Gibt es unterschiedliche Arten politischer Fragen und spielen nur bei manchen von ihnen Wahrheitsansprüche eine Rolle?
Zusammenfassung
Dabei lautet meine These, dass Wahrheitsansprüche aus der Politik grundsätzlich herausgehalten werden müssen, da die Gefahr der Instrumentalisierung und moralisierenden Monopolisierung einer im Grunde nicht existierenden objektiven Wahrheit besteht. Stattdessen braucht eine vielfältige, pluralistische Gesellschaft und eine freiheitliche Ordnung einen normativen Grundkonsens über die Erkenntnis, dass es keine objektive Wahrheit geben kann. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit einer Existenz eines Wahrheitsanspruchs in politischen Fragen, die auf kommunaler Ebene zu diskutieren und zu entscheiden sind, wahrscheinlicher, auch da dort die Fähigkeit der Individuen zur Rationalität noch am ehesten ausgeprägt ist
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„(…) Dass man in einer solchen Situation nicht die eine richtige Antwort geben kann, das liegt für mich eigentlich klar auf der Hand.“ (Phoenix Minute 02:00); „Niemand kann behaupten, dass er die hundertprozentige Lösung hat (…).“ (NDR 2020); „Gegen eine Pandemie gibt es kein Patentrezept (…).“ (Niedersachsen 2021). Mit diesen Äußerungen trat der niedersächsische Ministerpräsident, Stephan Weil, in den vergangenen Monaten vor die Presse. Seine Thesen verdeutlichen ein grundsätzliches Dilemma, vor dem Politik im Allgemeinen steht, welches hier thematisiert werden soll. Es geht um die ontologischen Fragen, ob Wahrheit in der Politik einen Platz hat, ob sich politische Entscheidungen überhaupt als wahr oder falsch kategorisieren lassen und ob Wahrheit als Kategorie in der Politik überhaupt (k)eine Rolle spielen soll.
In diesem Essay soll die Frage diskutiert werden, ob es unterschiedliche Arten von politischen Fragen gibt und ob nur bei manchen von ihnen Wahrheitsansprüche eine Rolle spielen sollten.
Dabei lautet meine These, dass Wahrheitsansprüche aus der Politik grundsätzlich herausgehalten werden müssen, da die Gefahr der Instrumentalisierung und moralisierenden Monopolisierung einer im Grunde nicht existierenden objektiven Wahrheit besteht. Stattdessen braucht eine vielfältige, pluralistische Gesellschaft und eine freiheitliche Ordnung einen normativen Grundkonsens über die Erkenntnis, dass es keine objektive Wahrheit geben kann. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit einer Existenz eines Wahrheitsanspruchs in politischen Fragen, die auf kommunaler Ebene zu diskutieren und zu entscheiden sind, wahrscheinlicher, auch da dort die Fähigkeit der Individuen zur Rationalität noch am ehesten ausgeprägt ist. Im Folgenden werde ich meine Argumentation, die der Begründung meiner These dient, darlegen, indem ich zunächst auf die Erläuterung der Grundproblematik nach Hannah Arendt eingehe und auf die Gefahr der politischen Instrumentalisierung und Monopolisierung von Wahrheitsansprüchen eingehe. Anschließend beschreibe ich, warum es nach Oberreuter und Fraenkel grundsätzlich keine objektive Wahrheit geben kann, um danach das Konzept der deliberativen Demokratie nach Habermas darzulegen, bei dem ich die erforderliche Rationalität von Individuen in Frage stelle. Abschließend versuche ich eine andere Art von politischen Fragen zu identifizieren, indem ich erkläre, warum ich die Wahrscheinlichkeit eines Wahrheitsanspruchs auf der kommunalen politischen Ebene am höchsten halte.
In ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ unterscheidet die Philosophin Hannah Arendt zwischen zwei Arten von Wahrheit: der faktischen und der rationalen Wahrheit. Faktische Wahrheit beinhaltet Wahrheiten über Fakten und historische Ereignisse. Rationale Wahrheit beinhaltet mathematische, wissenschaftliche und philosophische Wahrheit (Landemore 2012: 224).
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