 f.
25 Heiber, 61.
26 Lion, VJSchrStFR 1927, 132, 140 f.; ders., 1931, 14; Stolleis, Bd. 3, 220 ff.
27 Kaufmann, RuW 1919, 211 ff.; vgl. insb. Art. 8, 11, 14, 83 I, 84 WRV.
28 Weber-Grellet, StuW 2016, 226, 227 f.
29 Hensel, StuW 1924, 963, 970.
30 RGBl. 1918, 959 ff.
31 Lassar, JöR 14, 1, 133.
32 Mellinghoff, StuW 2018, 297.
33 Ullmann, 101 ff.
34 Cordes, 2.; Lassar, AöR 48, 371 f.
35 Becker, StuW 1926, 1357, 1362.
36 Hensel, StuW 1924, 963, 973 f.
37 Weber-Grellet, StuW 2016, 226, 228.
38 Lion 1923, 27 ff.; ders., JW 1921, 1570, 1572 f.
39 Bach, StuW 2019, 105, 108.
40 Cordes, 17; Popitz, StuW 1928, 971, 973.
41 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, Einl., S. 1.
42 Becker, StuW 1924, 145, 162.
43 A. Möller, BF 1 1970, 13, 15.
44 Cordes, 7; Ball 1924, 153.
45 Cordes, 10; Becker, StuW 1924, 1005, 1007.
46 Cordes, 21.
47 Bericht d. Ausschusses zum RAO-E, NationalVers. Bd. 339, Drs. Nr. 1460, 10 ff.
48 Cordes, 42; § 4 S. 2 RAO-E lautete „Dies gilt auch für die Würdigung von Tatbeständen des bürgerlichen Rechts“, wobei „Tatbestände“ im Sinne von „Sachverhalte“ zu verstehen war, vgl. Gersch, Klein AO, § 4, Rn. 25.
49 BT-Drs. 7/4292, 15 f.
50 Cordes, 53.
51 Hensel, VVDStRL 1927, 63, 71; ders., StuW 1924, 963, 975.
52 Hensel, VVDStRL 1927, 63, 72; zustimmend Drüen, StuW 2020, 140, 143.
53 Hensel, RuW 1921, 216.
54 Tipke, AöR 94, 224, 226.
55 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 6.
56 Tipke, AöR 94, 224, 250.
57 Cordes, 45.
58 Becker, StuW 1924, 145, 147.
59 RFHE 1, 69, 70; 1, 126 ff.; 1, 205, 207; 2, 275, 276; Ball 1924, 71; Esser, 16 ff.; Moos, RuW 1919, 206, 207.
60 Bspw. RGZ 74, 186, 189; 84, 17, 21. Diese Tendenz bestand nicht durchgängig, s. dagegen etwa RGZ 77, 238; 79, 191; 83, 22; 83, 288.
61 RFHE 1, Abt. B 51, 55.
62 vgl. etwa RFHE 3, 173, 174; 4, 40; 7, 85, 88 f.; 8, 75, 78; 9, 5, 7; 15, 282, 284.
63 Bühler, BA 1931, 377, 378; Moos, RuW 1919, 206, 208; Osterloh-Konrad, 40.
64 RFHE 7, 258; 8, 21; 9, 276, 278; 9, 347, 348; 10, 22, 23; 11, 219, 224; 13, 236.
65 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 1; Ball 1924, 71 ff.
66 Bühler 1927, 49; Ball, StuW 1928, 995, 996 f.
67 Becker, StuW 1928, 855, 873.
68 Hensel, VVDStRL 1927, 63, 90; ders., FS-Zitelmann 1923, 217, 240.
69 Stolleis, Bd. 3, 225.
70 Kempny, in: Droege/Seiler, 49, 60.
71 Seiler, in: Droege/Seiler, 19, 20.
72 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 8.
73 Waldhoff, in: Droege/Seiler, 63, 68.
74 RFHE 11, 110, 111.
75 RFHE 7, 298, 303; 10, 245.
76 RFHE 11, 333.
77 Becker, RAO 7. Aufl. 1930, § 4 Anm. 1a.
78 Becker, StuW 1924, 1005, 1006.
79 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 3; Hensel, VJSchrStFR 1931, 115, 119.
80 Schwinge, 7 f.
81 Drews, DJZ 1923, 249, 250 f.; Lion, VjSchrStFR 1927, 132, 140 f.
82 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 4; Urbas, 127 ff.
83 Schwinge, 15 f.
84 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 3.
85 Maerz, 22 f.; Urbas, 123 f.; Woerner, FR 1992, 226, 227; Isensee, 83.
86 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 5, 7; ders., StuW 1924, 145, 158; s. auch RFHE 9, 160, 163; 11, 338, 339.
87 RFHE 9, 160, 163.
88 RFHE 10, 218, 220.
89 C. Möller, 64; Eibelshäuser, DStR 2002, 1426, 1428.
90 Beisse, StuW 1981, 1, 6 f.; Cahn, FS-Schmidt 2009, 157, 158 f.; v. Wallis, FS-Bühler 1954, 251, 259 f.; Eulau, 7 ff.
91 Bydlinski, 596; Lehner, FS-Tipke 1995, 237 f.
92 Isensee, 83.
93 Ball 1924, 119.
94 Birk, 1 ff.
95 Gersch, Klein AO, § 4, Rn. 35; Hallerbach, DStR 1999, 2125; Schön, StuW 2005, 247, 249.
96 Ball 1924, 120.
97 Lion, VJSchrStFR 1927, 132, 160.
98 Becker, StuW 1924, 1005, 1009 f.
99 Eulau, 16 ff.; Maerz, 22 f.; Urbas, 124; Woerner, FR 1992, 226, 227.
100 Bspw. RGZ 74, 186, 189.
101 Beisse, StuW 1981, 1, 4. Becker war gar der Ansicht, der RFH habe jene „zum Kernpunkt seiner ganzen Rechtsprechung gemacht“, vgl. StuW 1924, 1005, 1030.
102 Becker, RAO 7. Aufl. 1930, § 4 Anm. 21 ff.
103 Becker, RAO 6. Aufl. 1928, § 4 Anm. 2.
104 Brandt, 89 f.
105 Engisch, 14 f.
106 Brandt, 89.
107 Brandt, 116 ff.
108 Röhl/Röhl, § 77 I; Englisch, Tipke/Lang, § 5, Rn. 48.
109 Brandt, 128 f.
110 Brandt, 110; Engisch, 31 ff., 90; Sauer, 231.
111 Nawiasky 1948, 120 ff.