Analyse des norwegischen Gesundheitssystems. Entwicklung, Organisation und Finanzierung
Zusammenfassung
Die Gesundheitsversorgung in Norwegen ist auf drei wesentlichen Ebenen organisiert: auf nationaler Ebene, in den regionalen Gesundheitsbehörden und in den Kommunen. Das System wird durch eine große Anzahl von Gesetzen und sekundärer Gesetzgebung geregelt, die im Großen und Ganzen den dezentralen Charakter des Gesundheitswesens widerspiegeln. Seit dem Jahr 2000 ist die Lebenserwartung stetig gestiegen und erreichte in 2017 mit 82,7 Jahren eine der höchsten in Europa. Dies lässt sich sowohl auf eine effektive Gesundheitspolitik, die die Prävalenz von Risikofaktoren reduziert hat, als auch auf die Fähigkeit des Gesundheitssystems, der Bevölkerung eine qualitativ hochwertige Versorgung zu bieten, zurückführen. Diese positiven Ergebnisse haben jedoch ihren Preis. Norwegen gibt pro Kopf mehr für Gesundheit aus, als jedes andere EU-Land.
Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Analyse des norwegischen Gesundheitssystems
2.1. Geschichtliche Entwicklung
2.2 Organisation und Steuerung der Versorgung
2.3 Finanzierung
2.4 Besonderheiten des norwegischen Gesundheitssystems
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Norwegen gehört dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) an und ist das nördlichste europäische Land auf der skandinavischen Halbinsel, mit einer Einwohnerzahl von 5,3 Millionen. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt entlang der Küste, hauptsächlich im Südosten und Südwesten des Landes. Die Gesundheitsversorgung in Norwegen ist auf drei wesentlichen Ebenen organisiert: auf nationaler Ebene, in den regionalen Gesundheitsbehörden und in den Kommunen. Das System wird durch eine große Anzahl von Gesetzen und sekundärer Gesetzgebung geregelt, die im Großen und Ganzen den dezentralen Charakter des Gesundheitswesens widerspiegeln. Seit dem Jahr 2000 ist die Lebenserwartung stetig gestiegen und erreichte in 2017 mit 82,7 Jahren eine der Höchsten in Europa. Dies lässt sich sowohl auf eine effektive Gesundheitspolitik, die die Prävalenz von Risikofaktoren reduziert hat, als auch auf die Fähigkeit des Gesundheitssystems, der Bevölkerung eine qualitativ hochwertige Versorgung zu bieten, zurückführen. Diese positiven Ergebnisse haben jedoch ihren Preis. Norwegen gibt pro Kopf mehr für Gesundheit aus, als jedes andere EU-Land. (OECD/European Observatory on Health Systems and Policies, 2019).
Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Analyse des norwegischen Gesundheitssystems unter Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung; der Art der Finanzierung; Organisation und Steuerung des Systems, sowie herausragenden Alleinstellungsmerkmalen des Systems.
2. Analyse des norwegischen Gesundheitssystems
2.1. Geschichtliche Entwicklung
Der Beginn des 20. Jahrhunderts in Norwegen war geprägt von einer Zunahme der öffentlichen Verantwortung für Gesundheitsfragen auf staatlicher und kommunaler Ebene. Mit dem Wachstum der Bevölkerung und der zunehmenden Industrialisierung wurden vor allem in städtischen Gebieten Krankenhäuser gebaut. Diese wurden entweder von freiwilligen Organisationen, der Kirche, den Gemeinden oder dem Staat betrieben. Es entwickelten sich Krankenversicherungssysteme, die auf individuellen Anträgen basierten. Der Practitioners Act von 1912 ermöglichte jedem, unabhängig von Einkommen und Wohnort, den gleichen Zugang zu ärztlichen Leistungen (Ringard, Sagan, Sperre Saunes & Lindahl, 2013). Die gegenwärtige Struktur des norwegischen Gesundheitssystems wurde größtenteils in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert, als die wichtigsten Akteure entstanden: die Gesundheitsdirektion, das Ministerium für Gesundheits- und Pflegedienste, der nationale Versicherungsfond, und die Gesundheitsaufsichtsbehörde. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Organisationsstruktur des Gesundheitswesens auf staatlicher Ebene erheblich. Die 1 Gesundheitsdirektion wurde 1945 innerhalb des Sozialministeriums als Regulierungsinstrument der Mediziner eingerichtet, wobei sowohl die Arbeit des Direktoriums, als auch die Gesundheitspolitik durch den Beveridge-Report des Vereinigten Königreichs inspiriert wurden. Der Gesundheitssektor erlebte eine schnelle Expansion zwischen 1950 und 1970, gefolgt von großen Investitionen parallel zum Wirtschaftswachstum des Landes nach der Entdeckung von Erdölvorkommen in der Nordsee in den 1970er Jahren. Zu dieser Zeit gewannen die Krankenhäuser, durch eine zunehmende Bereitstellung von spezialisierten Dienstleistungen, an Bedeutung. Die Einrichtung des nationalen Versicherungsfonds im Jahr 1967, der 2006 in die norwegische Arbeits- und Wohlfahrtsverwaltung eingegliedert wurde, war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer universellen Abdeckung von Sozialleistungen. Zwischen 1969 und 2002 waren die Provinzen für die Planung, den Bau und das Management von Krankenhäusern verantwortlich, und ab 2002 wurde diese Verantwortung auf die damaligen fünf regionalen Gesundheitsbehörden übertragen. Mit dem Gesetz über kommunale Dienstleistungen aus dem Jahr 1982 wurden für die Gemeinden für die Primärversorgung zuständig, und ihr Aufgabenbereich erweiterte sich allmählich um den umweltbezogenen Gesundheitsschutz und die Bereitstellung von Dienstleistungen für ältere und Menschen mit Behinderungen (Saunes, Karanikolos & Sagan, 2020). Im Jahr 2001 wurde das reguläre Hausarztsystem eingeführt, welches fortan eine freie Hausarztwahl ermöglichte (Ringard et al., 2013). Seit 2008 wurden verstärkte Reformanstrengungen unternommen, um die Koordination zwischen Kommunen und den regionalen Gesundheitsbehörden zu verbessern und um Aspekte der Versorgungsqualität, sowie Patient*innensicherheit zu fokussieren (Saunes et al., 2020).
2.2 Organisation und Steuerung der Versorgung
Norwegen besitzt ein universelles, verstaatlichtes, semi-dezentralisiertes Gesundheitssystem. Die Organisationsstruktur des Gesundheitswesens basiert auf dem Prinzip des gleichen Zugangs zu Dienstleistungen für alle Einwohner*innen, unabhängig von ihrem sozialen oder wirtschaftlichen Status und ihrer geografischen Lage. Dieses übergeordnete Ziel ist seit langem ein Merkmal des norwegischen Wohlfahrtssystems und ist in der nationalen Gesetzgebung und Strategien zur Gesundheitsversorgung verankert. Das System wird von einem öffentlichen Gesundheitsdienst dominiert, dessen Umsetzung auf regionaler und lokaler/kommunaler Ebene stattfindet (Saunes et al., 2020; Tikkanen, Osborn, Mossialos, Djordjevic & Wharton, 2020b). Auf nationaler Ebene dient das Parlament als politisches Entscheidungsgremium. Die norwegische Regierung ist für die Bereitstellung der Gesundheitsversorgung, die Regulierung, sowie für die Finanzierung und Beaufsichtigung der Versorgung, verantwortlich. Zu ihren weiteren Aufgaben zählt die Krankenhaus- und Facharztversorgung, die auf lokaler Ebene über vier regionale Gesundheitsbehörden (Nordnorwegen, Mittelnorwegen, Westnorwegen und Süd-Ost-Norwegen) abgewickelt wird. Die regionalen Gesundheitsbehörden besitzen die Gesamtverantwortung für die Umsetzung der nationalen Gesundheitspolitik durch Planung, Organisation, Management und Koordination der Aktivitäten mit den Krankenhaus -und Apothekenverbänden in ihrer Region (Tikkanen et al., 2020b). Im Bereich der Gesundheitsversorgung gehören zu den Aufgaben der Provinzen zunehmend die Koordination der Versorgung und die Bereitstellung von öffentlichen Gesundheitsdiensten. Darüber hinaus sind die Provinzen für die Sicherstellung des Zugangs der Patienten zu Gesundheits- und Pflegediensten durch die Ombudsstelle zuständig. Bei der Bereitstellung kurativer Gesundheitsdienste ist die Rolle der Provinzen auf die zahnärztliche Versorgung beschränkt. Die Verantwortung für die Verwaltung der Versorgung wird mit den Kommunen über die Gemeinderäte geteilt. Primär-, Präventiv- und pflegerische Versorgung sind lokal organisiert. Die Gemeinden sind für die Bereitstellung und Finanzierung der Grundversorgung, einschließlich Rehabilitation, Physiotherapie und Pflege verantwortlich. Sie sind ebenfalls verantwortlich für ein breites Spektrum an öffentlichen Gesundheits- und Präventionsmaßnahmen, sowie für die Bereitstellung von lokalen Notfallbetten für Patienten mit Bedarf an vor- oder nachstationären Behandlungen (Saunes et al., 2020). Darüber hinaus entscheiden die Gemeinden, oft in Zusammenarbeit mit den Provinzen, über öffentliche Gesundheitsinitiativen oder Kampagnen zur Förderung eines gesunden Lebensstils und zum Abbau sozialer Disparitäten in der Gesundheit. Alle Gemeinden müssen den Zugang zu öffentlich finanzierten physiotherapeutischen Leistungen gesetzlich garantieren. Die Gemeinden sind ebenfalls für die Bereitstellung von Langzeitpflege zuständig, die nicht in der nationalen Sozialversicherung enthalten ist.
Weitere wichtige Funktionen kommen folgenden Akteuren des norwegischen Gesundheitssystems zu:
- Das Norwegische Zentralamt für das Gesundheitswesen fungiert als zentrale Aufsichtsbehörde über das Gesundheits- und Sozialwesen auf nationaler und lokaler Ebene und erhält Anweisungen vom Ministerium für Gesundheitswesen.
- Das Ministerium für Gesundheit- und Pflegedienste legt die nationale Gesundheitspolitik fest, bereitet wichtige Reformen und Gesetzesvorschläge vor, überwacht deren Umsetzung und unterstützt die Regierung bei der Entscheidungsfindung. Als Eigentümer der regionalen Gesundheitsbehörden, die ihrerseits Eigentümer der Krankenhausverbände sind, trägt das Ministerium die direkte Verantwortung für die Bereitstellung der fachärztlichen Versorgung. Es ist auch für die Aufsicht über die Bereitstellung aller anderen Arten von Pflege und deren Koordination verantwortlich.
- Die Gesundheitsdirektion ist für die Umsetzung der nationalen Gesundheitspolitik, mittels gezielter Maßnahmen über alle Dienste, Sektoren und Verwaltungsebenen hinweg, verantwortlich, einschließlich der Entwicklung nationaler klinischer Richtlinien und der Lizenzierung von Gesundheitspersonal.
- Die norwegische Behörde für Gesundheitswirtschaft (Helfo) ist für die Direktzahlungen an die Leistungserbringer und die Festlegung der Erstattungshöhe zuständig.
- Die norwegische Arzneimittelbehörde (Statens legemiddelverk) schützt die Gesundheit von Mensch und Tier, indem sie die Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit von Medikamenten sicherstellt und die Vorschriften für medizinische Geräte verwaltet und implementiert.
- Das norwegische Institut für Public Health erforscht und überwacht die Gesundheit der Bevölkerung, einschließlich der Prävalenz von Krankheiten und der Infektionskontrolle (Saunes et al., 2020; Tikkanen, Osborn, Mossialos, Djordjevic & Wharton, 2020a).
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