In der vorliegenden Arbeit soll der Fokus auf die Frage gerichtet werden, wie eine fortschrittliche, hilfsbereite, unschuldige und an den äußeren Ereignissen im Grunde unbeteiligte Figur in die Rolle des Sündenbocks gerät. Hierzu sollen im Folgenden zunächst Hintergrundinformationen zum Roman und dessen Autorin gegeben werden, bevor der Begriff des Sündenbocks näher definiert und verschiedene Theorien zum Sündenbock-Phänomen ausgeführt und auf den Roman angewandt werden.
In Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs und krisenhafter Zustände, wenn Angst und Unsicherheit zu einem Verlust von Normalität und Kontrolle führen, sind Menschen geneigt, Personen bzw. Personengruppen für ihre Situation verantwortlich zu machen, diese zum Sündenbock zu erklären. Ähnliches widerfährt der Protagonistin in Christa Wolfs Roman "Medea. Stimmen.". Die kolchische Königstochter Medea lebt nach der Flucht mit Jason, dem Schiffsführer der „Argo", in Korinth. Während Jason sich nach und nach mehr am Königshof einfindet, scheint die moderne und selbstbewusste Medea immer mehr die Ablehnung und den Hass der Korinther auf sich zu ziehen. Ausgelöst durch die immer schlechter werdenden Umstände in Korinth wird Medea zum Sündenbock für alle negativen Ereignisse. So kommt es, dass sie schließlich verurteilt und aus der Stadt gejagt wird. Als Medea einige Jahre später erfährt, dass sie nicht nur für jegliche Naturereignisse und die Pest, sondern auch für den von der Bevölkerung begangenen Mord an ihren Kindern verantwortlich gemacht wird, verflucht sie die Stadt und alle verräterischen Korinther.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. THEORETISCHE FUNDIERUNG
2.1 Autorin
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund:
2.3 Mythos
2.4 Theorien zum Sündenbock-Phänomen
3. ANWENDUNG DER SÜNDENBOCK-THEORIEN AUF „MEDEA. STIMMEN“
3.1 Sündenbocktheorie nach Rothschild et al
3.2 Sündenbocktheorie nach Zick (et al.)
3.3. Sündenbocktheorie nach Aronson
4. SCHLUSS
5. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
In Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs und krisenhafter Zustande, wenn Angst und Unsicherheit zu einem Verlust von Normalität und Kontrolle führen, sind Menschen geneigt, Personen bzw. Personengruppen für ihre Situation verantwortlich zu machen, diese zum Sündenbock zu erklären. Ähnliches widerfährt der Protagonistin in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen. Die kolchische Königstochter Medea lebt nach der Flucht mit Jason, dem Schiffsführer der „Argo“, in Korinth. Während Jason sich nach und nach mehr am Königshof einfindet, scheint die moderne und selbstbewusste Medea immer mehr die Ablehnung und den Hass der Korinther auf sich zu ziehen. Ausgelöst durch die immer schlechter werdenden Umstände in Korinth wird Medea zum Sündenbock für alle negativen Ereignisse. So kommt es, dass sie schließlich verurteilt und aus der Stadt gejagt wird. Als Medea einige Jahre später erfährt, dass sie nicht nurfür jegliche Naturereignisse und die Pest, sondern auch für den von der Bevölkerung begangenen Mord an ihren Kindern verantwortlich gemacht wird, verflucht sie die Stadt und alle verräterischen Korinther.
Die faszinierende Gestalt der Medea stammt ursprünglich aus der griechischen Mythologie und fand durch Euripides erstmalig als Kindsmörderin Eingang in die Literatur. Doch in dem 1996 erschienenen Roman erfindet Wolf die Gestalt der Medea neu. Er beinhaltet 11 Monologe oder auch Stimmen, welche jeweils mit einer vorangestellten Aussage, einem Motto, eingeleitet werden. Der Roman bietet viele interessante Interpretationsansätze. So kann er als politischer oder autobiographischer Schlüsselroman, als feministischer, psychologischer oder Flüchtlingsroman gedeutet werden.
In der vorliegenden Arbeit soll jedoch der Fokus auf die Frage gerichtet werden, wie eine fortschrittliche, hilfsbereite, unschuldige und an den äußeren Ereignissen im Grunde unbeteiligte Figur in die Rolle des Sündenbocks gerät. Hierzu sollen im Folgenden zunächst Hintergrundinformationen zum Roman und dessen Autorin gegeben werden, bevor der Begriff des Sündenbocks näher definiert und verschiedene Theorien zum Sündenbock-Phänomen ausgeführt und aufden Roman angewandt werden.
2. Theoretische Fundierung
2.1 Autorin
Christa Wolf wird am 1.8.1929 in Landsberg an der Warthe, heute Gorzow, geboren, wo der Vater ein kleines Lebensmittelgeschäft betreibt. Ihre Kindheit endet mit ihrem sechzehnten Lebensjahr 1945, in dem die Familie Richtung Westen flüchten muss. In Mecklenburg wird sie die Schreibkraft des Bürgermeisters, legt 1949 das Abitur ab und tritt der SED bei. Während des Literaturstudiums in Leipzig heiratet sie Gerhard Wolf und bekommt zwei Töchter. Sie wird Mitglied des Schriftstellerverbandes, Autorin, Lektorin sowie Redakteurin der Verbandszeitschrift Neue Deutsche Literatur. Nach und nach beginnt sie aber an dem System zu zweifeln und wird nicht zuletzt wegen kritischer Redebeiträge bei politischen Veranstaltungen von der Staatssicherheit observiert.1 Ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft nach der Wende werden enttäuscht und Wolf wird wegen ihrer Vergangenheit bei der Stasi kritisiert und abgeurteilt. Auch nachdem sie ihre Stasi-Akte in einem Buch veröffentlicht, um Klarheit zu schaffen, erlebt sie weiter Ausgrenzung, Ablehnung und Schuldzuweisungen. Aufgrund dieser Erfahrungen kann das Werk Medea. Stimmen als autobiographischer Schlüsselroman betrachtet werden.2
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund:
Ein Blick auf die Epoche bzw. den zeitgeschichtlichen Hintergrund ist für das Verständnis des Werkes Medea. Stimmen unerlässlich. Der Roman erschien 1996, wenige Jahre nach der Wiedervereinigung von BRD und DDR. Viele Menschen waren mit dem Leben und den politischen Verhältnissen in der DDR nicht mehr einverstanden und sind mit viel Einsatz in einer friedlichen Revolution dagegen vorgegangen. Doch auch nach der Widervereinigung war die Enttäuschung groß. Das erhoffte Wirtschaftswunder blieb aus, viele ehemalige DDR-Betriebe konnten in der freien Wirtschaft nicht mithalten und gingen bankrott, die Arbeitslosenzahlen in der ehemaligen DDR stiegen und die einstigen Ostbürger fühlten sich von den Westbürgern ausgegrenzt.3 Auch die ehemalige DDR-Bürgerin Christa Wolf erlebt die Wiedervereinigung als Enttäuschung und erntet viel Kritik, für ihre Vergangenheit bei der Stasi. Sie verarbeitete schon in ihrem Werk Kassandra (1983) historischen Inhalte. Seit 1990 ließen sie ihr Interesse und ihre Faszination für den Medea-Mythos nicht mehr los, was sie im Rahmen eines Stipendiums 1992/93 nach Amerika reisen ließ, wo sie intensiv über die Hintergründe recherchierte. Nach der Erstveröffentlichung feiert der Roman in Deutschland sowie im Ausland große Erfolge und wird in 27 Sprachen übersetzt. Die losgetretene Debatte beschäftigt sich weniger mit dem Roman selbst als vielmehr mit Wolfs Rolle in der DDR.4
2.3 Mythos
Der Roman Medea. Stimmen von Christa Wolf bezieht sich auf eine uralte Sage der griechischen Mythologie (14. Jh. v. Chr.). Der Medea-Mythos gehört zu den schönsten der Antike, faszinierte und inspirierte unzählige Schriftsteller und ist einer der bekanntesten Stoffe der Weltliteratur. Ursprünglich entstammt der Mythos um Medea der Argonautensage, welche mit dem Machtkampf um das Königreich Thessalien in Griechenland beginnt.5 Der dort herrschende König Pelias hat sich die Macht von seinem Bruder Aison gesichert, doch als sein Neffe Jason, also der rechtmäßige Thronfolger, sein Recht einfordert, überlistet ihn Pelias. Er verspricht ihm den Thron unter der Bedingung, dass Jason ein goldenes Vließ, das sehr wertvolle Fell des Widders Chrysomallos, aus dem Hain des Ares in Kolchis zurück in die Heimat bringe. Jason nimmt die Herausforderung an und lässt das mit 50 Rudern bestückte Schiff „Argo“ bauen. Er fordert außerdem die berühmtesten Helden Griechenlands auf, ihn zu begleiten. Nach langer, abenteuerlicher und mühevoller Fahrt gelangen die Argonauten nach Kolchis und treten von den König Aietes, um das goldene Vließ einzufordern. Doch auch Aietes stellt Bedingungen. Er sagt ihm das Vließ unter der Voraussetzung zu, dass Jason mit den feuerschnaubenden, erzfüßigen Stieren die Aresflur pflügt und Drachenzähne säe. Jason löst die Aufgabe, bedarf zu ihrer Umsetzung allerdings die Unterstützung der Königstochter Medea, weshalb Aietes die Herausgabe des Vließes verweigert. Medea, welche sich mittlerweile in Jason verliebt hatte, erzählt ihm von dem Plan ihres Vaters, die Argonauten über Nacht zu erschlagen. Außerdem verspricht sie ihm, ihm dabei zu helfen das „Goldene Vließ“ zu stehlen, unter der Voraussetzung, dass er sie heirate. Sie fliehen noch in derselben Nacht. Zurück in der Heimat fordert Jason Pelias dazu auf, sein Versprechen zu halten. Nachdem dieser ihm weiterhin den Thron verwehrt, bittet Jason Medea ihm bei der Rache zu helfen. Die kluge Medea überlistet die Töchter des Pelias dazu, ihn zu zerstückeln, damit Medea einen Verjüngungszauber anwenden kann. Doch Medea verweigert ihn auszusprechen und so stirbt Pelias. Akastos, der Sohn des Pelias begräbt seinen Vater und jagt Medea und Jason aus der Stadt. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als nach Korinth, in das Reich des Königs Kreon, zu fliehen. Dort leben sie 10 Jahre glücklich bis sich Jason in die Königstochter Glauke verliebt. König Kreon verlobt die beiden und Medea wird aus der Stadt getrieben. Vor Wut und Verzweiflung verflucht Medea alle Korinther und tötet aus Rache ihre beiden Söhne, Glauke sowie Kreon. Der Mythos um Medea wurde unzählige Male überarbeitet, wobei sich die einzelnen Versionen in einigen Details unterscheiden.
So basiert auch der Roman von Christa Wolf nicht auf dem eigentlichen Mythos, sondern fasst verschiedene Aspekte unterschiedlicher Verarbeitungen in sich zusammen. Der signifikanteste Unterschied zum Mythos, in dem sie sich durch die Tötung von Glauke, König Kreon und ihren Kindern Schuld auf sie lädt, bleibt Wolfs Protagonistin unschuldig und wird jedoch dennoch zum Sündenbock erklärt.6
2.4 Theorien zum Sündenbock-Phänomen
Um zu untersuchen, wie Medea zum Sündenbock wurde, ist es notwendig zu ergründen, was ein Sündenbock ist und was einen solchen ausmacht. Seinen Ursprung hat die Bezeichnung im Judentum. Am jährlichen Feiertag Jom Kippur war es Brauch, einen Ziegenbock auszuwählen und symbolisch die Sünden und Ängste der Menschen auf seinen Kopf zu legen, um ihn dann in die Wüste zu jagen.7 So befreiten sie sich wenigstens für einen Moment von ihrer Schuld. Mittlerweile ist dieser Brauch weniger üblich und der Begriff steht heutzutage für jemanden, auf den man seine Schuld abwälzt oder für etwas verantwortlich macht, für das der Betreffende nichts kann, ein Vorgang welcher auch als scapegoating gekennzeichnet ist. Doch auch wenn das Individuum objektiv gesehen nichts dafür kann, kann es doch Merkmale mitbringen, die seine Wahl begünstigen.8 Aronson beschreibt, dass der stereotype Sündenbock leicht erkennbar, unbeliebt und relativ machtlos ist. Der Lauf der Geschichte lässt erkennen, dass besonders in schlechten Zeiten oder wirtschaftlichen Missständen die Suche nach Sündenböcken zunimmt. Historische Beispiele sind die Christenverfolgung im alten Rom, die Judenverfolgung in Deutschland zu der Zeit des zweiten Weltkrieges und der zunehmende Rechtsextremismus ausgelöst durch die noch immer aktuelle Flüchtlingskrise. Wie aber passiert es noch heute, Personen oder Gruppen als Sündenböcke abzustempeln und welche Gruppen laufen Gefahr als diese angesehen zu werden? Um ersteres zu beantworten lohnt sich ein Blick auf das Dual-Motiv-Modell von Rothschild und Kollegen (2012), dessen Ziel es ist, die beiden gleichermaßen wichtigen Motive für scapegoating darzustellen.9 Auf der einen Seite steht das Motiv, den eigenen moralischen Wert zu erhalten. In diesem Fall minimiert ein gefundener Sündenbock die Schuld über eine eigens verschuldete negative Situation. Die andere Seite beschreibt das Motiv des Erhaltens der eigenen Kontrollwahrnehmung. Dabei wird eine logische und entlastende Erklärung, bzw. ein Sündenbock, für ein eigentlich unerklärliches und schlimmes Ereignis gefunden. Diese beiden Motive führen gleichermaßen dazu, eine meist unbeteiligte Person oder Gruppe für negative Ereignisse verschiedenster Art verantwortlich zu machen.10 Nach Zick et al. (2011, S. 304) sind die Faktoren, die die Gruppe bestimmen, welche Gefahr läuft, zum Sündenbock abgestempelt zu werden zum einen die Bedrohung des eigenen Status (z. B. durch Frauen). Aber auch Verunsicherung (z. B. durch den Islam), der vermeintliche Angriff auf Normalität (z. B. durch Homosexualität) und Änderungen im Machtverhältnis von Gruppen (z. B. durch Migration) können zum scapegoating führen.11
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1 Metzler: Autoren Lexikon. Stuttgart, 1997. S. 860ff
2 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin, 2000. S. 209
3 Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ulm 1994. S. 488f.
4 Aydin, Yildiz: Christa Wolfs Medea-Bearbeitungen unter besonderer Berücksichtigung von Umbruchserfahrungen. 2011. S. 234ff.
5 Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des Klassischen Altertums, Bindlach 1995. S. 76ff.
6 Janke, Alena: Antiker Mythos und moderne Literatur: zum Problem von Traditionen und Innovationen im Werkvon Christa Wolf. 2010. S. 161f.
7 Berger, Joel: Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums: Sündenbock. (Stand: 09.09.2015) [https://www.juedische-allgemeine.de/glossar/suendenbock-2/] (27.04.2021).
8 Rodewald, Jean: Erklärt die Sündenbocktheorie das Entstehen von sozialen Vorurteilen. Leipzig 2000. S. 4.
9 Lengersdorf, Lukas: Scapegoating: Sozialpsychologische Erklärungen fürdas Phänomen des Sündenbock-Denkens. [ http://www.helga- schachinger.com/neue_pdfs_dezember2010/suendenbock_denken.pdf] S. 5ff
10 Lengersdorf, Lukas: Scapegoating: Sozialpsychologische Erklärungen fürdas Phänomen des Sündenbock-Denkens. [ http://www.helga- schachinger.com/neue_pdfs_dezember2010/suendenbock_denken.pdf] S.6, ff
11 Von Orde, Heike: Vorurteile: Entwicklung, Einflussfaktoren und Prävention. In: Television. 2/2018. S. 8.