In dieser empirischen Forschungsarbeit wurden über zwei Semester Sprechakte wie Reden, Interviews oder wichtige strategische Papiere von hochrangigen EU-Politikern und EU-Politikerinnen mithilfe von interpretativ-rekonstruktiven Methoden der Sozialforschung (Grounded Theory) ausgewertet. Das Forschungsziel war es, die wichtigsten Narrative, Überzeugungen und Handlungsregeln dieser Politikerinnen und Politiker, die für die EU sprechen (Selbstbeschreibung der EU), zu identifizieren und teilweise in ihrer Widersprüchlichkeit offenzulegen. Hierbei wurden auch Dokumente von politischen Beobachtern und NGOs analysiert (Fremdbeschreibung der EU).
Erzählungen und Narrative sind zentrale rhetorische Strategien in der Politik um Bürgerinnen und Bürgern, aber auch andere gesellschaftliche Akteure, von einem bestimmten politischen Handeln zu überzeugen. Auch die EU konstruiert - wissentlich oder unwissentlich - solche Narrative, die in dieser Forschungsarbeit rekonstruiert wurden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung1
2. Forschungsstand
2.1 Internationale Ordnung
2.2 Forschungsgegenstand „Europäische Union“
2.2.1 Kontextwissen zur EU
2.2.2 EU als internationale SKH – Trends und Herausforderungen
2.2.3 Im Forschungsstand auftretende Narrative der EU
3. Formaltheorie
3.1 Terminologische Darlegungen
3.2 Epistemologische Verortung
4. Heuristik
5. Methode
5.1 Herausforderungen einer Analyse „DER“ EU
5.2 Zusammensetzung des Datenkorpus
5.3 Die Grounded Theory als methodischer Bezugsrahmen
6. Darstellung der Ergebnisse
6.1 Zentrale (arenenübergreifende) Narrative und Überzeugungen der EU
6.1.1 Die EU als liberale, institutionelle SKH in einer machtpolitisch dominierten Weltordnung (Schlüsselkategorie) 35
6.1.2 Die Geschichte des Multilateralismus als ultimativer Problemlösungsweg 37
6.1.3 Das neue Narrativ des „grünen“ Europas 39
6.1.4 Das Narrativ der „aktiven, selbstständigen EU in der Welt“ 42
6.1.5 Das Geschlossenheitsnarrativ der EU 43
6.2 Arenenspezifische Narrative der EU
6.2.1 Das Wirtschaftsnarrativ: der EU-Binnenmarkt als Herzstück der Integration 44
6.2.2 Die Geschichte des Erfolgs der ständigen Integration 45
6.2.3 Das Narrativ der „Werteunion“ 46
6.2.4 Das Narrativ der „EU als Sprachrohr der Bürger*innen“ 47
6.3 Fremdbeschreibungen der EU – wie die EU gesehen wird
6.4 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse
7. Abschlussreflexion
8. Schluss
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In diesem Lehrforschungsprojekt wollen wir herausfinden, wie unterschiedliche Strukturen Kollektiven Handelns (SKH) (Definition siehe 3.1.) sich im „Konzert“ der Weltpolitik bewegen, verhalten, wechselwirken und Narrative konstituieren. Als meine SKH habe ich die Europäische Union (EU)2 gewählt, die sicherlich als weltpolitisch agierende Akteurin auftritt. Die weltpolitische Relevanz der EU ergibt sich aus mehreren Punkten: Zum einen vertritt die EU, als supranationaler Staatenverbund, rund 446 Millionen Menschen. Als demokratisch legitimierter Repräsentant vertritt die EU, neben dem Nationalstaat, diese Menschen auch außenpolitisch. Allein die bloße Macht der Quantität spricht hier also schon für eine weltpolitische Bedeutung der EU.
Zudem hat die EU auch aus historischer Sicht eine weltpolitische Relevanz. Nach dem schweren Erbe von zwei Weltkriegen hat der europäische Integrationsprozess der Welt gezeigt, dass supranationale Zusammenarbeit auf der Grundlage von rechtstaatlichen und demokratischen Verträgen eine friedenssichernde Wirkung haben kann.
Des Weiteren ist die wirtschaftliche und kulturelle Stärke der EU nicht zu vernachlässigen, da die EU unteranderem dadurch eine wichtige Rolle in der Weltpolitik einnimmt. Die wirtschaftliche Stärke der EU speist sich aus der Wirtschaftskraft der einzelnen Mitgliedsstaaten. 2018 kamen aus den weltweit 20 Ländern mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt 6 aus der EU.3 Nicht nur im Export ist die EU weltpolitisch relevant, sondern auch im Import, da die EU als weltgrößter Binnenmarkt wichtiger Abnehmer von Produkten von anderen Wirtschaftsmächten wie der USA und China ist. Neben der wirtschaftlichen Stärke sollte man die historisch gewachsene kulturelle Stärke der EU nicht vernachlässigen, die sich aus der reichen kulturellen und wissenschaftlichen Vergangenheit der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Auf weltpolitischer Bühne trifft die EU mit all diesen Voraussetzungen und von ihr propagierten Narrative auf andere weltpolitische agierende SKHs.
Zunächst werde ich in dieser Arbeit den Forschungsstand zur aktuellen weltpolitischen Ordnung explizieren, der für die spätere Einbettung und Analyse meiner SKH im internationalen Gefüge unerlässlich ist. Darauffolgend werde ich meine ausgewählte SKH der „Europäischen Union“ vorstellen. Als erstes werde ich das relativ unstrittige Kontextwissen über die EU darlegen, daran anschließend dann den aktuellen Forschungsstand zur EU als SKH im internationalen Gefüge. Hier werde ich die von anderen Autoren identifizierten Narrative der EU nennen und aufarbeiten, welche als Thesen für die eigene Datenanalyse gelten können. In einem weiteren Kapitel (3) geht es dann um die der Forschung zugrundeliegenden Formaltheorie. Hier möchte ich die ontologischen (3.1) und epistemologischen Prämissen (3.2), die den Forschungsrahmen bestimmen, im Sinne der Transparenz offenlegen. In diesem Kapitel werden die verwendeten Begrifflichkeiten auch einer terminologischen Darlegung unterzogen, damit deren Definition klar wird. Anschließend daran wird das Kapitel über die im Lehrforschungsprojekt gemeinsam gesetzte Heuristik, bei dem die einzelnen Fragestellungen mit Bezug zu meiner SKH expliziert werden. Danach widme ich mich dem methodischen Vorgehen der Forschung in den Unterkapiteln Herausforderungen einer Analyse „DER“ EU, Zusammensetzung des Datenkorpus und Die Grounded Theory als methodischer Bezugsrahmen. Im sechsten Kapitel werden die Forschungsergebnisse expliziert. Dies kann als „Herzstück“ des Abschlussberichts angesehen werden, bei dem sehr allgemeine, arenenübergreifende bis hin zu arenenübergreifende Narrative rekonstruiert wurden. Daran anschließen wird eine Abschlussreflexion der Forschung (7. Kapitel), in dem auf Auffälligkeiten hingewiesen werden, die,während dem Forschungsprozess aufgekommen sind. Das Ende dieses Forschungsabschlussberichts bildet das Schlusskapitel (8). Dort werde ich darauf eingehen, wie die EU und deren Narrativbildung sich in Zukunft entwickeln könnte.
2. Forschungsstand
Zu jeder Forschung gehört es, nicht einfach „blind“ los zu forschen, sondern den aktuellen Forschungsstand mit zu berücksichtigen. Dieses Kapitel soll diesem Anspruch Rechnung tragen, wobei von einer vollständigen Explikation des aktuellen Forschungsstands abgesehen wird. Vielmehr soll anhand unterschiedlicher Autor*innen aus dem Fachbereich der Internationalen Beziehungen beschrieben werden, wie sich die internationale Ordnung in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und welche weltpolitischen Trends sich nun beobachten lassen. Zudem soll auch ein Blick auf die Herausforderungen geworfen werden, vor der die internationale Ordnung steht. In dem darauffolgenden Unterkapitel werde ich die gerade genannten Punkte auch auf den Forschungsstand der EU anwenden.
2.1 Internationale Ordnung
In diesem Lehrforschungsprojekt gehen wir davon aus, dass es eine (wie auch immer geartete) Ordnung in der Weltpolitik gibt.45 Die uns vertraute internationale Ordnung ist maßgebend mit der Atlantik-Charta 1941 eingeführt worden.6 Diese internationale Ordnung wird auch als liberale internationale Ordnung (LIO) bezeichnet. In der Atlantik-Charta wurden einige Prinzipien definiert, die die LIO auch bis heute noch bestimmen, wie zum Beispiel die nationalstaatliche Souveränität sowie Frieden und Sicherheit. Diese Grundsätze wurden dann durch die Charta der Vereinten Nationen weiterentwickelt und mithilfe der Gründung von internationalen Organisationen eine neue weltpolitische Ordnung auf normativer Grundlage eingeführt. Seit 1947 war die LIO im Schatten des Kalten Krieges, so dass sich diese auf den Westen beschränkte.7 Erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts setzte sich dann die LIO auf der ganzen Welt durch, weswegen man auch von der LIO 2.0 spricht, wobei man hier autokratisch geführte Länder ausklammern muss.8 Nach Hanns W. Maull gibt es mehrere Strukturmerkmale der LIO, wie die „wohlwollende Hegemonie der USA“9. Die USA war der Staat der die LIO multilateral, besonders durch Sicherheitsverträge, machtpolitisch abgesichert hat.10 Weitere Strukturmerkmale der LIO sind Offenheit und Flexibilität: Das trifft in erster Linie auf den Handel zu, durch den die Weltwirtschaft ab den 1950er Jahre massiv wachsen konnte. Zwischen 1947 und 1989 war aber die insgesamte internationale Ordnung von einem „Mit- und Gegeneinander der beiden Blöcke geprägt“.11 Seit den 2000er Jahren erodiert die machtpolitische Strukturierungskraft der USA im internationalen Gefüge. Diese Diagnose einer Erodierung der weltpolitischen Strukturierungskraft der USA sehen auch weitere Autor*innen als längerfristigen Trend an.12 Also Gründe für den Niedergang der amerikanischen Hegemonie zählt Florian Böller einige Faktoren auf: 1. „domestic contestation“: Innenpolitische Probleme in den USA, wie die zunehmende Fragmentierung und Polarisierung der dortigen Gesellschaft, mindert die Unterstützung der Bevölkerung für eine internationale Führungsrolle.13 2. „breakdown of trust“: westliche Partner verlieren den Glauben an die hegemoniale Autorität der USA.14 Und 3. „challenging western hegemony“: Machtansprüche von nicht westlichen Staaten werden erhoben.15 Dies sehen sowohl Maull, als auch Milan Babic ähnlich: Die wirtschaftliche Wachstumsdynamik hat sich von westlichen Industriestaaten zu Schwellenländern wie China und Indien verschoben.16 Allgemein kann von einem sino-amerikanischen Konflikt gesprochen werden, bei dem unterschiedliche Wirtschaftsmodelle und Systeme aufeinandertreffen und dies zunehmend die Weltpolitik tangiert. Trotz dieser nachhaltigen Entwicklungen, die die westliche Hegemonie schwächen, sei eine neue Weltordnung noch nicht eingetreten, wie Babic und Maull festhalten.17 Zu einer etwas drastischeren Einschätzung kommt Zeiss, wenn dieser schreibt: „Nach Jahrhunderten westlicher Dominanz verschieben sich mit dem Aufstieg der „emerging powers“, allen voran Chinas, die politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zunehmend gen Asien.“18
Des Weiteren verschiebt sich Macht weg vom Staat zu gesellschaftlichen Akteuren, auch aufgrund des technologischen Wandels.19 Diese Entwicklung, dass die Bedeutung von Staaten zurückgehe zugunsten nicht-staatlicher Akteure, sehen mehrere der gesichteten Autoren als gegeben an.20
Die auch innerhalb von liberalen Demokratien aufkommenden Kulturkämpfe und nationalistischen Tendenzen belasten darüber hinaus die LIO. Maull konstatiert, dass die LIO an Legitimität verloren hat, da das liberale und demokratische Modell erodiert und gleichzeitig autoritäre Modelle stärker werden.21 Das Aufkommen des Populismus sehen mehrere der gesichteten Autoren als Trend und gleichzeitige Herausforderung in der Weltpolitik an.22 Populistische und protektionistische Tendenzen sind spätestens mit der Wahl des ehemaligen US-Präsidenten Trump 2016 sehr deutlich zu Tage getreten. Seit 2021 ist nun Joe Biden US-Präsident, welcher eine Rückkehr in internationale Abkommen vorgenommen hat (z.B. Pariser Klimaabkommen)23 und durch eine andere außenpolitische Rhetorik als sein Vorgänger, besonders gegenüber den Verbündeten, auftritt. Dies lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass deswegen von einer Rückkehr der hegemonialen Rolle der USA gesprochen werden kann, was die mannigfaltigen Faktoren, die oben dargelegt wurden (1. „domnestic contestation“ 2. „breakdown of trust“ 3. „challenging western hegemony“, verdeutlichen.
Als weitere Entwicklung sieht Maull, dass Defizite in der Effektivität des Regierens auf nationalstaatlicher und internationaler Ebene zunehmen.24 Zudem gibt es ein hohes Sicherheitsstreben der Ordnungsmächte USA und China, was die Aufrüstungsspirale neu befeuert hat. Allgemein wird die Rolle Chinas auf der weltpolitischen Bühne immer bedeutsamer, was man allein daran ablesen kann, dass sich die westlichen Staaten immer mehr von der chinesischen Politik herausgefordert sehen. Es kann beobachtet werden, dass die chinesische Regierung verstärkte Weltordnungspolitik25 betreibt, was durch das allgemeine geopolitischen Verhalten Chinas verdeutlicht wird. So betreibt China ein gigantische Seidenstraßenprojekt, bei dem über 100 Länder zwischen Asien, Afrika und Europa in ein Handelsnetzwerk eingespannt werden sollen26. Zudem tätigt China massive Investitionen in Afrika, wodurch ihr politischer Einfluss zunimmt.27
Als einen weiteren weltpolitischen Trend kann das verstärkte Bestreben der EU (insbesondere von Frankreich und Deutschland) genannt werden, zu einem autonomeren sicherheitspolitischen Akteur zu werden.28 Diesen Punkt werde ich aber im nächsten Kapitel ausführlicher beleuchten, wenn es um die EU als solche geht.
Um nun den Forschungsstand zur Weltpolitik abzuschließen, verweise ich auf die von Maull herausgearbeiteten Charakteristika29, die den Wandel der LIO seit 1990 beschreiben, die ich im Folgenden aufzähle, um einen Überblick bzw. eine schließende Zusammenfassung über die Trends und Herausforderungen zu geben, mit der sich die internationale Ordnung konfrontiert sieht:
- „a) Eine deutlich zunehmende Zahl relevanter staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure.“ Dies hat Jang et al. 2016 in Anlehnung an Biermann/Pattberg 2008 ebenfalls konstatiert: „the emergence of new types of agency and of actors in addition to national governments“.30
- „b) mehr Vielfalt und Heterogenität der Interessen in der Weltgesellschaft“
- „c) eine rasch steigende Zahl und Dichte der Interaktionen in allen Bereichen der internationalen Beziehungen“
- „d) eine wachsende Fragmentierung politischer Ordnungen“
- „e) das Wiederaufleben geopolitischer Spannungen und (militärischer) Machtpolitik“
- „sowie f) eine immer höhere Gewaltanfälligkeit.“
2.2 Forschungsgegenstand „Europäische Union“
2.2.1 Kontextwissen zur EU
Die Bestrebungen einer europäischen Zusammenarbeit hin zu einer „Union“ fundieren aus den Erfahrungen von zahlreichen Kriegen zwischen Nachbarländern, die mit dem zweiten Weltkrieg ihren grausamen Höhepunkt erreicht hatte.31 Die 1950 eingeführte „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ markiert den Beginn einer wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit einiger europäischen Ländern, die dauerhaften Frieden in Europa sichern sollte.32 Im Jahr 1957 entsteht dann die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)“, die einen gemeinsamen europäischen Markt begründet.33 In den darauf folgenden 1960er Jahren floriert die Wirtschaft der EWG-Mitgliedsstaaten, was auf die Abschaffung von Zöllen zurückzuführen ist. Auch die landwirtschaftliche Erzeugung wird nun gemeinschaftlich organisiert, was sogar zu Überschüssen von Agrarerzeugnissen führt.34 1973 gibt es dann die erste Erweiterung der europäischen Gemeinschaft: Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich treten ein. 1979 folgt die erste Wahl, bei denen Bürger ihre Vertreter direkt in das Europäische Parlament wählen können. In den 1980er Jahre folgen weitere Eintritte von Mitgliedsstaaten. Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9.11.1989 wird eine politische Wende ausgelöst, die in der Wiedervereinigung Deutschlands mündet. Der Zusammenbruch der damaligen Sowjetunion hat ermöglicht, dass sich mittel- und osteuropäische Staaten der EU angenähert haben. In den 1990er Jahren konnte sich somit ein europäischer Binnenmarkt etablieren. Mit dem Vertrag von Maastrich am 01.11.1993 erhielt die Europäische Union ihren Namen und die vorherige Zusammenarbeit wird unter dem Dach der Europäischen Union zusammengefasst.35 Des Weiteren wird die drei Säulen Struktur der EU-Politik geschaffen: Die erste Säule umfasst die Europäische Gemeinschaft (Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion), die zweite Säule die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die dritte Säule die Zusammenarbeit in Innen- und Justizpolitik.36
Die EU tritt als internationale SKH vor allem durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitk (GASP) und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) auf, die seit Anfang der 1990er Jahre institutionalisiert wurden.37 Gabi Schlag führt dazu aus, dass die Einführung der GASP als eine Form der Institutionalisierung außenpolitischen Handelns das internationale Image der EU als internationaler Akteur geprägt hat.38 Dies reicht aber nicht aus, um das auswärtige Handeln der EU angemessen zu beschreiben, vielmehr muss man „andere (supranational organisierte) interne und externe Politikbereiche -u.a. Handels-, Entwicklungs-, Migrations-, Umweltpolitik“39 mit einbeziehen. Das folgende Mosaikmodell von Müller-Brandeck-Bocquet und Rüger veranschaulicht die vielfältigen Bereiche, in denen die EU-Außenpolitik aufgestellt ist und durch diese auf andere SKHs trifft.
Abbildung aus Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (2019): Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Neue Perspektiven nach dem Brexit-Referendum? S.14
2.2.2 EU als internationale SKH – Trends und Herausforderungen
Die EU ist, wie oben erwähnt, mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages 1993 als supranationaler Staatenverbund gegründet worden. Schon davor (seit den 70er Jahre) gab es Bestrebungen zu einer kohärenteren europäischen Außenpolitik. Die EU und ihre Vorläufer waren von einem ständigen Integrationsprozess geprägt. Neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und dem Abbau von Handelshemmnissen hat sich die EU auch schon immer als eine Wertegemeinschaft verstanden.40 Für die Identitätsfindung der EU brauchte es und braucht es immer noch eine emotionale Fundierung, um ein kollektives Gemeinsamkeitsgefühl entstehen zu lassen.41 Passend dazu ist der Ausspruch von dem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors, der sinngemäß besagt, dass man einen Binnenmarkt ja nicht lieben könne.42 Wolfgang Richter konstatiert, dass die EU ein politisches Einigungsprojekt sei, das Europa vor einem Rückfall in nationalistische Zeiten bewahren sollte.43
Die Stellung, die die EU in der weltpolitischen Ordnung einnimmt, hat sich gewandelt. Wie bereits im letzten Kapitel beschrieben hat die USA einiges an ihrer „militärischen, wirtschaftlichen und moralischen Stärke eingebüßt“44. Trotzdem ist die USA nach wie vor die bedeutendste Macht der Welt. Die USA ist aber nicht mehr alleinig dazu in der Lage die Geschicke der Weltpolitik zu gestalten. Hier kommt nun die EU ins Spiel, der als größter supranationaler Staatenverbund weltpolitische Verantwortung zukommt, so zumindest die Einschätzung einiger politischer Beobachter*innen45. Diese Verantwortung speist sich aus der Bedeutung und der Größe der EU (siehe Einleitung dieser Arbeit). Auch hat die EU eigene Interessen, wie die Erhaltung des Friedens, eine Weiterentwicklung des Wirtschaftssystems und der auch immer wichtiger werdende Schutz der Umwelt und des Klimas46. Darüber hinaus hat die EU auch geostrategische und wirtschaftliche Interessen. Die EU-Staaten schaffen es aber oftmals nicht sich zu einigen oder auch, wenn es zur Einigung kommt, dauert dies lange, was die Effektivität einer solchen Institution nachhaltig beeinflusst. Dies wirft einige Fragen hinsichtlich der gemeinsamen EU-Narrativbildung auf. Gibt es wirklich ein gemeinsames Narrativ mit dem die EU auf weltpolitischer Bühne auf andere weltpolitische Akteure trifft, oder bedient doch jeder Mitgliedstaat sein eigenes Narrativ, wenn es um Entscheidungen geht (mehr dazu unter 5.1 Herausforderungen einer Analyse „DER“ EU )? Unter den EU-Staaten gibt es teilweise große wirtschaftliche, aber auch kulturelle Unterschiede. Dies führt Verhandlungen in der EU in ein unausweichliches Spannungsfeld. Lassen sich gewisse Allianzen von einzelnen EU-Staaten auf der Basis eines gemeinsam bedienten Narrativs erkennen? Wenn es solche Allianzen geben sollte, agitieren diese Allianzen gegeneinander? Mit Blick auf einige Zerwürfnisse zwischen EU-Partnern in Punkto Migration, Finanzierungsfragen, aber auch Reformvorhaben scheint eine solche Fragestellung unausweichlich. Wie sich herausstellen wird kann dieses Forschungsvorhaben eine solche Fragestellung aber nicht klären, aber zumindest eine Grundlage für daran anschließende Forschung anbieten. Auch gilt es zu untersuchen ob, und wenn ja wie die weltweiten populistischen Tendenzen die Narrativbildung der EU beeinflusst haben. Auch das seit Anbeginn der EU existierende Integrationsprozessnarrativ (immer weitere Annäherung von europäischen Staaten in vielfältigen Politikbereichen) steht auf dem Prüfstand. Der Brexit mit all seinen Konsequenzen ist dafür ein Beispiel. Wolfgang Richter stellt die These auf, dass die EU „keine einheitliche Vision vom möglichen „Endstatus““ einer solchen supranationalen Allianz hätte.47 Das Meinungsspektrum darüber, wie viel Vergemeinschaftung man in der EU erreichen will, geht von der Idee eines europäischen Staates48 bis zur Idee der Auflösung und Rückkehr zur vollen nationalstaatlichen Souveränität. In diesem Spannungsfeld, so scheint es mir, gibt es zur Durchsetzung der Überzeugungen bereits einen Kampf der Narrative.
Eine weitere These, die Richter aufgestellt hat, und die mir für die Bedeutung der EU in dem Gefüge der Weltpolitik relevant erscheint ist, dass „die Harmonisierung der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] noch in den Kinderschuhen stecke“.49 Richter begründet dies dadurch, dass in den oben genannten Politikfeldern die Mitgliedstaaten als souveräne Nationalstaaten auftreten.50 Dies kann man besonders an Frankreich und auch an Großbritannien (als letzteres noch in der EU war) in Fragen der Sicherheitspolitik erkennen, die als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats außen- und sicherheitspolitisch überwiegend autonom agieren. Großbritannien hat dabei auch jahrzehntelang auf das „NATO-First“ Prinzip bestanden, was einer Schaffung einer autonomeren europäischen Sicherheitspolitik im Wege stand.51 Die Tatsache, dass viele EU-Mitgliedsstaaten auch NATO-Mitglieder sind, lässt das Verhältnis zwischen diesen beiden SKHs kompliziert erscheinen: Entweder kann die EU als eigener Sicherheitsakteur komplementär oder konkurrenzerzeugend zur NATO gedacht werden.
Almut Möller hat einige Probleme und Konfliktfelder der EU identifiziert, die in der letzten Dekade aufgetreten sind und bis heute das Gefüge und die außenpolitische Wirkung der EU tangieren.52 Diese möchte ich im Folgenden anführen, um die EU als weltpolitische SKH zu beschreiben:
Zunächst sei die Euro-Krise genannt, die ausgelöst von der Finanzkrise in eine Staatsschulden- und Wirtschaftskrise innerhalb der Währungsunion mündete. Der unterschiedliche Umgang von Mitgliedstaaten mit dieser Euro-Krise hat nachhaltige Verwerfungen hervorgerufen und zwischenzeitlich wurde über ein Auseinanderbrechen der Währungsunion spekuliert. Das hat die scheinbar starke Stabilität des europäischen Projekts erschüttert, auch wenn es am Ende zu keinem Austritt von wirtschaftlich angeschlagenen Ländern wie Griechenland kam.53
Ein weiteres Problem der EU ist der Umgang mit einer bis dahin beispiellosen Zahl an Geflüchteten, die 2015 und 2016 auf die EU-Länder trafen. Möller konstatiert hier die „Unzulänglichkeiten gemeinsamen europäischen Handelns“54, die durch den Umgang mit der Flüchtlingsbewegung zu Tage getreten sind. In vielen Mitgliedsstaaten hat die Flüchtlingsfrage eine identitätspolitische Krise hervorgerufen, wie sich die Gesellschaften dort selbst wahrnehmen und einen „Kulturkampf“ ausgelöst. Möller spricht hier von einem „innenpolitischen Spaltpilz“55. Die jüngsten Ereignisse im September 2020, bei dem das Flüchtlingslager Moria auf Griechenland abgebrannt ist und rund 13.000 Geflüchtete obdachlos geworden sind, verdeutlichen die Brisanz dieses Themas. Wie schon 2015 und 2016 kann man keine „gemeinsame europäische Lösung“ erkennen, obwohl diese massenhaft von Politikern eingefordert wird.
Eine weitere Schwächung der EU ist das Referendum in Großbritannien, welches den Austritt der Briten aus der EU besiegelte. Die Tatsache des Austritts eines bedeutenden Mitgliedstaates hat gezeigt, dass der Wachstums- und Integrationsprozess der EU einen Rückschlag erfährt.56 Großbritannien ist das erste Land, das aus der EU austritt.
Zudem kann man Rückschritte in Punkten Demokratie und Rechtstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten beobachten, besonders in Ungarn und Polen. Die sogenannten Kopenhagener Kriterien, die grundlegende Werte der EU beschreiben wie „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Schutz von Minderheiten und eine soziale Marktwirtschaft“57, vertritt die EU gegenüber Drittstaaten. Eine Abkehr von einzelnen Mitgliedsstaaten von diesen Kriterien ist deshalb für den gesamten Bestand der EU gefährlich, konstatiert Möller.58
Im Folgenden werde ich die aktuellen Beziehungen der EU zu weiteren SKH´s mit weltpolitischer Strukturierungskraft erläutern. Dies ist von Bedeutung, um die im 6. Kapitel vorgestellten rekonstruierten Narrative der EU nachvollziehen zu können. Wenn man sich die Beziehungen zwischen der EU und der hier ausgewählten SKHs (USA, China und Russland) vergegenwärtigt, können auch die von der EU produzierten Narrative besser eingeordnet werden, die ja unteranderem auf diese SKHs treffen.
Als erstes sind die transatlantischen Beziehungen zu nennen, die in vielfacher Weise als besonders betrachtet werden können. Die einzelnen europäischen Mitgliedstaaten haben eine hohe Verbundenheit zu den USA, besonders auch durch das gemeinsame Sicherheitsbündnis NATO. Die EU als supranationales Konstrukt ist aber ebenfalls im hohen Maße mit den USA verbunden durch eine hohe „politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Interaktionsdichte.“59 Die transatlantische Beziehung kann auf eine tiefe, historisch gewachsene Zusammenarbeit, zurückblicken, beginnend mit der Atlantik-Charta 1941 und dem sogenannten Marshallplan 1948.60 Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA ist immens, das gemeinsame Handelsaufkommen umfasst etwa 30 Prozent des Welthandels.61
Trotz der tiefen transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen gibt es wirtschaftliche Konflikte, wie zum Beispiel um das Freihandelsabkommen TTIP, das 2017 auf Eis gelegt wurde. Wie bereits genannt ist die USA auch sicherheitspolitisch von enormer Bedeutung für die EU. Durch die transatlantische Partnerschaft innerhalb der NATO ist eine gewaltvolle Konfliktaustragung undenkbar geworden. Dennoch gibt es vielfältige Spannungen, die sich an Konfliktlinien explizieren lassen: Erstens haben die USA und die EU eine unterschiedliche strategische Kultur. Die USA ist eher dazu bereit auf militärische Mittel in der Sicherheitspolitik zurückzugreifen und die EU steht in der Tradition der „soft power“, welche dadurch Multilateralismus und zivile Konfliktlösungsstrategien bevorzugen.62 Eine zweite, von Kai Oppermann konstatierte Konfliktline ist der innereuropäische Konflikt zwischen „Atlantikern“ wie Großbritannien, die sich für eine starke sicherheitspolitische Anbindung an die USA einsetzen und „Europäern“, wie Frankreich, die die Sicherheitspolitik der EU in einem eigenständigeren Licht sehen wollen.63 Eine weitere Konfliktlinie kann in dem fortwährenden Streit um die Finanzierung der NATO angesehen werden.
[...]
1 Das Exposé im ersten Teil des Lehrforschungsprojekts wurde als Grundlage für diesen Abschlussbericht angesehen. Deswegen ähneln oder gleichen Teile des Abschlussberichts dem Exposé.
2 Nachfolgend wird EU und Europa größtenteils synonym verwendet. Dies ist besonders der besseren Lesbarkeit geschuldet. Wenn Differenzen zwischen den beiden Begriffen vorliegen, wird im Text darauf aufmerksam gemacht.
3 Zu den 20 Ländern mit dem höchsten BIP (siehe Statista)
4 Der Begriff der „Ordnung“ gilt als Grundbegriff des Politischen und der IB und geht bis auf die Antike zurück. „Ordnung“ kann als „ein geordnetes Verhältnis zwischen den Teilen eines Ganzen“ begriffen werden (Albert et al. 2018, S.2 unter Rückgriff auf Steiner 1984, S.1249).
5 Maull 2017, S.7-10
6 Ebd., S. 113
7 Ebd., S.113
8 Ebd., S.113
9 Ebd., S.114
10 Ebd., S.114
11 Ebd., S.117
12 Babic 2020; Drezner et al. 2020, S.108; Böller 2020, S.97
13 Böller 2020, S.97
14 Böller 2020, S.97 f.
15 Böller 2020, S.98
16 Maull 2017, S.120; Babic 2020, S.767
17 Babic 2020, S.773; Maull 2017, S.128
18 Zeiss 2020
19 Maull 2017, S.120
20 Drezner et al. 2020, S.110; Jang et al. 2016, S.2
21 Maull 2020, S.12
22 Babic 2020; Drezner et al. 2020, S.116 f.
23 US Botschaft: Rückkehr der Vereinigten Staaten zum Pariser Klimaabkommen
24 Maull 2020, S.12
25 Bedrow 2018, S.451
26 Tagesschau: Was ist eigentlich die „Neue Seidenstraße“?
27 Tagesschau: Afrika-Strategie: Wie China seinen Einfluss ausbaut
28 Böller 2020, S.98
29 Maul 2017, S. 17
30 Jang et al. 2016, S.2
31 Zur Geschichte der EU bis 2020 (siehe EU)
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Zur Geschichte der EU (siehe BMF)
36 Zur Geschichte der EU (siehe BMF)
37 Schlag 2016, S.28
38 Ebd., S.28
39 Keukeleire/Raube 2020, S.276
40 Uhl 2004
41 Ebd.
42 Uhl 2004
43 Richter 2017, S.104
44 Stratenschulte 2014
45 Z.B. Zeiss 2020, Fröhlich 2014, S.317
46 Stratenschulte 2014
47 Richter 2017, S.104
48 Guérot 2017
49 Richter 2017, S.104
50 Ebd., S.104
51 Müller-Brandeck-Bocquet 2019, S.19
52 Möller 2019, S.195
53 Möller 2019, S.195 f.
54 Ebd., S.196
55 Ebd., S.196
56 Ebd., S.196
57 Ebd., S. 196
58 Ebd., S.196
59 Oppermann 2020, S.1
60 Ebd., S.2
61 Ebd., S.3
62 Ebd., S.4
63 Ebd., S.4