Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Neurodiversität bei Mitarbeitenden in Unternehmen und Organisationen als zu berücksichtigendem Teilaspekt im Rahmen der Organisationsberatung und der Personalentwicklung.
Das Konzept der Neurodiversität ist noch vergleichsweise jung und stellt sich der Pathologisierung von neurologischen Minderheiten gegenüber. Neurodiversität an sich ist dabei dem gesamten Spektrum menschlicher Diversität zuzuordnen. Von dieser Tatsache ausgehend wird deutlich, dass wir in allen Lebensbereichen und somit auch im täglichen Arbeitsleben damit konfrontiert werden. Für Unternehmen und Organisationen sollte sich somit die Frage stellen nach dem Umgang mit der neurologischen Vielfalt ihrer Mitglieder und mit der Einbindung von Mitgliedern, die neurologischen Minderheiten angehören.
So kann es zum einen vorkommen, dass Menschen ihre neurologische Besonderheit erst identifizieren, während sie schon im Berufsleben stehen und es dort zu Komplikationen kommt. Andererseits können sich Unternehmen aus unterschiedlichen Gründen proaktiv für die Rekrutierung neurologischer Minderheiten entscheiden. Einer dieser Gründe kann die soziale Verantwortung sein, die ein Unternehmen übernehmen will (Inklusion), ein anderer oder zusätzlicher kann ein zu erwartender Wettbewerbsvorteil sein, den sich ein Unternehmen auf diesem Weg sichern will. Unabhängig davon, welcher Grund überwiegend ausschlaggebend ist, sind derzeit noch besondere Herausforderungen damit verbunden. Um diese zu managen, bedarf es der Entwicklung besonderer Kompetenzen auf allen Ebenen innerhalb der Belegschaft. Je nach Unternehmensgröße, Führungskultur und Unternehmenskultur ergeben sich verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten auf dem Weg zu einer entsprechenden Barrierefreiheit und somit zur erfolgreichen Inklusion.
Im Folgenden sollen daher besondere Herausforderungen und Chancen diesbezüglich ebenso beleuchtet werden wie deren Berücksichtigung im Rahmen der Organisationsberatung und der Personalentwicklung.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Neurodiversität - Begriffsklärung und thematische Einordnung
3. Neurodiversität von Mitarbeitenden in Organisationen
3.1. Allgemeines zu Neurodiversität am Arbeitsplatz
3.2. Herausforderungen durch Neurodivergenz in Organisationen
3.2.1. Unerkannte Neurodivergenz
3.2.2. Psychisches und physisches Arbeitsumfeld
3.3. Chancen durch Neurodivergenz
3.3.1. Wettbewerbsvorteil durch überdurchschnittliche Fähigkeiten
3.3.2. Gesellschaftliche Verantwortung und Optimierung der Organisationskultur durch Neurodiversität und Inklusion
3.4. Berücksichtigung des Aspekts der Neurodiversität bei Organisationsberatung und Personalentwicklung
3.4.1. Organisationsberatung und Neurodiversität
3.4.2. Personalentwicklungsmaßnahmen und Neurodiversität
4. Fazit
Literaturverzeichnis und Quellenangaben
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: "A 'Spiky Profile' showing example IQ scores." (Doyle 2020; S.110)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: medizinisches vs. soziales Modell (in Anlehnung an Brïnzea 2019, S. 14) ...
Tabelle 2: mögliche Herausforderungen für Neurodivergente am Arbeitsplatz (in Anlehnung an Doyle 2020, S. 116)
Tabelle 3: mögliche Stärken von Neurodivergenten am Arbeitsplatz (in Anlehnung an Doyle 2020, S. 116)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Neurodiversität bei Mitarbeitenden in Unternehmen und Organisationen als zu berücksichtigendem Teilaspekt im Rahmen der Organisationsberatung und der Personalentwicklung.
Das Konzept der Neurodiversität ist noch vergleichsweise jung und stellt sich der Pathologisierung von neurologischen Minderheiten gegenüber. Neurodiversität an sich ist dabei dem gesamten Spektrum menschlicher Diversität zuzuordnen1. Von dieser Tatsache ausgehend wird deutlich, dass wir in allen Lebensbereichen und somit auch im täglichen Arbeitsleben damit konfrontiert werden. Für Unternehmen und Organisationen sollte sich somit die Frage stellen nach dem Umgang mit der neurologischen Vielfalt ihrer Mitglieder und mit der Einbindung von Mitgliedern, die neurologischen Minderheiten angehören.
So kann es zum einen vorkommen, dass Menschen ihre neurologische Besonderheit erst identifizieren, während sie schon im Berufsleben stehen und es dort zu Komplikationen kommt. Andererseits können sich Unternehmen aus unterschiedlichen Gründen proaktiv für die Rekrutierung neurologischer Minderheiten entscheiden. Einer dieser Gründe kann die soziale Verantwortung sein, die ein Unternehmen übernehmen will (Inklusion), ein anderer oder zusätzlicher kann ein zu erwartender Wettbewerbsvorteil sein, den sich ein Unternehmen auf diesem Weg sichern will. Unabhängig davon, welcher Grund überwiegend ausschlaggebend ist, sind derzeit noch besondere Herausforderungen damit verbunden. Um diese zu managen, bedarf es der Entwicklung besonderer Kompetenzen auf allen Ebenen innerhalb der Belegschaft. Je nach Unternehmensgröße, Führungskultur und Unternehmenskultur ergeben sich verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten auf dem Weg zu einer entsprechenden Barrierefreiheit und somit zur erfolgreichen Inklusion.
Im Folgenden sollen daher besondere Herausforderungen und Chancen diesbezüglich ebenso beleuchtet werden wie deren Berücksichtigung im Rahmen der Organisationsberatung und der Personalentwicklung.
2. Neurodiversität - Begriffsklärung und thematische Einordnung
Das Konzept der Neurodiversität hat seine Wurzeln in einer Autismusbewegung der 1990er Jahre. Der Begriff wurde Ende der 1990er Jahre maßgeblich durch die australische Sozialwissenschaftlerin Judy Singer in ihrem Austausch mit dem Journalisten Harvey Blume geprägt (vgl. Singer 2017, n. pag.). Die Bekanntheit von Singers Arbeit über Autismus und Neurodiversität resultierte aus einer 1999 in Großbritannien erschienenen Veröffentlichung mit dem Titel “Why Can't You be Normal for Once in Your Life?” (vgl. Brïnzea 2019, S. 16). Singer versteht den Terminus neurological different in Ergänzung zu den bis dahin geläufigen Kategorien von Diversität wie Geschlecht, ethnische Herkunft, soziale Herkunft etc. (vgl. ebd.).
Blume vergleicht den Einfluss der Neurodiversität auf die Menschheit mit dem der Biodiversität auf das gesamte Leben allgemein (vgl. Blume 1998, n. pag.). Er weist darauf hin, dass neurologische Abweichungen angesichts der enormen Komplexität des menschlichen Gehirns unvermeidlich sind (vgl. ebd.). Mit der rethorischen Frage “Who can say what form of wiring will prove best at any given moment? Cybernetics and computer culture, for example, may favor a somewhat autistic cast of mind”2 (Blume 1998, n.pag.) stellt er die medizinisch pathologisierende Sichtweise von Behinderung durch neurologische Abweichung in Frage.
Im Diskurs zum Thema Behinderung steht damit das medizinische Modell dem sozialen Modell gegenüber. Im medizinischen Modell wird die Abweichung von der Norm im Sinne einer Störung oder Behinderung pathologisiert. Das soziale Modell hingegen geht von Normabweichungen aus, welche bis zu einem gewissen Grad durch Schaffung von Barrierefreiheit so weit kompensiert werden können, dass ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben innerhalb der Gesellschaft möglich ist. Es entspricht dem sozialpolitischen Konzept der Inklusion3, bei dem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Teilhabe des Individuums ermöglichen. Idealerweise hätte dabei die Unterscheidung zwischen behindert und nicht behindert keine Relevanz mehr (vgl. https://leidmedien.de/geschichte/inklusion/ 2017) .
Inklusion ist dabei nicht gleichbedeutend mit Integration. Unter Integration versteht man, genau gegenteilig, die Anpassung des Individuums an das System.
Tabelle 1: medizinisches vs. soziales Modell (in Anlehnung an Bnnzea 2019, S. 14)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Terminologie rund um den Begriff Neurodiversität wird in der internationalen und interdisziplinären wissenschaftlichen Literatur noch nicht einheitlich verwendet. Fehlender Konsens darüber, welche Begriffe geeigneter sind als andere, wird anerkannt und in Bezug auf die Beschreibung von Einzelpersonen gilt es zu erfragen, wie diese sich selbst identifizieren (vgl. Doyle 2020, S. 110). In Anlehnung an Vorschläge autistischer4 Forscher zu diesem Thema werden in dieser Arbeit folgende Begriffsdefinitionen verwendet:
- Neurodiversität wird als die gesamte neurologische Vielfalt innerhalb der Spezies Mensch verstanden (vgl. Walker 2014, n. pag.).
- Als neurodivergent werden Personen bezeichnet, deren Gehirn eine Funktionsweise hat, die erheblich von dem abweicht, was der vorherrschende gesellschaftliche Standard als normal erachtet (vgl. ebd.).
Das Gegenteil von neurodivergent ist neurotypisch. Neurotypische Menschen besitzen einen neurokognitiven Funktionsstil, der nach vorherrschenden gesellschaftlichen Standards als normal bezeichnet wird (vgl. ebd.).
Ursprünglich ausgehend von Menschen mit Autismusspektrumstörungen hat sich der Begriff der Neurodiversität also auch auf Menschen mit anderen Lern - und Verhaltensstörungen ausgeweitet (vgl. Brïnzea 2019, S. 16). Eine genauere Einordnungen und Abgrenzungen z. B. gemäß ICD5 kann in diesem Rahmen nicht erbracht werden. Es ist selbstredend, dass es alle Arten von Abstufungen, Schweregraden und Kombinationen von Störungen bzw. Behinderungen gibt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1:"A 'Spiky Profile' showing example IQ scores." (Doyle 2020; S.110)
Allen im Zusammenhang mit der Thematik dieser Arbeit als neurodivergent zu Bezeichnenden ist ein spiky profile gemeinsam, während neurotypischen ein flat profile zuzuordnen ist (vgl. Doyle 2020; S. 110). Die meisten Menschen sind in allen funktionalen und intellektuellen Fähigkeiten durchschnittlich. Einige besitzen durchgehend überdurchschnittliche und einige durchgehend unterdurchschnittliche Fähigkeiten, die sich ebenfalls wie der Durchschnitt in einer grafischen Darstellung gemäß Abbildung 1 als flat profile darstellen lassen, nur auf einer höheren bzw. tieferen Ebene.
Bezugnehmend auf das Konzept der Neurodiversität stellt das spiky profile den Indikator für jenen neurodivergenten Teil der Neurominderheit dar, bei welchem sich Symptomanhäufungen zeigen, die wir gegenwärtig dem Bereich der Autismusspektrumstörung (ASS), ADHS, Legasthenie und Dyspraxie bzw. Developmental Coordination Disorder (DCD) zuordnen (vgl. Doyle 2020, S.112). Je nach Literatur wird dieses Spektrum auf weitere neurologische Besonderheiten wie u. a. Dyskalkulie oder das Tourette Syndrom ausgedehnt6. Allen Neurodivergenten gemeinsam ist die deutlich überdurchschnittliche und deutlich unterdurchschnittliche Ausprägung verschiedener Fähigkeiten, die sich gegenüberstehen (daher die Spitzen im Diagramm).
3. Neurodiversität von Mitarbeitenden in Organisationen
3.1. Allgemeines zu Neurodiversität am Arbeitsplatz
Die Besonderheit von Neurodiversität besteht in ihrer teils schwierigen Wahrnehmbarkeit. Da sie sich kultur- und geschlechtsübergreifend auf die gesamte menschliche Population bezieht, ist Neurodiversität auch am Arbeitsplatz nicht auszuschließen. Es stellt sich lediglich die Frage, wie hoch der Anteil neurodivergenter im Vergleich zu neurotypischen Mitarbeitenden ist und wie die gesamte Belegschaft samt Führung mit der Thematik bewusst und auch unterbewusst umgeht.
Sich verändernde Lebens- und Arbeitsstile bringen bestimmte neurologische Abweichungen zum Ausdruck, die in früheren Zeiten noch gar nicht als solche wahrgenommen wurden, weil die Anforderungen und die gesamten Lebensumstände ganz andere waren. Leicht nachzuvollziehen ist dies am Beispiel der Legasthenie, die erst zum Vorschein tritt, als Alphabetisierung durch Bildung zum Mainstream wird (vgl. Doyle 2020, S. 112). ADHS tritt gehäuft mit der Zunahme sitzender Tätigkeiten auf (vgl. ebd.). Damit erklären sich also teilweise die Zunahme bzw. die Identifikation von Störungen, die eine Neurodivergenz zum Vorschein treten lassen (vgl. Brinzea 2019, S.14, Abb. 1).7
Heutige, wissenschaftlich basierte Schätzungen gehen von einem Bevölkerungsanteil von 15 - 20% aus, der als Neurominderheit einzustufen ist (vgl. Doyle 2020, S. 112) und der damit auch von Organisationen im Arbeitsleben kaum ignoriert werden kann (vgl. Brinzea 2019, S. 14.). Eine genauere quantitative Differenzierung (genaue Anzahl von Personen mit entsprechenden Störungen bzw. Behinderungen in unterschiedlichen Behinderungsgraden8 ) wird in diesem Zusammenhang nicht erörtert.9
Sowohl Personalentwickler*innen als auch Organisationsberatende sind somit gefragt, wenn es um Inklusion allgemein und um den Teilaspekt der Inklusion von neurodivergenten Mitarbeitenden im Besonderen geht.
3.2. Herausforderungen durch Neurodivergenz in Organisationen
3.2.1. Unerkannte Neurodivergenz
Aufgrund bewusst verschwiegener oder unerkannter Neurodivergenz bei Mitarbeitenden ist die Wahrscheinlichkeit verhältnismäßig hoch, dass sich in allen Organisationen mehr oder weniger viele neurodivergente Personen in den Reihen der Beschäftigten befinden, auch wenn diese zunächst gar nicht als solche wahrgenommen werden. Indirekt erfolgt auch in Bewerbungsverfahren je nach Anforderungsprofil eine Selektion durch spezifische Auswahlverfahren, bei denen z. B. Dyskalkulie oder Legasthenie recht einfach zu erkennen sind. Komplizierter sieht es bei ASS aus, die sich im Bereich des sogenannten ,Asperger-Syndroms‘10 bewegen. ASS deckt eine breite Palette von Erkrankungen ab, die für Betroffene dauerhaft sind, von ihrem sozialen Umfeld aber als unbedeutend bzw. unproblematisch und unbelastend für die betroffene Person wahrgenommen werden. Dennoch ergeben sich daraus in einem ungünstigen Arbeitsumfeld sehr schwierige soziale Interaktionen (vgl. Quelch/Knoop 2018, S. 171).
[...]
1 Eine genauere Begriffserklärung folgt ab Seite 2.
2 Wer kann sagen, welche Art der Verkabelung sich zu einem gegebenen Zeitpunkt als die beste erweist? Kybernetik und Computerkultur können zum Beispiel eine etwas autistische Geistesbeschaffenheit bevorzugen. (Übersetzung durch die Verfasserin)
3 Die Inklusion gehört neben Autonomie und Selbstbestimmung zu den Kernprinzipien der UNBehindertenrechtskonvention, welche 2009 auch in Deutschland in Kraft trat (vgl. https://www.institut-fuer- menschenrechte.de/).
4 Gemäß dem Motto der ersten Welle der deutschen Behindertenbewegung, welches Nicht über uns ohne uns lautete (vgl. Kollodzieyski 2020, S.10).
5 ICD = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) (vgl. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/)
6 Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
7 Ein detaillierterer Entwicklungsverlauf befindet sich in Anhang B.
8 „Die offiziellen Zahlen über die Behinderungsgrade geben aus folgenden Gründen kein vollständiges Bild wieder: Die Angaben zum GdB (Grad der Behinderung; Anm. der Verfasserin) sind nicht verpflichtend. Möglicherweise wird die Behinderung aus Angst vor Diskriminierung verschwiegen. Die Dunkelziffer bei chronisch erkrankten Personen dürfte hoch sein. Mehrfacherkrankungen und -behinderungen bildet der GdB nicht ab.“ (Inklusionsbarometer Arbeit 2020, S.5)
9 Ein Überblick über die Taxonomie von Neurominderheiten befindet sich in Anhang A.
10 „Die Kernsymptome des Asperger-Syndroms umfassen eine verminderte sozioemotionale Gegenseitigkeit, Spezialinteressen sowie ein ritualisiertes Verhalten.“ (Roy et. al. 2009, S. 64).