Deliberative Demokratie. Ist der Ansatz von Jürgen Habermas ein geeigneter Weg, die Öffentlichkeit an politischen Entscheidungsprozessen stärker zu beteiligen?
Zusammenfassung
Im nachfolgenden Teil wird der theoretische Ansatz nach Habermas unter den Gesichtspunkten der Diskurstheorie und der Öffentlichkeit unter der Anwendung des Zentrum-Peripherie-Modells analysiert und ein Vergleich zur gegenwärtigen Praxis hergestellt. Des weiteren wird unter dem Aspekt der Diskurstheorie auf die ideale Sprechsituation eingegangen. Anhand dieser orientieren sich die nach Habermas konzipierten Sprechakten und der daraus resultierende Sprechmodus, der unterschiedliche Geltungsansprüche einnimmt. Unter dem vierten Kapitel wird der zivilgesellschaftliche Raum der Öffentlichkeit dargestellt. Dabei untergliedert sich das Kapitel in die der allgemeinen Zugänglichkeit, welche eine zentrale Rolle bei Habermas beansprucht und an der Legitimation politischer Entscheidungen innerhalb der deliberativen Demokratie.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Deliberative Demokratietheorie
3. Theoretischer Ansatz nach Jürgen Habermas
3.1 Diskurstheorie
3.2 Öffentlichkeit und ihre Anwendung im Zentrum-Peripherie-Modell
4. Der zivilgesellschaftliche Raum der Öffentlichkeit
4.1 Die allgemeine Zugänglichkeit in der deliberativen Demokratie
4.2 Legitimation politischer Entscheidung in der deliberativen Demokratie
5. Bild von Habermas zu digitalen Umsetzungsmöglichkeiten deliberativer Elemente in der Politik
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Jürgen Habermas gilt mit seiner Konzeption der deliberativen Demokratie und der damit einhergehenden Zentralisierung des Bürgers am politischen Prozess als Vordenker der politischen Partizipation. Die Deliberative Demokratie hebt den öffentlichen Diskurs in das Zentrum einer politischen Entscheidungsfindung. Dabei ist die bürgerliche Teilhabe und die öffentliche Kommunikation an einem politischen Entscheidungs- und Willensprozess wesentlich (vgl.: Pateman 2012, S. 8).
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Fragestellung „stellt der deliberative Ansatz von Jürgen Habermas einen geeigneten Weg dar, die Öffentlichkeit an politischen Entscheidungsprozessen stärker zu partizipieren?“ Um diese fundiert zu beantworten, wird im ersten Kapitel der Arbeit die Basis, nämlich die deliberative Demokratietheorie untersucht. Inhaltlich wird ein kurzer Abriss folgen, der die normative und empirische Theorie gegenüberstellt und sich am Ende auf den deliberativen Ansatz nach Habermas anwendet. Im nachfolgenden Teil wird der theoretische Ansatz nach Habermas unter den Gesichtspunkten der Diskurstheorie und der Öffentlichkeit unter der Anwendung des Zentrum-Peripherie-Modells analysiert und ein Vergleich zur gegenwärtigen Praxis hergestellt. Des weiteren wird unter dem Aspekt der Diskurstheorie auf die ideale Sprechsituation eingegangen. Anhand dieser orientieren sich die nach Habermas konzipierten Sprechakten und der daraus resultierende Sprechmodus, der unterschiedliche Geltungsansprüche einnimmt.
Unter dem vierten Kapitel wird der zivilgesellschaftliche Raum der Öffentlichkeit dargestellt. Dabei untergliedert sich das Kapitel in die der allgemeinen Zugänglichkeit, welche eine zentrale Rolle bei Habermas beansprucht und an der Legitimation politischer Entscheidungen innerhalb der deliberativen Demokratie.
Schlussendlich wird der Ansatz der deliberativen Demokratie auf das Internet als potenzielle Form der deliberativen Demokratie einer modernen Gesellschaft projiziert. Dabei werden Erkenntnisse von Habermas einfließen, die diese unter Anwendung und Berücksichtigung seiner Kriterien bewertet.
2. Deliberative Demokratietheorie
Die Anzahl an möglichen Demokratietheorien ist umfangreich (vgl. Schmidt 1997, S. 21). Grob lassen sie sich in zwei Lager aufspalten: die empirische, welche den Ist-Zustand bestehender Theorien erforscht und die normative Theorie, die einen Soll-Zustand untersucht (vgl. Guggenberger 1995, S. 82).
Die deliberative Demokratietheorie nach Habermas ist eine normative Theorie einzuordnen.
Es empfiehlt sich, die Aussagen nach Habermas und dem normativen Ansatz tiefer zu durchdringen. Habermas vertritt die Auffassung, dass eine funktionierende Demokratie sowohl im Ausmaß der politischen Partizipation charakterisiert als auch in deren Qualität. Dabei sieht das Demokratieverständnis nach Habermas wie folgt aus (vgl. Waschkuhn 1998, S. 58f.):
„Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein“ (Habermas 1961, S. 15)
Dabei gestaltet sich die Gesellschaft so, dass sie eine maximale Freiheit erfährt. Diese Freiheit ist nur dann zu erlangen, sobald sich der Bürger politisch partizipiert. In jener Demokratie sieht Habermas den Sinn und Zweck darin, den Bürger als ein mündiges Individuum anzusehen, sobald er eigenständig politisch handelt. Denn dann kann er seine personale Autorität in eine rationale Autorität umwandeln, was Habermas gesellschaftlicher Demokratievorstellung entspricht, und sich ausschließlich aus mündigen Bürgern darstellt (vgl. Schmidt 1997, S. 175).
Dieser Ansatz inkludiert Normen und Werte und es werden aktuelle und wünschenswerte Zustände dargestellt (vgl. Landwehr 2012, S. 360f.). Einen zentralen Zusammenhang stellt die normative Theorie innerhalb ihrer kommunikationstheoretischen Basis dar, da der Rahmen der deliberative Demokratie als Bindeglied zwischen der Demokratietheorie und der Kommunikationstheorie fungiert. (vgl. Abrecht 2010, S. 52). Habermas erkennt das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Politik und Öffentlichkeit. Als Basis dient hierbei die sowohl aktive als auch kritische Zivilgesellschaft, die zwar keine administrative Macht erhält, jedoch durch ihre kommunikative Macht zu einer Legitimation verhelfen kann. Dadurch wird ersichtlich, dass der Ansatz der deliberativen Demokratie nie als eine rein normative Theorie in Sinne des Soll-Zustandes konzipiert wurde (vgl. Göhler 2007, S. 81).
Die Grundlage, auf der das Konzept der kommunikativen Rationalität beruht, sollte hauptsächlich auf der politischen Praxis liegen (vgl. Heming 2007, S. 62.). Durch den normativen Standard der Legitimation soll eine stärkere Tendenz von rationalen Entscheidungen der Bevölkerung empirisch quantifizierbar werden (vgl. ebd. S. 70). Demokratietheorien müssen sich demnach sowohl mit normativen als auch mit empirischen Fragen beschäftigen. Darum sticht die Komplexität der deliberativen Demokratie heraus, denn durch im Konsens getroffene Entscheidungen fußen auf der Tatsache, dass die Bevölkerung bzw. die Partizipierenden sowohl einen bestimmten Kenntnisstand als auch rhetorische Fähigkeiten besitzen (vgl. Jörke 2012, S. 276). Es werden aber nicht nur partikulare Interessen innerhalb eines öffentlichen Diskurses thematisiert, sondern auch Allgemeinwohlinteressen. Dadurch wird das politische Interesse der Bürger zwar potenziell gesteigert, jedoch stellt sich auch die Frage der Zumutbarkeit der Anforderungen und der Möglichkeit der Konsensualisierung durch den Diskurs.
3. Theoretischer Ansatz nach Jürgen Habermas
Innerhalb des folgenden Kapitels wird der theoretische Ansatz der deliberativen Demokratie nach Jürgen Habermas dargestellt, um die zentralen Bestandteile zu sichten und einen theoretischen Rahmen zu stecken, der im weiteren Verlauf vertieft wird. Innerhalb der 1960er Jahre löste sich Habermas von der Geschichtsphilosophie von Marx und entwickelte eine Gesellschaftstheorie, die sich aus der Einheit von sozialwissenschaftlichen bzw. philosophischen Bestandteilen, sowie aus der Theorie und Praxis von Politik zusammensetzte (vgl. Pinzani 2007, S. 48f.).
Zu Beginn stellte sich Habermas die Frage, welche Personen an einem Diskurs teilnehmen sollen bzw. dürfen. Denn sollte das Kriterium der Vernunft im Vordergrund stehen, so würde dies einem Kreisschluss enden, denn erst im Diskurs kann die Vernunft identifiziert werden (vgl. Horster 1999, S. 54).
3.1 Diskurstheorie
Habermas fußt die Grundverfassung der Gesellschaft „durch eine auf Konsens zielende Prozessualität kommunikativer Vernunft [.] die in der Sprache ihre Grundlage hat“ (Dux 2013, S. 299). Die Diskurstheorie zieht in ihrem demokratischen Prozess Elemente sowohl aus dem republikanischen als auch aus dem liberalen Modell zusammen. Dadurch wird der demokratische Prozess stärker in der Diskurstheorie als im liberalen Modell implantiert, jedoch schwächer als im republikanischen Modell. Vielmehr rückt sie den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess in den Mittelpunkt, ohne dabei die rechtsstaatliche Verfassung als unbedeutend zu verstehen. Dabei setzt sich die deliberative Demokratie zum einen durch die Institutionalisierung bestimmter Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen und zum anderen durch ein Zusammenspiel institutionalisierter Beratungen zusammen, die von einer gebildeten öffentlichen Meinung ausgeht (vgl. Habermas 1992, S. 362 f.).
Die deliberative Demokratie „[.] soll in der Lage sein, die beiden anderen Demokratietypen zu beerben, ohne deren Mängel zu übernehmen“ (Ottmann, 2006, S. 317f.) Besondere Mängel sieht Habermas in den beiden Demokratietheorien darin, dass sie zu wenig die pluralistische Gesellschaft integriert, weshalb daraus der Bedarf auf mehr Kommunikation innerhalb der Gesellschaft steigt (vgl. Habermas 1996, S. 283f.).
In Gesellschaften sieht Habermas eine Abhängigkeit von kommunikativen Prozessen, die hauptsächlich der Verständigung dienen. Dabei fungiert die Sprache nicht als bloßes Medium der Verständigung, sondern die Verständigung ist das Ziel an sich (ebd. S. 300 f.). Das mit jenem verbundenen, verständigungsorientierten Handeln ist nach Habermas (1981) als Grundlage für eine gesellschaftliche Integration vorauszusetzen. Ohne die Instanz der Integration zerfällt eine pluralistisch moderne Gesellschaft, weil sie nicht mehr von Traditionen gestützt wird. Diskurse gelten als Problemmodus des verständigungsorientierten Handelns (vgl. Gottschalk-Mazouz 2000, S. 19). Genauer werden sie als eine „[...] durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation [...] in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden“ (ebd. S. 19) angesehen. Dadurch wird plastisch, dass der Diskursbegriff eine Verbindung zwischen einer kommunikationstheoretischen Grundlage und potenziellen, politischen Diskussionsprozessen darstellt, worin Wenzel (2001) den Kern der Theorie sieht (vgl. Albrecht 2010, S. 53).
Habermas sieht innerhalb einer Kommunikation bzw. eines Diskurses zentrale Voraussetzungen, um diesen überhaupt zu realisieren. Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass „[.] Argumentationsvoraussetzungen, obwohl sie einen idealen und nur annäherungsweise zu realisierenden Gehalt haben, faktisch machen müssen, wenn wir überhaupt in eine Argumentation eintreten wollen [.]“ (Horster 1999, S. 54). Habermas implementiert den Begriff einer idealen Sprechsituation in Anlehnung eines Gerichtsprozesses.
Dabei sind die zentralen Bestandteile einer idealen Sprechsituation folgende:
1. Alle Teilnehmer müssen die gleiche Chance auf Sprechakte haben, damit ein adäquater Austausch stattfinden kann, Diskurse eröffnet und Fragen bzw. Antworten gegeben werden können (vgl. ebd. S. 55).
2. Die Diskursteilnehmer müssen eine Chancengleichheit haben, Behauptungen, Empfehlungen oder Rechtfertigungen zu artikulieren. Dazu zählt es auch, den Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, um Vormeinungen zu vermeiden.
3. Es sind ausschließlich jene Diskussionsteilnehmer zugelassen, die qualifizierte Sprechakte verwenden (vgl. ebd.). Damit ist gemeint, dass die Teilnehmenden „[...] ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck [zu] bringen. Denn nur das reziproke Einpendeln von Nähe und Distanz in Handlungszusammenhängen bieten die Garantie dafür, daß die Handelnden auch als Diskursteilnehmer sich selbst gegenüber wahrhaftig sind und ihre innere Natur transparent machen.
4. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d.h. zu befehlen und sich widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf. Denn nur die vollständige Reziprozität der Verhaltenserwartungen, die Privilegierung im Sinne einseitig verpflichtender Handlungs- und Bewertungsnormen ausschließen, bieten die Gewähr dafür, daß die fromale Gleichverteilung und Chancen, eine Rede zu eröffnen und fortzusetzen, auch faktisch dazu benutzt werden kann, Realitätszwänge zu suspendieren und in den erfahrungsfreien und handlungsentlasteten Kommunikationsbereich des Diskurses überzutreten“ (ebd. 5. 56).
Die ideale Sprechsituation sowie die Geltungsansprüche leitete Habermas aus der Einteilung der Sprechakte her. Dabei zeichnen sich die Geltungsansprüche nach Habermas (1983) wie folgt:
„Im Falle explizit sprachlicher Verständigungsprozesse erheben die Aktoren mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander über etwas verständigen, Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeitsansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit existierender Sachverhalte), auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt (als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse) Bezug nehmen “ (Habermas 1983, S. 64).
Daraus abgeleitet lassen sich also die drei Geltungsansprüche: Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit herauskristallisieren. Habermas (1973) pflegte zuvor den Geltungsbereich der „Verständlichkeit“ in die Geltungsansprüche ein. Dieser stellte die „Bedingung der Kommunikation“ dar, um von einer Kommunikation auszugehen (vgl. Habermas 1973, S. 222).
In den 1990er Jahren versuchte Habermas den diskurstheoretischen Ansatz auf die politischen Ebene zu übertragen und neben dem existierenden Liberalismus und Republikanismus die deliberative Demokratie als vermittelnden Dritten zu integrieren (vgl. Lösch 2007, S. 78).
Die entsprechenden Geltungsansprüche stellen das Ziel einer Sprechsituation dar. Unter Einhaltung dieser Geltungsansprüche möchte Habermas „die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie rekonstruieren“ (vgl. Horster, 1999. S. 56). Habermas' Ziel war es, dass die Teilnehmer innerhalb eines Diskurses mittels ihrer Vernunft zu einem Konsens gelangen. Die Vernunft von Diskursen entspringt aus der Habermas'schen Konzeption der Argumentation (vgl. Albrecht 2010, S. 54). Innerhalb dieser werden die Teilnehmenden „[...] strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen oder zu kritisieren“ (Habermas 1981, S. 38). Dabei begründen sie ihre Aussagen oder zweifeln diese unter Verwendung von Argumenten innerhalb eines Diskurses an. Werden Zweifel ausgesprochen, und eine Aussage wird von der Gegenseite angenommen, dann wird der Geltungsanspruch anerkannt und eine neue Argumentationsbasis bildet sich, auf dieser neu aufgebaut werden kann (vgl. Abrecht 2020, S. 54). Innerhalb eines Diskurses bildet sich ein Prozesscharakter, der auf stetig, wechselseitigen Korrekturen basiert und von den jeweiligen Teilnehmenden artikuliert wird (ebd. S. 54).
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