In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche Ideale von Bildung und Erziehung in Goethes "Die Wahlverwandtschaften" thematisiert werden und inwiefern das Mädchen Ottilie den Idealen der zeitgenössischen (Mädchen-)Pädagogik entspricht. Dazu werden zunächst die pädagogische Praxis und Erziehungsvorstellungen um 1800 beschrieben, um darauf aufbauend Goethes Roman "Die Wahlverwandtschaften" und im Besonderen Ottilie im Hinblick auf die zeitgenössischen Erziehungs- und Bildungsideale zu untersuchen.
Die Epoche der Aufklärung markiert die „Geburtsstunde des modernen Bildungsverständnisses“. An Stelle der göttlichen Ordnung tritt das Leitmotiv der Vernunft, das wesentlich von Immanuel Kant geprägt wurde und das Erziehungsideal der Zeit revolutionierte. Bildung bedeutete von nun an „einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu politischer und wirtschaftlicher Emanzipation“. Beginnend mit Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) über Johann Bernhard Basedow (1724–1790), Ernst Christian Trapp (1745-1818) und Joachim Heinrich Campe (1746–1818) bis hin zu Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) entwickelten sich um 1800 verschiedene Bildungsparadigmen, die auch auf Goethes im Jahr 1809 erschienenen Roman "Die Wahlverwandtschaften" Einfluss nahmen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Bildung und Erziehung um 1800
2.1 Entwicklung der Bildungsvorstellungen um 1800
2.2 Mädchenerziehung um 1800
3 Bildung und Erziehung in Goethes Wahlverwandtschaften am Beispiel von Ottilie
3.1 Ottilie im Pensionat und die Pädagogik des Gehülfen
3.2 Ottilies Entwicklung außerhalb des Pensionats
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
Die Epoche der Aufklärung markiert die „Geburtsstunde des modernen Bildungsverständnisses“1.2 An Stelle der göttlichen Ordnung tritt das Leitmotiv der Vernunft, das wesentlich von Immanuel Kant geprägt wurde und das Erziehungsideal der Zeit revolutionierte. Bildung bedeutete von nun an „einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu politischer und wirtschaftlicher Emanzipation“3. Beginnend mit Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) über Johann Bernhard Basedow (1724–1790), Ernst Christian Trapp (1745-1818) und Joachim Heinrich Campe (1746–1818) bis hin zu Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) entwickelten sich um 1800 verschiedene Bildungsparadigmen,4 die auch auf Goethes im Jahr 1809 erschienenen Roman Die Wahlverwandtschaften Einfluss nahmen.5 In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche Ideale von Bildung und Erziehung in Goethes Wahlverwandtschaften thematisiert werden und inwiefern das Mädchen Ottilie den Idealen der zeitgenössischen (Mädchen-)Pädagogik entspricht. Dazu werden zunächst die pädagogische Praxis und Erziehungsvorstellungen um 1800 beschrieben, um darauf aufbauend Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften und im Besonderen Ottilie im Hinblick auf die zeitgenössischen Erziehungs- und Bildungsideale zu untersuchen.
2 Bildung und Erziehung um 1800
Die pädagogischen Reformen um 1800 trafen Mädchen und Jungen nicht in gleichem Maße.6 Es reicht daher nicht, Ottilie allein vor den Veränderungen zeitgenössischer Pädagogik zu betrachten, ohne die Besonderheiten der Mädchenerziehung zu berücksichtigen. Um Ottilies Entwicklung vor dem Hintergrund zeitgenössischer Erziehung und Bildung umfassend untersuchen zu können, werden im Folgenden zunächst die verschiedenen Bildungsparadigmen um 1800 beschrieben und daran anschließend speziell die Erziehung der Mädchen um 1800 fokussiert.
2.1 Entwicklung der Bildungsvorstellungen um 1800
Goethe lebte in einer Zeit des pädagogischen Umbruchs, der sich auch in seinem Werk Die Wahlverwandtschaften zeigt.7 Als Impulsgeber für die Veränderungen der damaligen Erziehungsvorstellungen gilt Jean-Jacques Rousseau mit seinem Erziehungsroman Émile oder Über die Erziehung aus dem Jahr 1762.8 Rousseau vergleicht die Erziehung eines Menschen mit der Pflege einer Pflanze, die durch das Gießen wächst.9 Der Mensch wird durch erzieherische Einflüsse gebildet, wobei Rousseau die Entwicklung der Fähigkeiten und Kräfte als Erziehung der Natur und die Lehre über dessen Gebrauch als Erziehung der Menschen bezeichnet.10 Die Erziehung vollzieht sich nach seinem Ideal losgelöst von religiösen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und rückt die menschliche Bestimmung in den Vordergrund. In Rousseaus Erziehungsroman kann sich der Protagonist Émile nur mit seinem Erzieher abseits der Gesellschaft entsprechend seiner Natur entwickeln und den Zustand der Vervollkommnung erreichen.11 Die Annahmen Rousseaus gelten als Wegweiser einer der „innovativsten, erfolgreichsten und international auch am stärksten beachteten Erziehungslehren der Aufklärung“12, dem Philanthropismus, stimmen jedoch nicht zu hundert Prozent mit dieser überein.13 Das Bildungsziel der sogenannten Philanthropen (= Menschenfreunde) gleicht Rousseaus Erziehungsideal zwar in der Hinsicht, dass eine naturgemäße Erziehung angestrebt wird, die Rolle der Gesellschaft wurde jedoch umgekehrt: Während Rousseau sich gegen eine Erziehung in der Gesellschaft aussprach, betonten die Philanthropen, dass der Mensch mit dem Ziel erzogen werden soll, für die Gesellschaft nützlich zu sein und zum Wohl aller Menschen beizutragen.14 Die Philanthropen kritisierten an den bestehenden Erziehungseinrichtungen den Mangel an Realitätsbezug sowie die Planlosigkeit und Willkürlichkeit der damaligen Schulerziehung, die meist von unzureichend ausgebildeten Lehrpersonen wahrgenommen wurde.15 Erst im Zuge der Aufklärung wurde Pädagogik als Wissenschaft verstanden und 1779 der Philanthrop Ernst Christian Trapp auf den ersten deutschen Lehrstuhl in Halle berufen.16 Methodisch waren die Philanthropen bestrebt, ihre Erziehung und Bildung auf die Natur der Kinder abzustimmen und setzten anstelle des mechanischen Auswendiglernens und gedankenlosen Wiederholens unverstandenen abstrakten Wissens einen sinnlich-spielerischen, anschaulichen und fröhlichen Unterricht.17
Um die Jahrhundertwende wird am philanthropischen Erziehungsmodell verstärkt kritisiert, dass es Kinder lediglich zu nützlichen Bürger*innen mache, anstatt sie zu freien und selbstbestimmten Menschen zu erziehen.18 Das Kind werde nur auf vorgegebene Situationen ausgerichtet, die Natur des Kindes müsse vor dem philanthropischen Erziehungsideal der „gesellschaftlichen Brauchbarkeit“19 zurücktreten. Friedrich Immanuel Niethammer unterstellt der damaligen Unterrichtspraxis, sie habe eine an den alten Sprachen orientierte Berufsbildung mit Menschenbildung verwechselt, habe die Zöglinge nicht zu Menschen, sondern zu Gelehrten gebildet. Der Gelehrtenberuf aber hat nach Niethammer als Beruf in humaner Hinsicht überhaupt nichts vor irgendeinem anderen Beruf voraus.20
Angeführt von Friedrich Immanuel Niethammer, Wilhelm von Humboldt und Ernst August Evers rückt ein neues Erziehungs- und Bildungsideal in den Vordergrund, dessen Anhänger sich als Neuhumanisten bezeichnen.21 Sie sprechen sich für eine allgemeine Menschenbildung aus, die allen Menschen – unabhängig von ihrer Klasse oder ihrem späteren Beruf – gleichermaßen ermöglicht werden sollte:
Es giebt [sic!] schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Giebt ihm der Schulunterricht, was hiezu [sic!] erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher so leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum andern überzugehen.22
[...]
1 Elke Gruber: Kurze Geschichte des Bildungsbegriffes. https://files.adulteducation.at/wba/1-Gruber_Elke_Bildung.pdf (23. September 2021), S. 2.
2 Vgl. ebd.
3 Ebd.
4 Vgl. Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: Büchse der Pandora 1982, S. 69–110.
5 Vgl. Theo Elm: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Frankfurt am Main: Diesterweg 1991 (= Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur), S. 84–87.
6 Vgl. Martine Sonnet: Mädchenerziehung. In: Geschichte der Frauen. Hrsg. v. Arlette Farge, Georges Duby u. Michelle Perrot. Frankfurt am Main: Campus 1994, S. 119–150, S. 142.
7 Vgl. ebd., S. 89.
8 Vgl. Christine Freytag: Philanthropische Pädagogik. socialnet Lexikon. https://www.socialnet.de/lexikon/Philanthropische-Paedagogik (11. September 2021).
9 Vgl. Jean-Jacques Rousseau u. Ludwig Schmidts: Emil oder Über die Erziehung. Paderborn: Schöningh 1972 (= Uni-Taschenbücher 115), S. 10.
10 Vgl. ebd., S. 10.
11 Vgl. Freytag: Philanthropische Pädagogik.
12 Jürgen Overhoff: Philanthropismus. In: Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Hrsg. v. Michael Maaser u. Gerrit Walther. Stuttgart: Metzler 2011, S. 209–214, S. 209.
13 Vgl. Freytag: Philanthropische Pädagogik.
14 Vgl. ebd.
15 Vgl. Elm: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, S. 84.
16 Vgl. ebd.
17 Vgl. Overhoff: Philanthropismus, S. 210.
18 Vgl. ebd.
19 Volker Wehrmann: Volksaufklärung. In: "Das pädagogische Jahrhundert". Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland. Hrsg. v. Ulrich Herrmann. Weinheim: Beltz 1981 (= Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland 1), S. 143–153, S. 148.
20 Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik, S. 99.
21 Vgl. Overhoff: Philanthropismus, S. 210.
22 Humboldt, Wilhelm von: Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König, Dezember 1809. In: ders.: Werke in fünf Bänden. 5 Bde. Hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Bd. 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Hrsg. v. Wilhelm von Humboldt. 3. ggü. der 2. unv. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1982, S. 210–238, S. 218.