In dieser Arbeit wird folgender Fragestellung nachgegangen: Inwiefern kann und soll der soziale Trainingskurs seine kriminalpolitische Zielsetzung, freiheitsentziehende Maßnahmen zu ersetzen, entfalten? Um einen Beitrag zur Diskussion von adäquaten Lösungsstrategien in Bezug auf Jugendkriminalität zu leisten, wurden im Rahmen einer qualitativen Studie Fachkräfte sozialer Trainingskurse bezüglich ihrer Sichtweise befragt.
Jugendkriminalität ist ein wiederkehrendes und öffentliches Thema. Von jeher steht die Diskussion um die effizienteste Reaktion auf Jugendkriminalität immer wieder im Fokus des Interesses. Auffallend anzumerken ist es, dass sich zahlreiche kriminologische Untersuchungen zwar mit der Wirksamkeit des Jugendstrafrechtes angesichts der Rückfallvermeidung befassen, diese jedoch zumeist freiheitsentziehende Sanktionen fokussieren. Vergleichende Untersuchungen hinsichtlich ambulanter Sanktionen sind nur im geringfügigen Maß vorhanden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Rahmen
2.1 Der soziale Trainingskurs
2.1.1 Rechtlicher Rahmen
2.1.2 Geschichtliche Einordnung und Entstehung
2.1.3 Qualitätsstandards zur Anordnung und Durchführung
2.1.4 Forschungsstand
2.1.4.1 Zur Realisierung der kriminalpolitischen Zielsetzung
3. Durchführung der Forschung
3.1 Fragestellung und Ziel der Untersuchung
3.2 Begründung der Methodenwahl
3.2.1 Qualitative Erhebungsmethode – Expert*inneninterview nach Meuser und Nagel
3.2.1.1 Expertenauswahl
3.2.1.1 Der Leitfaden
3.2.2 Datenaufbereitung und -auswertung – Die qualitative Inhaltsanalyse
4. Ergebnisdarstellung
4.1 Rahmenbedingungen
4.1.1 Zielgruppe des sozialen Trainingskurses
4.1.2 Ausgestaltung, Kursdauer und Gruppengröße
4.2 Kooperation und Kommunikation der Beteiligten im Jugendstrafverfahren
4.3 Kriminalpolitische Bewertung
4.3.1 Der soziale Trainingskurs als „Sanktionscocktail“
4.3.2 Sozialer Trainingskurs als Ersatz zu freiheitsentziehenden Maßnahmen
4.4 Wünsche/ Erwartungen/ Verbesserungsbedarfe
5. Diskussion und Ausblick
6. Reflexion der eigenen Forschungsarbeit
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang 1: Interviewleitfaden
Anhang 2: Transkriptionsregeln
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Jugendkriminalität ist ein wiederkehrendes und öffentliches Thema. Von jeher steht die Diskussion um die effizienteste Reaktion auf Jugendkriminalität immer wieder im Fokus des Interesses (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 47). Aufgrund eines Referates der Forscherin innerhalb ihres Studiums bezüglich der Auseinandersetzung mit der Frage, ob Jugendstrafvollzug die richtige Reaktion auf Jugenddelinquenz sei, wurde sie auf den sozialen Trainingskurs als Alternative zu freiheitsentziehenden Sanktionen aufmerksam. Zudem resultiert die Motivation, sich mit dieser Thematik zu befassen, aus dem grundlegenden Interesse an abweichenden Verhalten sowie strafrechtlichen Sanktionen. Auffallend anzumerken ist es, dass sich zahlreiche kriminologische Untersuchungen zwar mit der Wirksamkeit des Jugendstrafrechtes angesichts der Rückfallvermeidung befassen, diese jedoch zumeist freiheitsentziehende Sanktionen fokussieren. Vergleichende Untersuchungen hinsichtlich ambulanter Sanktionen sind nur im geringfügigen Maß vorhanden (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 34f.).
Insofern wurde in der vorliegenden Arbeit der folgenden Fragestellung nachgegangen: „Inwiefern kann und soll der soziale Trainingskurs seine kriminalpolitische Zielsetzung, freiheitsentziehende Maßnahmen zu ersetzen, entfalten?“.
Um einen Beitrag zur Diskussion von adäquater Lösungsstrategien in Bezug auf Jugendkriminalität zu leisten, wurden im Rahmen einer qualitativen Studie Fachkräfte sozialer Trainingskurse bezüglich ihrer Sichtweise befragt (siehe Kapitel 3). Um jedoch einen thematischen Überblick zu bekommen sowie sich der Forschungsfrage anzunähern, wird sich in Kapitel 2 dieser Arbeit zuerst mit dem theoretischen Rahmen sozialer Trainingskurse befasst, um dann diese in Kapitel 5 anhand der Forschungsergebnisse (Kapitel 4) zu diskutieren.
2. Theoretischer Rahmen
2.1 Der soziale Trainingskurs
Der soziale Trainingskurs (STK) auch bekannt als Erziehungs-, Übungs- und Erfahrungskurs ist vorwiegend eine ambulante gruppenpädagogische Maßnahme für straffällig gewordene Jugendliche (vgl. Wendt 2017: 244, Radtke/Schröter 2000: 326). Aufgrund der sehr unterschiedlichen Gestaltungen kann von dem STK nicht die Rede sein (vgl. Beulke/ Swoboda 2020: 137). Definiert wird jener zumindest in der Rechtspflege als „ambulantes gruppenpädagogisches Angebot für straffällig gewordene Jugendliche, das durch jugendrichterliche Entscheidungen (§10 JGG) oder im Bewährungsverfahren (§§21, 27 JGG) angeordnet oder auch auf Veranlassung des Jugendstaatsanwalts (§45 JGG) oder des Jugendrichters (§47 JGG) durchgeführt wird“ (Radtke/Schröter 2000: 326. zit. n. Busch 1983: 5). Die Durchführung obliegt dabei der Jugendhilfe (vgl. Beulke/ Swoboda 2020: 136). Ziel des STK ist eine aktive Auseinandersetzung mit der Straftat sowie der aktuellen Lebenssituation des Jugendlichen, die Entwicklung gewaltfreier Konfliktlösestrategien, die Anregung von Verhaltensänderungen sowie die Formulierung eigener perspektivischer Ziele, um erneutem straffälligem Verhalten Jugendlicher entgegenzuwirken (vgl. Wendt 2017: 244). Der STK zählt wie die Arbeitsleistung, Betreuungsweisung und der Täter-Opfer-Ausgleich zu den neuen ambulanten Maßnahmen (NAM), die die kriminalpolitische Zielsetzung verfolgen freiheitsentziehende Maßnahmen zu ersetzen (vgl. Fischer/Lippold 2000: 246). Diese Zielsetzung fußt auf den Erkenntnissen, dass der Freiheitsentzug desintegrierende Folgen mit sich bringt, indem der junge Mensch mit seiner sowieso schon kritischen Lebenssituation weitere Ausgrenzung und Benachteiligung aufgrund des Freiheitsentzugs erfährt und Kriminalität so eben nicht verhindert werden kann (vgl. Drewniak 1996: 19). Auch über die grundsätzliche Zielgruppe herrscht Uneinigkeit. Grundlegend soll der STK seiner Zielsetzung entsprechend eine Alternative zu freiheitsentziehenden Maßnahmen bieten sowie ebendiese ersetzen. Dementsprechend ist der STK für mehrfachauffällige junge Straftäter angedacht. Dieser zahlenmäßig kleinen Gruppe junger Menschen soll eine besondere Aufmerksamkeit zukommen (vgl. Drewniak 2009: 22). In der Sanktionspraxis wird der STK jedoch oftmals für unproblematischere Zielgruppen zweckentfremdet verwendet (vgl. Fischer/Lippold 2000: 275 zit. n. Heinz/Huber 1986:52), weshalb die Zielgruppe nicht eindeutig benannt werden kann.
2.1.1 Rechtlicher Rahmen
Für junge Menschen, die straffällig aufgefallen sind und sich zur Zeit der Tat in der problematischen Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter befinden, gilt das sogenannte Jugendstrafrecht als ein spezielles Sonderrecht (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 1). Im JGG werden die Rechtsfolgen nach §5 JGG in drei Kategorien unterteilt: Erziehungsmaßregeln (Weisungen, Erziehungsbeistand, Erziehungshilfe), Zuchtmittel (Verwarnung, Auflagen, Jugendarrest) und Jugendstrafe (mit/ohne Strafaussetzung zur Bewährung) (vgl. ebd.: 97). Dabei können unterschiedliche Sanktionen aufgrund ihrer sich möglicherweise ergänzenden Wirkung miteinander verbunden werden, wie beispielsweise die Verbindung von Erziehungsmaßregeln (z.B. Weisungen) mit Zuchtmitteln (z.B. Jugendarrest) (vgl. ebd.: 118).
Der STK und die NAM (Betreuungsweisungen und Täter-Opfer-Ausgleich) zählen seit 1990 aufgrund des ersten Gesetzes zur Änderung des JGG (1.JGGÄndG) als fester Bestandteil zu den Weisungen des JGG (dbzgl. Kapitel 2.1.2) (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 133). Unter anderem hat sich der STK in den letzten Jahrzehnten bewährt und in der Praxis an Bedeutung gewonnen, weshalb dieser ausdrücklich als Beispiel im Katalog der Weisungen (§10 Abs. 1 Nr. 6 JGG) aufgeführt wurde (vgl. ebd.: 133, 136). Zugleich verortet sich der STK im Kinder- und Jugendhilfegesetzt (§ 29 SGB VIII) unter den Hilfen zur Erziehung als soziale Gruppenarbeit (vgl. Drewniak 2012: 13). In der vorliegenden Arbeit steht aufgrund des Erkenntnisinteresses der STK als jugendrichterliche Weisung im Vordergrund, sodass auf seine doppelte rechtliche Verortung im SGB VIII nicht weiter eingegangen wird. Weisungen sind demnach „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen“ (§10JGG). Der STK als Weisung kann informell, aufgrund einer Verfahrenseinstellung durch den Jugendstaatsanwalt oder Jugendrichter (Diversion) oder formell durch Urteil angeregt bzw. angeordnet werden (vgl. Drewniak 1996: 10). Dabei gilt das Verhältnismäßigkeitsgebot, d.h. die Anordnung muss angemessen in Bezug auf die Tatschwere sein (vgl. Beulke/ Swoboda 2020: 122). Der soziale Trainingskurs wird als eingriffsintensive strafrechtliche Sanktion betitelt, da dieser durch regelmäßige Treffen, Arbeit in Gruppen sowie das Sich-Stellen gegenüber jener, ein hohes Maß an Beständigkeit, Courage und Durchhaltekraft erfordert (vgl. Trenczek 2000: 86). Daher sollte dieser aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgebotes nicht für Bagatelldelikte oder geringfügig strafrechtlich auffallende junge Menschen gedacht sein (vgl. ebd.). Dies wird meist in der Sanktionspraxis nicht berücksichtigt. Aktenanalysen lassen erkennen, dass der STK als alleinige Sanktion i.d.R. nicht verhältnismäßig angewendet wird. Bei der tatsächlichen leistungsberechtigten Zielgruppe kommt die Erziehungsmaßregel meist nur in Kombination mit eingriffsintensiveren Sanktionen zur Anwendung (vgl. Heinz 2019: 977 zit. n. Drewniak 2011:399). Weiterhin ist der zeitliche Rahmen des sozialen Trainingskurses gemäß §11 Abs.1 JGG auf „nicht mehr als sechs Monate“ festgelegt. Dies kann aufgrund der verschiedenen Angebotsstrukturen unterschiedlich ausfallen, meist wird ein Zeitraum von drei Monaten als angemessen bevorzugt (vgl. Schöch 2013: 179). Aus Sicht der Jugendhilfe sowie der strafrechtlichen Sanktionspraxis muss weiterhin auch die Bereitschaft zur Mitwirkung und relative freiwillige Teilnahme gegeben sein, da es sonst keinen Sinn machen würde, diese Weisung anzuordnen (vgl. Trenczek 2000: 86). Außerdem kann der*die Richter*in nachträgliche Änderung bezüglich der Weisungen vornehmen. Unter anderem kann aufgrund der Erziehung von den Weisungen befreit oder die Laufzeit verändert werden (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 131; §11 Abs. 2 JGG). Schließlich heißt es im JGG: „Kommt der Jugendliche Weisungen schuldhaft nicht nach, so kann Jugendarrest verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung erfolgt war. Hiernach verhängter Jugendarrest darf bei einer Verurteilung insgesamt die Dauer von vier Wochen nicht überschreiten. Der Richter sieht von der Vollstreckung des Jugendarrestes ab, wenn der Jugendliche nach Verhängung des Arrestes der Weisung nachkommt.“ (§11 Abs. 3 JGG). Zudem entfällt die Weisung nach Verbüßung des Arrestes nicht, sondern der*die Jugendliche oder Heranwachsende muss trotz dessen der Weisung nachkommen, ansonsten kann erneut Arrest verhängt werden (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 131f.).
2.1.2 Geschichtliche Einordnung und Entstehung
Die Entstehung der neuen ambulanten Maßnahmen, speziell auch der sozialen Trainingskurse, verzeichnen eine langjährige Geschichte von Reformbestrebungen betreffend adäquater Reaktionsmöglichen auf Jugendkriminalität (vgl. Drewniak 2012: 13). Historisch gesehen wurde der STK unter der Bezeichnung „Erziehungskurse“ erstmalig Ende der 60er Jahren in einer Denkschrift der Arbeitswohlfahrt zur Reform des Jugendstrafrechts ausdrücklich genannt (vgl. Seitz/Walkenhorst 1995: 381). Ausgehen vom Wandel der Deutung und Bewertung des Phänomens Jugendkriminalität und der kritischen Einschätzung der Sanktionspraxis des Jugendgerichtswesens wurden adäquate Reaktionsmöglichkeiten seit den 1960er Jahren verstärkt diskutiert (vgl. Drewniak 2012: 13f.). Aufgrund des Wissens um Normalität, Ubiquität und Episodenhaftigkeit jugendlicher Delinquenz sowie der negativen Auswirkungen freiheitsentziehender Maßnahmen sollten die neuen ambulanten Maßnahmen ebendiesen eine Alternative bieten (vgl. Fischer/Lippold 2000: 246). Anlässlich der vielfachen Diskussionen, auch bezüglich der „Forderung nach einer grundsätzlichen Ablösung des Jugendrechts vom strafrechtlichen Denken“ (Drewniak 2012: 14 zit. n. Peters 1966: 60), wurden demnach zahlreiche Entwürfe zur Änderung des JGG vorgelegt (vgl. ebd.). „Eine Reform von oben“ (Heinz 2019: 14) blieb jedoch aus. Trotz dessen verfügte die Praxis aufgrund der Flexibilität der Normen des JGG über einen großen Handlungsspielraum, sodass diese das Jugendstrafrecht ohne Gesetzesänderung fortentwickeln konnte und so eine Reform des Jugendstrafrechts durch die Praxis, eine Reform von unten, entstand (vgl. ebd.; Beulke/Swoboda 2020: 50f.). Die in der Kritik stehende unbefriedigende und ineffiziente Sanktionspraxis und das von Fachkräften kritisch gesehene sinnlose Absitzen in Gefängnissen und Arrestanstalten konnte aufgrund dieser inneren Reform entgegengewirkt werden (vgl. Seitz/Walkenhorst 1995: 380f.). Maßgeblich für die Entwicklung der NAM waren die kriminalpolitischen Strömungen zur Forderung der Ablösung bzw. Zurückdrängung der repressiven Maßnahmen (vorwiegend Jugendarrest und -strafe) (vgl. Dünkel et. al. 2000: 241). Daraufhin wurden die NAM seit Ende der 1970er Jahre in vielzähligen Modellprojekte entwickelt und erprobt (vgl. Drewniak 1996:5; Drewniak 2012: 13). 1974 wurden die ersten sozialen Trainingskurse für straffällig gewordene Jugendliche vom Caritas-Verband Koblenz durchgeführt, in denen sich die Jugendlichen mit ihrem Fehlverhalten, sich selbst und Handlungsalternativen auseinandersetzen sollten (vgl. Seitz/Walkenhorst 1995: 381). Seit jeher fand eine bundesweite Verbreitung statt, in der sich aufgrund fehlender Kriterien und Orientierungspunkte eine sehr heterogene Praxis herausgebildet hat mit methodisch und inhaltlich sehr unterschiedlichen Kursprogrammen sowie verschiedener Zielgruppen und Ziele (vgl. Drewniak 2012: 13, 15). Die strukturelle und zeitliche Gestaltung der Kurse reicht von Wochenendkursen, Blockkursen über Wochen oder Tage, einwöchige Abendkurse mit einem Einstiegswochenende bis hin zu anderen Varianten (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 137). Zudem werden die Kurse teils handlungs- und erlebnisorientiert, teils themenorientiert oder in Kombinationen durchgeführt (vgl. ebd.). Schließlich wurden der STK und die anderen NAM bezüglich 1.JGGÄndG 1990 vom Gesetzgeber rechtlich verankert, indem sie unter den Erziehungsmaßregeln in den Katalog der Weisungen aufgenommen wurden (vgl. Drewniak 2012: 13). Gleichzeitig wurde der Soziale Trainingskurs im neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) festgelegt (vgl. ebd.). Jugendkriminologisch begründet wurde dies im Regierungsentwurf wie folgt: „Es hat sich […] gezeigt, dass die in der Praxis vielfältig erprobten neuen ambulanten Maßnahmen (Betreuungsweisungen, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich) die traditionellen Sanktionen (Geldbuße, Jugendarrest, Jugendstrafe) weitgehend ersetzen können, ohne dass sich damit die Rückfallgefahr erhöht. Schließlich ist seit langem bekannt, dass die stationären Sanktionen des Jugendstrafrechts (Jugendarrest und Jugendstrafe) sowie die Untersuchungshaft schädliche Nebenwirkungen für die jugendliche Entwicklung haben können.“ (vgl. Heinz 2019: 15 zit. n. BT-Drs. 1989, 11/5829: 1).
Aufgrund dessen war auch die Hoffnung von fachlicher Seite (Initiatoren der NAM, sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht in der DVJJ [BAG]) groß, dass die rechtliche Verankerung der NAM ein Umdenken zur Folge haben würde (vgl. Fischer/Lippold 2000: 274). Weiter wurde angenommen, dass dies einen grundlegenden Wandel der Jugendstrafrechtspflege auslöse, welcher freiheitsentziehende Maßnahmen, besonders den Jugendarrest, zurückdrängen würde (vgl. ebd.). Diese Erwartungen sind bis heute nicht eingetreten. Zum gleichen Entschluss kommt auch Heinz (2019: 1004) in seinem Gutachten zum Jugendstrafrecht, indem er bestätigt, dass die ambulanten Maßnahmen in der Sanktionspraxis keinen größeren Anteil annehmen, sondern die ambulanten Zuchtmittel zu Lasten der Erziehungsmaßregeln deutlich häufiger gewählt werden. Die Sanktionspraxis scheint nicht auf freiheitsentziehende Maßnahmen verzichten zu wollen (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 51). Zudem wird der Arbeitsweisung als ambulante Sanktion eine größere Rolle zugeschrieben und häufiger gewählt als besonders viel diskutierte Maßnahmen wie speziell auch der STK (vgl. ebd.). Somit konnten die NAM, außer der Arbeitsleistung, in der Sanktionspraxis nicht über ein Nischendasein hinauskommen (vgl. Fischer/Lippold 2000: 279 zit. n. Heinz 1996: 117).
2.1.3 Qualitätsstandards zur Anordnung und Durchführung
Die Methoden der Durchführung, unter anderem die zeitliche sowie strukturelle Gestaltung der Kurse, ist wie bereits erwähnt wurde, noch immer sehr unterschiedlich. (vgl. Beulke/Swoboda 2020: 137). Auch im JGG finden sich keine konkreten Regelungen zu inhaltlichen, organisatorischen und personalen Kriterien für die Durchführung und Anordnung, sodass diese den Trägern der Jugendhilfe überlassen werden (vgl. Trenczek 2000: 86).
Diesbezüglich hat BAG 1991/1992 einen Leitfaden entwickelt und erstellt, indem Mindestvoraussetzungen für die inhaltlichen, organisatorischen sowie personalen Bedingungen formuliert wurden, die der Praxis eine Planungs- und Orientierungshilfe bieten sollen (vgl. BAG 1991/92: 407). Zudem sollte der Leitfaden dazu dienen, einer potentiellen fehlerhaften Entwicklung vorzubeugen, wie dem sogenannten „Projektwildwuchs“ (vgl. ebd.: 408). Dabei wird speziell für den STK betont, dass dieser anstelle des Dauerarrestes und Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen“ angeordnet werden soll (vgl. ebd.: 423). Grundlegend plädiert die BAG (ebd.) dafür, dass der STK nicht gleichzeitig mit Arrest verhängt werden darf aufgrund der zusätzlich entstehenden Desintegration durch die Zwangsmittel und der negativen Auswirkungen auf die relative Freiwilligkeit bezüglich der freiwillige Teilnahmevoraussetzung des sozialen Trainingskurses. Weiterhin ist die Anwendung nur bei mehrfach straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden gerechtfertigt „bei denen die Gefahr anhaltender gesellschaftlicher Desintegration hinreichend durch Art und Anzahl der begangenen Straftaten belegt werden kann“ (ebd.). Es wird konkret darauf hingewiesen, dass die Anordnung eines STK´s nicht für Bagatelldelikte geeignet ist und diese erzieherische Intervention nicht die Aufgabe der Justiz und NAM sei. Hierzu hat auch Heinz (2019: 1010) darauf verwiesen, dass es dadurch zu einer „unerwünschten Überbetreuung und Erweiterung sozialer Kontrolle“ (ebd.) führen würde. Zudem muss die Anordnung fachlich begründet werden und soll eine angemessene Dauer von 3 bis 6 Monaten nicht überschreiten (vgl. BAG 1991/92: 423f.). Bezüglich der Gestaltung der Kurse wurden ebenfalls einige Mindeststandards formuliert. Der STK soll durch mindestens von zwei hauptamtlichen Pädagog*innen/ Sozialarbeiter*innen durchgeführt werden sowie eine Gruppengröße von 10 Personen nicht überschreiten. Außerdem sind Supervisionen für die Mitarbeiter*innen unerlässlich (vgl. ebd.: 424). Daneben sind die Kurstreffen ein bis zweimal die Woche auszurichten sowie nach den Bedürfnissen der Jugendlichen und Heranwachsenden auch um Einzelbetreuungen zu ergänzen (vgl. ebd.: 425). Inhaltlich soll der STK unterschiedliche Programmteile enthalten: problemmildernde/-lösende, informierende, handlungsorientierte, erlebnisorientierte, elternbezogene sowie integrative Inhalte (vgl. ebd.). Zusätzlich empfiehlt die BAG (1991/92: 425), dass die sozialen Trainingskurse nicht in geschlossenen, sondern vorteilhafter in offenen, fortlaufenden Gruppen stattfinden sollen und diesbezüglich sich regelmäßige mehrtägige Gruppentreffen mit erlebnispädagogischer Orientierung anbieten. Zudem wäre es sinnvoll die Gruppen für Verwandte, Freunde und freiwillige Teilnehmer zu öffnen (vgl. ebd.).
2.1.4 Forschungsstand
Der STK hat nach der Untersuchung von Dünkel et. al. (2000: 273) 1998 „einen festen akzeptierten Platz im Sanktionsgefüge des Jugendstrafrechts erlangt und sich nach Einschätzung der Beteiligten bewährt“ (ebd.), resultierend hieraus ist jedoch die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen nicht zurückgegangen (vgl. Fischer/Lippold 2000: 282). Dies wird auch im Gutachten von Heinz (2019: 973, 2186) nachgewiesen, sodass ahndende Sanktionen (Zuchtmittel, Jugendstrafe) noch immer eine dominierende Rolle in der Sanktionspraxis einnehmen, anstatt helfender, stützender Maßnahmen, wie Erziehungsmaßregeln oder die Bewährungshilfe. Zudem haben verschiedene Untersuchungen von Heinz (1996), Drewniak (1996) und Dünkel (1998) festgestellt, dass die NAM häufig nicht der anvisierten Zielgruppe, sondern vielmehr den strafrechtlich und sozial weniger belasteten Jugendlichen auferlegt werden (vgl. Fischer/Lippold 2000: 283). Weiterhin wird die Zielgruppe bei vielen Kursen nur sehr unscharf bzw. gar nicht eingegrenzt, sodass eine Aufnahme in den Kurs fast jedem fraglichen Jugendliche zugänglich ist. Lediglich vom Kurs ausgeschlossen werden problembelastete Jugendliche mit therapeutischer Hilfebedürftigkeit oder jene, die die Gruppenprozesse gefährden würden (vgl. ebd. Zit. n. Dünkel et. al. 1999:39; Dünkel 1998: 139). Dies wird auch durch die Untersuchung von Drewniak (1996:74) bestätigt. Hierbei zusätzlich herausgestellt hat sich, dass die von der BAG entwickelten Mindeststandards (siehe Kapitel 2.1.3) in nur zahlenmäßig wenigen Projekten erfüllt werden (vgl. ebd.: 86). Weiterhin zeigt sich im Gutachten von Heinz (2019: 1036, 2186f.) bezüglich der Sanktionspraxis, dass die NAM gegenläufig zu den Erwartungen des Gesetzgebers hinsichtlich ihres verstärkten Gebrauchs eine rückläufige Rolle einnehmen und jene im Zeitverlauf an Bedeutung verloren haben sowie meist nur als Begleitsanktionen (in sogenannten Maßnahmecocktails) mit Zuchtmitteln in Erscheinung treten. Die Verbindungen mehrere Sanktionen aus Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel wird in der Sanktionspraxis in hohem Maß beansprucht (vgl. ebd.: 2186). 2015 kamen auf einen Verurteilten ungefähr 1,6 Sanktionen (vgl. ebd.: 973).
Schlussfolgernd kann die Vermutung, dass die bundesweite Einführung der NAM keinen essentiellen Effekt auf die Reduktion freiheitsentziehender Sanktionen habe, durch Heinz, Drewniak und Dünkel et. al. aufgrund der relativ geringen Anwendung und der Verfehlung der Zielgruppe bestätigt werden (vgl. Fischer/Lippold 2000: 283).
2.1.4.1 Zur Realisierung der kriminalpolitischen Zielsetzung
Aufgrund der Schlussfolgerung des vorherigen Kapitels stellt sich die Frage, welche Wege beschritten werden müssen, damit der STK seine, bis heute zum größten Teil, nicht realisierten Zielsetzung verwirklichen kann. Demzufolge haben Forscher*innen bestimmte Kriterien herausgearbeitet, damit der STK seine kriminalpolitische Zielsetzung mindestens nahezu erreichen kann (vgl. Fischer/Lippold 2000: 284).
Drewniak (1996:86), die sich mit den Qualitätsstandards der BAG befasst, kommt zu dem Entschluss, dass eine an den Standards ausgerichtete Praxis demnach tatsächlich dazu führt, „daß zu einem höheren Anteil die der Zielsetzung entsprechende Zielgruppe junger Straffälliger erreicht wird“ (ebd.). Auch Dünkel et. al. (2000: 278) verweist darauf, dass „sorgfältig konzipierte und auf einem hohen infrastrukturellen Standard betriebene Projekte [..] sich erfahrungsgemäß meist auch gegen anfängliche Widerstände und Vorbehalte auf Seiten der Justiz mittelfristig durchsetzen [konnten].“ (ebd.). Fischer und Lippold (2000: 285) fassen dementsprechend zusammen, dass es zur Zurückdrängung freiheitsentziehender Maßnahmen neben personellen sowie materiellen Standards der BAG auch einem prinzipiell herstellbaren Grundkonsens speziell der Fachkräfte, aber auch aller anderen Beteiligten am Jugendstrafverfahren bedarf, welcher die NAM als eine Alternative zu freiheitsentziehenden Maßnahmen, insb. dem Jugendarrest anerkennen sollte. Nur dann können Fachkräfte immer wieder anhand von Aufnahme- und Ausschlusskriterien gegenüber der Justiz betonen, dass nur mehrfach strafrechtlich vorbelastete und sozial erheblich belastete Menschen am STK teilnehmen können und dürfen (vgl. ebd.). Um dementsprechend auch dem Machtgefälle durch die Entscheidungskompetenz der Justiz zwischen Jugendrichter*innen und Fachkräften des STK´s abzubauen, ist es wichtig, dass die unterschiedlichen Institutionen miteinander kooperieren. Das bedeutet, dass einerseits die Jugendrichter*innen den Fachkräften durch Transparenz Auskunft über ihre Arbeit bezüglich strafrechtlicher Faktoren für Entscheidungen, Verfahrensweisen und Sanktionen geben und andererseits die Fachkräfte der Justiz über die Ziele und Handlungen ihrer Maßnahme Bericht erstatten, informieren und diese dokumentieren (vgl. ebd.: 285f.; Drewniak 1996: 27).
Weiterhin spielen Selbstevaluationen eine bedeutende Rolle, um mithilfe dieser die eigenen Standards der Arbeit zu überprüfen. Sie sind zudem als „Bestandteil der Qualitätsentwicklung und der Qualitätssicherung notwendig“ (Heinz 2019: 2183). Dies lässt darauf schließen, dass jene auch für das Potential zur Erreichung der Zielsetzung des sozialen Trainingskurse essentiell sind.
Schlussendlich ist eine Abschreckung durch Strafandrohung bei Jugendlichen, wie viele Untersuchungen ergeben haben, weitgehend illusionär. Dem Freiheitsentzug wird keine positive Wirkung zugeschrieben, weshalb es essentiell ist, dass ambulante Maßnahmen weiter ausgebaut werden müssen (Heinz 2019: 2270).
3. Durchführung der Forschung
3.1 Fragestellung und Ziel der Untersuchung
Der theoretische Teil der Arbeit verdeutlicht, dass der soziale Trainingskurs seiner kriminalpolitischen Zielsetzung bis heute nicht entsprechen konnte, diese jedoch unter bestimmten Bedingungen möglicherweise erreichen könnte. Seit Beginn des Bestehens der ambulanten Maßnahmen, speziell auch des Sozialen Trainingskurses, wurde darüber diskutiert, ob und wie diese ihrem kriminalpolitischen Ziel gerecht werden kann. Dabei spielt auch die Haltung der Praktiker*innen eine entscheidende Rolle. Doch wie die fachliche Einschätzung der Praktiker*innen des sozialen Trainingskurses in der heutigen Zeit tatsächlich ist, kann nur vermutet werden. Aufgrund dessen ist das Ziel dieser Untersuchung, die fachlichen Meinungen hinsichtlich der Fragestellung sowie möglicherweise Verbesserungsvorschläge herauszufinden. Diesbezüglich wurden Praktiker*innen des Handlungsfeldes befragt, da diese inmitten des untersuchten Forschungsgegenstandes agieren. Zudem war es das Anliegen der Forscherin, auch einige wichtige Gestaltungsgrundlagen der angebotenen sozialen Trainingskurses zu erfragen, da sich diese gemäß der Literatur sehr voneinander unterscheiden sowie einen entscheidenden Einflussfaktor für das Potential darstellen. (Einblick in das Kursangebot liefert somit wichtige Hinweise zur Forschungsinteresse und Rahmen der Arbeit) Die forschungsleitende Fragestellung lautet dabei:
„Inwiefern kann und soll der soziale Trainingskurs freiheitsentziehende Maßnahmen aus Sicht von Praktiker*innen ersetzen ?“
3.2 Begründung der Methodenwahl
Bei der Entscheidung über die richtigen empirischen Methoden bildet das vorhandene Forschungsinteresse einen wesentlichen Faktor (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2019: 105f.; Stein 2019: 125f.). Die Realisierung der Untersuchung wird hier im Rahmen der qualitativen Forschung durchgeführt. Grund für die Wahl qualitativer Methoden zur Erhebung und Auswertung dieser Forschung ist es, dass jene den Schwerpunkt auf die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen oder den Sinn (vgl. Helfferich 2019: 21) sowie auf das Verstehen und die Interpretation legt. Quantitative Forschung hingegen ist durch aggregierte Daten, u.a. anhand standardisierter Fragebögen, der Analyse jener und der Reduktion der Wirklichkeit mittels Zahlen charakterisiert (vgl. ebd.: 22; Häder 2019: 64-69). Das vorliegende Erkenntnisinteresse zielt jedoch auf subjektive Meinungen, Einschätzungen und Haltungen von Personen und nicht auf numerische Ergebnisse ab, weshalb die qualitative Forschung der Untersuchung angemessen erscheint. Da sich die qualitative Forschung im Gegensatz zur quantitativen Forschung bekanntlich nicht als hypothesenprüfendes, sondern als hypothesengenerierendes Verfahren versteht (vgl. Lamnek 2016: 34), bietet sich das qualitativ explorative Verfahren aufgrund der Tatsache der spärlich vorhandenen Literatur sowie des Forschungsstandes im Bereich sozialer Trainingskurse als sinnvollerer Zugang an. Weiterhin wird der Forschungsinhalt durch die hypothesenüberprüfende Vorgehensweise nicht voreilig eingegrenzt, sodass die zu erforschendenden subjektiven Meinungen, Haltungen und Erfahrungen von Personen ermittelt werden können. Demnach zeichnet sich qualitative Forschung durch große Offenheit sowie Flexibilität aus. Die Forscherin wollte in ihrer Untersuchung insofern den Wahrnehmungsfilter so weit wie möglich offenhalten, um eventuell auch unerwartete sowie instruktive Informationen zu erhalten (vgl. Lamnek 2016: 33), weswegen auch hier mit der Wahl eines qualitativen Forschungsansatzes argumentiert werden kann. Dennoch bleibt anzumerken, dass obwohl die Forscherin sich für qualitative Methoden der Datenerhebung sowie -auswertung entschieden hat, diese nach Häder (2019: 64) nicht gänzlich von der quantitativen Forschung abgegrenzt werden können. „Qualität und Quantität bilden vielmehr eine Einheit.“ (ebd.). Demnach können die nachfolgenden Erhebungs- und Auswertungsmethoden, das Expert*inneninterview nach Meuser und Nagel (Kapitel) sowie die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (Kapitel), zugleich quantitative Aspekte beinhalten.
3.2.1 Qualitative Erhebungsmethode – Expert*inneninterview nach Meuser und Nagel
Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses, des Untersuchungsziels und der besonderen Vorgehensweise wird in der vorliegenden Untersuchung die spezielle Variante des Leitfadeninterviews, das Expert*inneninterview nach Meuser und Nagel (2009, 1991), als ein geeigneter Informations- und Datenzugang gewählt. Das Expert*inneninterview stellt ein sehr häufig verwendetes Verfahren dar, welches sich in unterschiedlichsten Forschungsfeldern etabliert hat (vgl. Meuser/Nagel 2009: 465; Meuser/Nagel 1991: 441). Im Allgemeinen wird es als ein wenig strukturiertes Erhebungsinstrument beschrieben, welches zur Exploration dient (vgl. Meuser/Nagel 2009: 465). Speziell handelt es sich um ein „Instrument der Datenerhebung, das auf einen spezifischen Modus des Wissens bezogen ist – auf Expertenwissen“ (ebd.: 466). Hier liegt auch der wesentliche Unterschied zu anderen qualitativen Interviews, wie offenen, ethnografischen und narrativen Interviews. Folglich bildet nicht die Gesamtperson mit ihren individuellen und kollektiven Lebensphasen den Gegenstand der Analyse, wie es beispielsweise in der Biografieforschung üblich ist, mittels narrativer Interviews persönliche Lebensläufe zu rekonstruieren. Viel mehr konzentrieren sich Expert*inneninterviews auf die organisatorischen und institutionellen Zusammenhänge als ein spezieller Aspekt der Gesamtperson, welches sich in Expert*innenwissen äußert (vgl. Meuser/Nagel 2009: 467, 469; Meuser/Nagel 1991: 442). Demnach wird sich nicht für die Privatperson mit ihren individuellen Biografien als solche interessiert, sondern der Fokus auf die in einen Funktionskontext eingebundenen Akteure gelegt. (vgl. Meuser/Nagel 2009: 469).
Schließlich gilt es zu klären, wie der Expert*innenstatus welchen Personen zugeschrieben werden kann. Gemäß Meuser und Nagel (2009: 443) sind Expert*innen nicht jene, die von außen Stellung zum Gegenstand beziehen, sondern dementsprechend selbst Teil des zu untersuchenden Handlungsfeldes sind. Im Gegensatz zu Laien verfügen Expert*innen über ein Wissen bzw. eine Art Wissensvorsprung sowie individuelle Erfahrungen, welches nicht jeder Person im interessierten Handlungsfeld zur Verfügung steht (vgl. ebd.: 467). Dabei wird der Expert*innenstatus nicht ausschließlich durch die Berufsrolle bestimmt, sondern auch Akteure, die aufgrund ihrer Tätigkeit, beispielsweise ein Ehrenamt, über einen privilegierten Zugang an Informationen verfügen, sind Gegenstand von Expert*inneninterviews (vgl. ebd.: 467ff.). Die Zuschreibung eines Expert*innenstatus resultiert schließlich aus dem jeweils vorhandenen Forschungsinteresse und ist somit ein relationaler Status. Diesbezüglich wird dieser individuell von den Forscher*innen aufgrund ihrer spezifischen Fragestellung verliehen (vgl. ebd.: 470; Meuser/Nagel 1991: 443f.). Zusammenfassend ist ein*e Expert*in somit jene*r, „wer in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Ausarbeitung, die Implementierung und/oder die Kontrolle einer Problemlösung und damit über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen, Soziallagen, Entscheidungsprozess, Politikfelder usw. verfügt.“ (Meuser/Nagel 2009: 470).
Weiterhin können mit Expert*inneninterviews unterschiedliche Wissensbestände erhoben werden. Meuser und Nagel (2009: 471/ 1991: 445f.) differenzieren in diesem Zusammenhang abhängig von der Stellung sowie Funktion der Expert*innen innerhalb des Forschungsdesigns zwischen Kontext- und Betriebswissen. Demnach können Expert*innen die Zielgruppe der Untersuchung repräsentieren, welche Auskunft über ihr eigenes Handlungsfeld geben. Das dadurch vorhandene explizite sowie implizite Erfahrungswissen (vgl. Meuser/Nagel 2009: 472) von Handlungsstrukturen sowie Entscheidungsprozesse wird dann als Betriebswissen bezeichnet. Bei der Erhebung von Betriebswissen im Expert*inneninterview steht die Datengewinnung als zentrales Instrument im Vordergrund (vgl. ebd.). Die Forschungsergebnisse beinhalten nicht nur Hypothesen des untersuchten Handlungsbereiches, sondern dienen auch als „Prüfinstanz für die Reichweite der Geltung des zu Grunde gelegten theoretischen Erklärungsansatzes“ (Meuser/Nagel 1991:447). Andererseits können Expert*innen eine zur Zielgruppe komplementäre Handlungseinheit bilden und liefern demnach Informationen über die Kontextbedingungen des Handelns der Zielgruppe (vgl. ebd.: 445). Dieses Sonderwissen bezieht sich beispielsweise auf Wissen über Handlungsweisen sowie Lebensbedingungen einer bestimmten Population und wird als Kontextwissen definiert (vgl. Meuser/Nagel 2009.: 471). Im Gegensatz zur Erhebung von Betriebswissen ist das Expert*inneninterview bei der Erhebung von Kontextwissen meist nur ein Verfahren neben anderen, wie z.B. beim Erheben regionaler Strukturdaten (vgl. Meuser/Nagel 1991: 446). Sie dienen lediglich der Bestimmung des Sachverhaltes und sind nicht im Stande, „die Gültigkeit theoretischer Behauptungen über den Sachverhalt zu prüfen“ (vgl. ebd.: 447). Anzumerken bleibt zuletzt, dass diese Differenzierung der Wissensbestände keine Rolle bei der Durchführung spielt, sondern nur hinsichtlich des Aufwandes der Auswertung von Bedeutung ist (vgl. Meuser/Nagel 1991: 446).
Für die Vorgehensweise gibt es keine konkreten Regeln, sodass die Forscher*innen einen großen Handlungsspielraum haben (vgl. ebd.: 441f.). Bei der Datenerhebung plädieren Meuser und Nagel (2009: 472) für ein offenes Leitfadeninterview. Denn im Gegensatz zu standardisierten Befragungen, bei denen es sich meist um rationalisierte und legitimationsfähige Argumentationsfiguren handelt, können offene Interviews, beispielsweise mittels der Erläuterungen und Improvisationen von Expert*innen, mehr in Erfahrung bringen und bleiben nicht auf der Wissensebene des diskursiven Bewusstseins (vgl. ebd.). Dies kann nur mit Hilfe eines thematischen Leitfadens sowie seiner flexiblen Handhabung gelingen (vgl. ebd.). Die Arbeit am Leitfaden, dessen Konstruktion durch die inhaltliche Auseinandersetzung, bietet „dem Interviewer die thematische Kompetenz, die ein ertragreiches Interview ermöglicht“ (Meuser/Nagel 2009: 473) und sichert zudem, dass der*die Expert*in den*die Interviewer*in als kompetente*n Gesprächspartner*in anerkennt sowie das Gespräch methodisch in die richtige Richtung läuft (vgl. ebd.). Außerdem bietet dies auch dem*der Interviewer*in zugleich Sicherheit während des Interviews (vgl. ebd.). Weiterhin dient der Leitfaden zur thematischen Eingrenzung und Fokussierung hinsichtlich des Forschungsinteresses, sodass mit seiner Hilfe das Gespräch auf relevante Forschungsthemen zurückgelenkt werden kann (vgl. Meuser/Nagel 1991: 448).
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