Ziel der hier vorliegenden Analyse ist es daher, Parrs filmische Untersuchung weiterzuführen. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern dem Kriegsheimkehrer die Rolle eines (fremden) Gastes zugesprochen werden kann und wie sich dies auf die Sprache des Subjekts auswirkt. Das Phänomen der Gastlichkeit und der Status eines Gastes sind Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Es handelt sich um facettenreiche Phänomene, die nach sozialen, politischen und historischen Bedingungen differenziert werden können. Durch die Unbestimmtheit des Gastlichkeitsphänomens, kommt es nach Rolf Parr zur großen Abstraktion der Begrifflichkeit.
Die Analyse beginnt mit einer theoretischen Einführung zur Figur des Kriegsheimkehrers in Literatur und Film als eines fremden Gastes nach Parr. Zunächst geht Parr auf den Status des Rückkehrers als Gast ein. Er entwickelt Handlungsmaxime, die bei einer gescheiterten Heimkehr eintreten können und führt unterschiedliche Szenarien der Rückkehr auf, in der eine Heimkehr auch gelingen kann. Anschließend wird der Film „Brothers – Zwischen Brüdern“ (2004) kurz vorgestellt, um ihn dann hinsichtlich der Figur des Kriegsheimkehrers als eines fremden Gastes zu untersuchen, und zwar mit Fokus auf die damit einhergehende Sprachlosigkeit. Nach dieser Analyse wird ein Fazit gezogen, inwieweit der Figur der Status als (fremder) Gast zugesprochen werden kann.
Die Heimkehr aus dem Krieg stellt eines der ältesten Motive weltliterarischer Traditionen dar. Seit Ende der 1970er Jahre wird ihr eine starke Akzentuierung in der neueren Literatur sowie in Spielfilmen verliehen. Untersuchungen zum Kriegsheimkehrer als fremdem Gast fanden nach Renate Bürner Kotzam bislang nur wenig statt. Einen bedeutenden Forschungsansatz liefert Parr. Er beschäftigt sich mit Überlegungen philosophischer Gastlichkeitsinterpretationen und ihrer Realisierung in Literatur und Film, u.a. mit dem dänischen Film „Brothers – Zwischen Brüdern“ (2004) von Susanne Bier. In dem Film wird ein Familienkonflikt thematisiert, der ausgelöst wird durch die Rückkehr eines traumatisierten Soldaten aus dem Krieg. Parr untersucht den ‚fremden‘ Gast nur auf einer sehr allgemeinen Ebene.
Inhalt
1. Das Phänomen der ,Gastlichkeit‘
2. Der Kriegsheimkehrer als (fremder) Gast in Literatur und Film
3. Analyse der Gastlichkeit. In: „Brothers — Zwischen Brüdern“ (2004), Susanne Bier
4. Fazit
Literatur
1. Das Phänomen der ,Gastlichkeit‘
Das Phänomen der Gastlichkeit und der Status eines Gastes sind Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Es handelt sich sowohl bei Gastlichkeit als auch dem Gast selbst um facettenreiche Phänomene, die nach sozialen, politischen und historischen Bedingungen differenziert werden können.1 Durch diese Unbestimmtheit des Gastlichkeitsphänomens, kommt es nach Rolf Parr zur Gefahr der Verwässerung und zu großen Abstraktion der Begriff- lichkeit.2 Parr verweist dabei gemeinsam mit Peter Friedrich auf die Literatur als einen zentralen Ort der Reflexion über Gastlichkeit, in der ein breites Feld auch nicht genuin literarischer Aspekte verhandelt wird: Gastlichkeit als Konstrukt des Rechts, als Sozialfigur in historischen Kontexten, als literarisches bzw. filmisches Motiv und Erzählmodell, etc.3 Evi Fountoulakis und Boris Previsic stellen fest, dass der Gast in der Literatur häufig als ein „Phänomen des Dritten“ aufgefasst wird. Dabei erscheint der Gast als jemand Fremdes, der nach langer Abwesenheit in vertraute Verhältnisse zurückkehrt.4 Meist wird die fremde Person „nicht zum Träger des Gastseins gemacht, sondern vom Gast her gedacht. Die Gastlichkeit wird demnach als Basis des Daseins und des Subjekts begriffen“.5 Vor allem die Sprache spielt - als Bestandteil der Kommunikation zwischen Gast und Gastgeber - eine wichtige Rolle. Beide erkundigen sich über Geschehnisse, die in der Zeit der Abwesenheit des anderen eingetreten sind.6 Jedoch kann es sein, dass der Gast nicht über die Zeit seiner Abwesenheit reden kann oder möchte. Dieses Phänomen der Sprachlosigkeit des Gastes wird oftmals bei der Wiederkehr alter Bekannter oder Verwandter deutlich, deren Besuch eine Infragestellung oder Veränderung der vorherrschenden Ordnung impliziert, z.B. im Falle von Kriegsheimkehrern.7 Die Heimkehr aus dem Krieg stellt eines der ältesten Motive weltliterarischer Traditionen dar. Seit Homers Odysee aus dem 7./8.
Jahrhundert vor Christus, beschäftigt sich die Literatur mit der Rückkehr von Reisen, Irrfahrten, und Vertreibungen aus Exilen oder Kriegen,8 wobei das Problem des Nicht-Heimkehren-Kön- nens thematisiert wird.9 Seit Ende der 1970er Jahre wird der Kriegsheimkehrer-Thematik eine starke Akzentuierung in der neueren Literatur sowie in Spielfilmen verliehen.10 Untersuchungen zum Kriegsheimkehrer als fremdem Gast fanden nach Renate Bürner-Kotzam bislang nur wenig statt.11 Einen bedeutenden Forschungsansatz liefert Parr.12 Er beschäftigt sich mit Überlegungen philosophischer Gastlichkeitsinterpretationen und ihrer Realisierung in Literatur und Film, u.a. mit dem dänischen Film „Brothers - Zwischen Brüdern“ (2004) von Susanne Bier.13 In dem Film wird ein Familienkonflikt thematisiert, der ausgelöst wird durch die Rückkehr eines traumatisierten Soldaten aus dem Krieg. Parr untersucht den ,fremden‘ Gast nur auf einer sehr allgemeinen Ebene. Ziel der hier vorliegenden Analyse ist es daher, Parrs filmische Untersuchung weiterzuführen. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern dem Kriegsheimkehrer die Rolle eines (fremden) Gastes zugesprochen werden kann und wie sich dies auf die Sprache des Subjekts auswirkt.
Die nachfolgende Analyse beginnt mit einer theoretischen Einführung zur Figur des Kriegsheimkehrers in Literatur und Film als eines fremden Gastes nach Parr. Zunächst geht Parr auf den Status des Rückkehrers als Gast ein. Er entwickelt Handlungsmaxime, die bei einer gescheiterten Heimkehr eintreten können und führt unterschiedliche Szenarien der Rückkehr auf, in der eine Heimkehr auch gelingen kann. Anschließend wird der Film „Brothers - Zwischen Brüdern“ (2004) kurz vorgestellt, um ihn dann hinsichtlich der Figur des Kriegsheimkehrers als eines fremden Gastes zu untersuchen, und zwar mit Fokus auf die damit einhergehende Sprachlosigkeit. Nach dieser Analyse wird ein Fazit gezogen, inwieweit der Figur der Status als (fremder) Gast zugesprochen werden kann.
2. Der Kriegsheimkehrer als (fremder) Gast in Literatur und Film
Parr beschreibt den typischen Kriegsheimkehrer in der Literatur und im Film als eine „displaced person“, die ihr Leben in einem fremden Land riskiert und in die Heimat häufig zunächst als fremder Gast zurückkehrt, wodurch eine von dem Normalfall abweichende, verschobene und mit Friktion behaftete Gastlichkeitssituation entsteht.14 Der Heimkehrer befindet sich dann in einer Art „Schwellenraum“, ist zunächst zwischen Fremden und Heimischen platziert.15
Aus Sicht ihrer Frauen, Kinder, Geschwister, Eltern stehen Kriegsheimkehrer selbst dann, wenn ihre Rückkehr angekündigt ist, letztlich doch immer unerwartet auf der Schwelle und werden bestenfalls als Gäste aufgenommen, das heißt aber als Fremde, über deren endgültigen Status man sich noch nicht recht im Klaren ist. Dabei erscheinen die Kriegsheimkehrer als umso fremder, ja geradezu unheimlicher, je länger sie schweigen.16
Ein mit dieser Rückkehr oftmals einhergehendes Problem in Spiel- und Fernsehfilmen stellt das Phänomen der Sprachlosigkeit dar. Der Kriegsheimkehrer wird bei seiner Ankunft häufig mit Situationen des „Sprechen-Müssens“, „Nicht-Sprechen-Dürfens“ und „Nicht-Sprechen-Wol- lens“ konfrontiert. Nach Parr trägt er eine Art „Black box“ mit sich herum, deren Inhalt nur er kennt und der für Außenstehende schwer zugänglich ist. Eine Öffnung des Subjekts stellt nach Parr die wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Heimkehr dar. Denn wechselseitiges Erzählen zwischen Gast und Gastgeber dient der Einschätzung von Gefahren, die potentiell mit der gastlichen Aufnahme verbunden sein können. Parr schlägt vor, dass Kriegsrückkehrer ab dem Zeitpunkt der Ankunft in ihren Familien einen Entfremdungsprozess durchlaufen sollten, damit Fremdheit in Vertrautheit, Anderes in Eigenes und Alterität in Identität zurücküberführt werden kann. Die Zurückgewinnung des Status‘ als Heimkehrer wird dabei von einem Annäherungsprozess bestimmt, in dem der Heimkehrer seinen Status als Gast zunächst akzeptieren muss.17 Denn oftmals entwickeln Heimkehrer im Krieg eine Fiktion ihrer erinnerten Heimat, die als eine Art von Überlebensstrategie fungiert und an die sie schnell wieder anknüpfen wollen. Aber durch die Veränderungen des Heimkehrers, hat sich auch seine Heimat oft verän- dert.18 „Erfolgreich kehren in Literatur und Film letztlich nur diejenigen heim, die sich auf einen sie eine Zeit lang auf Distanz stellenden Annäherungsprozess einlassen [...].“19
Anhand Leonhard Franks Erzählung „Karl und Anna“, in der es zu einer Dreieckskonstellation zwischen dem Kriegsheimkehrer Richard, seiner Frau Anna und Richards Mitgefangenem Karl kommt, stellt Parr eine Matrix möglicher Handlungsoptionen auf, die bei einer gescheiterten Heimkehr eintreten können. Denn in der Erzählung wird der Kriegsheimkehrer unmittelbar mit der Beziehung seines Kameraden Karl mit der eigenen Ehefrau konfrontiert, erscheint als Gast im eigenen Zuhause, während Karl als sein Gastgeber fungiert. Mit Beobachtung weiterer, vergleichender Geschehnisse innerhalb der Erzählung, stellt Parr als ein erstes Reaktionsmuster die Flucht an die Front vor. Als zweites Muster führt er die Trennungsunfähigkeit auf, bei der der Heimkehrer und seine Partnerin es trotz gescheiterter Beziehung nicht schaffen, sich voneinander abzuwenden. Als drittes Muster beschreibt Parr die simple Trennung. Bei Muster vier kommt es zu einer Ablösung, in der der neue Partner der Frau, das Haus bei der Ankunft des Ehemannes sofort verlässt. Die letzte Handlungsoption stellt das Arrangement dar, bei der der Rückkehrer, seine Frau und der neue Partner zusammenwohnen.20 Die Figuren können jedoch nicht über diese Handlungsmaxime frei verfügen, meistens „bleiben [sie] in der Konfrontation mit einer veränderten häuslichen Situation [...] erstaunlich passiv, was den die Erzählung grundierenden Tenor der Schicksalshaftigkeit unterstützt“.21
Anhand des Romans „Eisflüstern“ von Bettina Balaka, geht Parr auf die von der Hauptfigur Beck aufgestellten Szenarien der Rückkehr ein. Dieser befasst sich nach seiner eigenen Rückkehr aus dem Krieg intensiv mit der Befremdung gegenüber seiner Frau.22 Er stellt insgesamt vier Theorien auf. Der ersten Theorie nach, hat die Frau des Heimkehrers einen Geliebten, es entstehen dabei vier Möglichkeiten: Entweder der Geliebte verlässt sofort die Familie oder der Heimkehrer verlässt das Haus, es kommt zu einer Schlägerei zwischen Heimkehrer und Geliebten, oder es folgt eine Verabredung mit Sekundanten und Waffen. Als zweites stellt Beck die These auf, dass die Frau bei Ankunft des Heimkehrers bestürzt bzw. befremdet ist, weil sie ihn bereits vor einiger Zeit hinter sich ließ. In diesem Fall kann es zu zwei Handlungsoptionen kommen: Entweder, der Kriegsheimkehrer kämpft um seine Frau, oder er verlässt das Haus wortlos, voller Stolz. Drittens kann der Fall eintreten, dass die Frau bei der Rückkehr im Haus nicht mehr anzutreffen ist, weil sie umgezogen ist und als vierte Annahme Becks, kommt es zu einer freudigen, sehnsüchtigen Empfangnahme des Kriegsheimkehrers durch seine Frau.23
3. Analyse der Gastlichkeit. In: „Brothers — Zwischen Brüdern“ (2004), Susanne Bier
Susanne Biers Spielfilm handelt von zwei Brüdern, die sich zunächst in sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen befinden. Michael führt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern ein intaktes Familienleben. Er besitzt ein eigenes Haus. Weil er als Soldat für das dänische Militär der UN-Truppe in Afghanistan eingesetzt ist, sind seine Eltern sehr stolz auf ihn. Sein Bruder Jannik hingegen gilt als „schwarzes Schaf“ der Familie. Er war wegen eines Banküberfalls im Gefängnis inhaftiert, hat keinen Job, hat keine Freundin und betrinkt sich regelmäßig. Als Michael während eines Militäreinsatzes in Afghanistan mit dem Helikopter abstürzt, wird er für tot erklärt. Fortan kümmert sich Jannik um die Familie seines Bruders. Michael überlebte den Absturz, wird jedoch wochenlang von den Taliban gefangen genommen und dazu genötigt, einen Mitgefangenen mit einer Eisenstange zu erschlagen. Schwer traumatisiert, wird er von britischen Soldaten aus dem Gefangenenlager befreit und kehrt nach Hause zurück. Dort festigt sich in ihm der Gedanke, dass Jannik und seine Frau Sarah mehr als ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. In seinem Zorn darüber, verwüstet Michael das Haus, wird gewalttätig und will sich umbringen. Daraufhin landet er im Gefängnis, wo er sich seiner Frau erstmals öffnet.
Als grundlegende Theorie, die Parr bei seiner Untersuchung des Films entwickelt hat, führt er den chiastischen Positionstausch der Brüder auf, den er grob an den Persönlichkeitsveränderungen der beiden festmacht - der Draufgänger Jannik wird häuslich, fürsorglich und spricht über die Probleme seiner Vergangenheit. Der liebevolle Ehemann und Vater Michael hingegen ist nach seiner Rückkehr von einer starken Aggressivität geprägt. Er trinkt viel, ist eifersüchtig auf seinen Bruder und distanziert sich aufgrund der durch die Kriegserlebnisse entwickelten Sprachlosigkeit von seiner Familie. Parr stellt mit Bezugnahme auf Victor Tuner fest, dass Michael und Jannik Liminalitätsszenarien durchlaufen, aus denen sie anders hervorkommen, als sie hineingegangen sind. Dadurch erlangt der Kriegsheimkehrer Michael nach Parr zunächst den Status eines (fremden) Gastes, den er sogar wieder verlieren kann.24
Dem Mann, Bruder, Vater, der bei seiner Heimkehr aus dem Krieg sofort wieder seinen Platz einnehmen will, aber nicht spricht, und nicht in der Lage ist, die Situation vorwegzudenken, droht die Gefahr, ein gänzlich Fremder zu werden, also nicht einmal mehr im Schwellenraum zwischen fremd und heimisch platziert zu sein, sondern jenseits davon, in der Psychiatrie oder sogar im Ge- fängnis.25
Um Parrs Theorie des chiastischen Positionstauschs der Brüder weiter auszuführen, erscheint es wichtig, die Status Gast und Gastgeber vor und nach Michaels Afghanistaneinsatzes aufzuzeigen. Dazu muss zunächst auch ein kurzer Blick auf Michaels Bruder Jannik geworfen werden. Zu Filmbeginn befinden sich die beiden Brüder in einer typischen Rollenverteilung: Der unmittelbar aus dem Gefängnis entlassene Jannik wird zu einem gemeinsamen Familienessen bei seinem Bruder Michael eingeladen. Michael erscheint als Gastgeber und Jannik als sein Gast. Jannik klingelt an der Tür und bringt eine Blume als Symbol des Gastgeschenks für Michaels Frau Sarah mit. Nach dem gemeinsamen Essen verlässt er das Haus wieder26 - wie es für einen Gast, der lediglich für ein Essen eingeladen wurde, üblich ist. Mit der Nachricht vom Tod seines Bruders, ändert sich die Rolle Janniks innerhalb der Familie. Zwar verweigert er zunächst der trauernde Sarah mitten in der Nacht vor ihrer Tür die Einladung in ihr Haus27, einige Tage später aber, nächtigt er bei ihr auf dem Sofa.28 Ab diesen Zeitpunkt an, besucht Jannik Sarah und die Kinder beinahe täglich. Anfangs bloß, um ihre Küche zu renovieren.29 Mit der Zeit aber baut Jannik ein freundschaftliches Verhältnis zu der Familie seines Bruders auf. Er schafft es, sich bezüglich des Banküberfalls bei Sarah zu öffnen.30 Als sie ihm einen Schlüssel vom Haus geben möchte, lehnt Jannik dies aber ab.31 Zwar konzentriert sich Parr bei seiner Theorie über die Status Gast und Gastgeber nur auf die Figur des Kriegsheimkehrers, jedoch hätte Jannik, mit der Entgegennahme des Schlüssels, von dem Status des Gastes in den Status des Gastgebers rücken können, an die Stelle seines Bruders. Diese Feststellung ist insofern von Bedeutung, als dass sie die Heimkehr Michaels noch einmal grundlegend verändert hätte. Jannik befindet sich dennoch zwischen den Positionen Gast und Gastgeber, denn er wohnt zwar nicht mit im Haus, ist dort aber täglich zu Besuch und kümmert sich um die Familie.
Als Michael in die Familie zurückkehrt, kehrt er zunächst in der Rolle eines Gastes zurück. Nach Parr formuliert, befindet er sich in einer Art Schwellenraum, zwischen Fremden und Heimischen platziert.32 Bei der Ankunft in sein Haus, erkennt er, dass seine Umgebung sich in der Zwischenzeit verändert hat - vor allem die von seinem Bruder renovierte Küche erscheint ihm äußerst befremdlich.33 Als er sie das erste Mal betritt, flüchtet Michael von der Küche aus in das Schlafzimmer, um dem Fremden zunächst zu entkommen. Beim zweiten
Eintreten in die Küche, kann er die fremde Umgebung immer noch nicht akzeptieren. Er versucht, an alte Ordnungen seiner Erinnerungen anzuknüpfen, indem er aus der neuen Ordnung in den Küchenschränken die für ihn gewohnte wiederherstellt. Teller für Teller und Glas für Glas, stellt Michael an die Stellen zurück, an die sie vor seiner Abreise standen.34 Parr erklärt solch ein Verhalten mit der Annahme, dass der Heimkehrer eine an Fiktion erinnerte Heimat in seinen Gedanken verankert hat, die für ihn im Krieg als eine Art Überlebensstrategie fungierte, weshalb Veränderungen seines Zuhauses nun ein großes Problem für ihn darstellen.35 Michael erkennt jedoch nicht, dass nicht nur seine Heimat, sondern auch er selbst sich in seiner Abwesenheit verändert hat. Dass Michael teils als fremde und teils als bekannte Person zurückkehrt, wird nach Parr besonders durch die Musik erfahrbar gemacht. Der Literaturwissenschaftler stellt fest, dass die Heimat- und Afghanistanmusik vor Michaels Rückkehr deutlich von den Handlungsorten getrennt wurde, während die Afghanistanmusik sich nach seiner Rückkehr nach Dänemark mit der Heimatmusik überlagert. „Das Fremde ist mit dem Heimkehrer auch zuhause angekommen und lässt den Bereich des Heimischen allen Beteiligten gleichermaßen fremd erscheinen.“36 Durch Michaels fehlender Erkenntnis zu der Entfremdung seines Zuhauses, kommt es zur Entfremdung seines Umfelds.37 Eine große Rolle dabei spielt das Phänomen der Sprachlosigkeit. Parr zufolge tragen Kriegsheimkehrer oftmals eine Art „Black box“ mit sich herum, deren Inhalt - die Kriegserlebnisse - sie nur schwer mit anderen teilen können.38 Auf die Fragen und Bitten seiner Frau, sich ihr zu öffnen, weicht Michael aus. Er schafft es nicht, über seine erzwungene Tat zu sprechen und verlässt im Gespräch mit ihr fluchtartig den Raum. Das Verlassen des Raumes, wenn Michael mit der neuen, ungewohnten Fremde nicht zurechtkommt oder auch in diesem Fall Gespräche umgehen möchte, prägt sein Verhaltensmuster nach der Rückkehr.
Wir müssen darüber sprechen. Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?
Nichts ist passiert.
Erzähl mir wenigstens ein wenig. Ich mein, versuch‘s doch einfach mal.
Es gibt nichts zu erzählen, verstehst du? Da war dieser dunkle Raum, dort saß ich und habe an euch gedacht. Ich habe daran gedacht, wie wir auseinander gegangen sind und daran, wie ich zu dir gefahren bin, um mich zu entschuldigen. Aber du wolltest mich nicht reinlassen.39
[...]
1 Vgl. Fountoulakis, Evi und Previsic, Boris: Gesetz, Politik und Erzählung der Gastlichkeit. In: Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur. Hg. v. Evi Fountoulakis und Boris Previsic. Transcript. Bielefeld: 2011, S. 8.
2 Vgl. Parr, Rolf: Emigranten/Kriegsheimkehrer. Zwei Modelle der (Un-)Gastlichkeit und das Phänomen der fehlenden Sprache. In: Der Gast als Fremder. Hg. v. Fountoulakis und Previsic, S. 229.
3 Vgl. Parr, Rolf und Friedrich, Peter: Von Gästen, Gastgebern und Parasiten. In: Gastlichkeit. Erkundung einer Schwellensituation. Hg. v. Rolf Parr und Peter Friedrich. Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren. Heidelberg: 2009, S. 9.
4 Vgl. Fountoulakis, Evi und Previsic, Boris: Die Fremdheit des Gastes. In: Der Gast als Fremder. Hg. v. Fountou- lakis und Previsic, S. 12f.
5 Vgl. Fountoulakis: Gast, Gesetz und Genealogie. Adalbert Stiftlers späte Novelle „Der Kuss von Sentze“. In: Der Gast als Fremder. Hg. v. Fountoulakis und Previsic, S. 32.
6 Vgl. Fountoulakis und Previsic: Die Fremdheit des Gastes. In: Der Gast als Fremder. Hg. v. Fountoulakis und Previsic, S. 20f.
7 Vgl. Fountoulakis: Gast, Gesetz und Genealogie. In: Der Gast als Fremder. Hg. v. Fountoulakis und Previsic, S. 31.
8 Vgl. Die verlorene Generation. Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg in der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Christoph Deupmann. Universitätsverlag WINTER. Heidelberg: 2019, S. 18ff.
9 Vgl. ebd., S. 211.
10 Vgl. Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer, S. 230f.
11 Bürner-Kotzam, Renate: Vertraute Gäste - Befremdende Begegnungen: In Texten des bürgerlichen Realismus. Universitätsverlag C. WINTER. Heidelberg: 2001, S. 11.
12 Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer S. 229-246.
13 Brothers - Zwischen Brüdern. Dänemark 2004. Regie: Susanne Bier.
14 Vgl. Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer, S. 230.
15 Vgl. ebd., S. 240.
16 Ebd., S. 231.
17 Vgl. ebd., S. 230f.
18 Vgl. ebd., S. 232.
19 Ebd., S. 231f.
20 Vgl. Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer, S. 235f.
21 Ebd., S. 237.
22 Vgl. ebd., S. 239.
23 Vgl. ebd., S. 238.
24 Vgl. Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer, S. 240f.
25 Ebd., S. 240.
26 Vgl. Brothers - Zwischen Brüdern. R.: Bier, Susanne. Dänemark 2004. 00:05:21-00:08:16.
27 Vgl. ebd., 00:15:47-00:18:13.
28 Vgl. ebd., 00:32:05-00:33:05.
29 Vgl. ebd., 00:35:30-00:36:23.
30 Vgl. ebd., 00:38:35-00:40:09.
31 Vgl. ebd., 00:47:04-00:47:20.
32 Vgl. Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer, S. 240.
33 Vgl. Brothers - Zwischen Brüdern. R.: Bier, Susanne. Dänemark 2004. 01:06:46-01:07:42.
34 Vgl. Brothers - Zwischen Brüdern. R.: Bier, Susanne. Dänemark 2004. 01:09:32-01:10:05.
35 Vgl. Parr: Emigranten/Kriegsheimkehrer, S. 232.
36 Ebd., S. 241.
37 Vgl. ebd., S. 232.
38 Vgl. ebd., S. 230.
39 Brothers - Zwischen Brüdern. R.: Bier, Susanne. Dänemark 2004. 01:21:25-01:22:25.