Psychoanalytische Literaturinterpretation am Bespiel Sigmund Freuds "Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva"
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
1. Einleitung
2. „Der Dichter und das Phantasieren“
3. W Jensens „Gradiva – Ein pompejanisches Phantasiestück“
4. „Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva“
5. Diskurs
6. Ausblick
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit sollen zwei Texte Sigmund Freuds [1] untersucht werden – vom Standpunkte der Literaturwissenschaft aus soll die Frage gestellt werden, was sich aus diesen Texten Freuds für die Beurteilung literarischer Werke ergibt, insbesondere welchen Beitrag Freuds Psychoanalyse zur Theorie der Autorschaft zu leisten vermag. Es handelt sich um die theoretische Schrift „Der Dichter und das Phantasieren“ (1907, 1908) und um den etwa ein halbes Jahr zuvor erschienenen Essay „Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva“ (1907), in dem Freud die psychoanalytische Methodologie auf ein konkretes literarisches Werk, eben Jensens „Gradiva“-Novelle, anwendet.
Unsere Arbeit gliedert sich folgendermaßen. Kapitel 2 stellt die wesentlichen Gedanken von „Der Dichter und das Phantasieren“ vor, Kapitel 3 gibt eine kurze Zusammenfassung von Jensens Erzählung und Kapitel 4 referiert Aufbau und Vorgehensweise des Freud-Essays zum „Gradiva“-Text. Die eigentliche Untersuchung wird in Kapitel 5 durchgeführt.
Die Beschränkung dieser Arbeit auf die erwähnten Freud-Texte verkennt nicht, dass die psychoanalytisch orientierte Literaturwissenschaft bei Freud keineswegs stehen geblieben ist, noch dass es darin nach- und nebeneinander immer sehr unterschiedliche, teilweise kontroverse Strömungen zu verzeichnen gab. Einen guten Überblick hierüber gibt Schönau [2]. Doch gilt Freud nicht nur als Begründer der Psychoanalyse, sondern war er es auch, der zuerst die Psychoanalyse von einer psychiatrischen Theorie (Neurosen- und Psychosenlehre) in den Rang einer allgemeinen (anthropologischen, philosophischen) Kulturtheorie des Menschen zu erheben suchte. Die Ursprünge der psychoanalytischen Literaturwissenschaft, wie weit sie sich auch von ihm entfernt haben mag, liegen bei ihm.
2. „Der Dichter und das Phantasieren“
Am 6. Dezember des Jahres 1907 hält Freud (im Alter von 53 Jahren) in Wien in den Räumen eines Verlagsbuchhändlers einen Vortrag, von dem am Tage darauf in der dortigen Tageszeitung „Die Zeit“ eine Zusammenfassung gegeben wird, und der im März 1908 in einer von Freud selbst besorgten Fassung in der Berliner literarischen Zeitschrift „Neue Revue“ unter dem Titel „Der Dichter und das Phantasieren“ erscheint. Der Titel ist für diese kleine Schrift programmatisch: Freud versucht, zwischen den Phantasietätigkeiten der Menschen - also auch der Dichter - und den dichterischen Schöpfungen einen psychoanalytisch begründeten Zusammenhang herzustellen.
Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher … der Dichter seine Stoffe nimmt … und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen so zu ergreifen …. [3]
Dies sind drei Fragestellungen. Die erste betrifft den Autor, die Herkunft seiner Stoffe, die zweite betrifft die dem Autor als Künstler eigene Verarbeitungs- oder Gestaltungsweise des Stoffes, und die dritte Frage betrifft den Leser oder Rezipienten, der – möglicherweise durch die Einheit, die im fertigen Werk Stoffauswahl und –bearbeitung eingehen, „ergriffen“ sei. Freud fährt fort:
Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Beschäftigung nicht schon beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. [4]
Er schildert, wie sich das Kind im Spiele „eine eigene Welt erschafft“, zieht dazu eine Parallele zum Dichter, der „dasselbe wie das spielende Kind“ [5] tut, und geht vom Kinde über zum Heranwachsenden, der dem kindlichen Spiele entwachsen ist. Da dieses aber seinerzeit Lust bereitete, und der Mensch unfähig sei, auf eine einmal erfahrene Lust zu verzichten, schaffe er sich entsprechende „Ersatz- oder Surrogatbildungen“, als solche sieht Freud nun die Tagträume Erwachsener. Sowohl das kindliche Spiel als auch die Tagträume oder
Phantasien Erwachsener seien durch Wünsche erzeugt, wobei der Erwachsene
sich oft seiner Wünsche schäme und daher seine Phantasien zu verbergen suche, und da dies alle tun, mag es vorkommen, „dass er sich für den Einzigen hält, der solche Phantasien bildet“ [6].
Als Hauptcharaktere der Phantasien (Tagträume, Luftschlösser) nennt Freud:
- Triebkräfte der Phantasien sind unbefriedigte Wünsche.
- Diese Wünsche sind erotischer oder ehrgeiziger Natur oder beides überlagert, bedingt und ergänzt sich gegenseitig.
- Die Phantasien empfangen von aktuellen Ereignissen „Zeitmarken“. Das aktuelle Ereignis weckt einen der Wünsche der betreffenden Person, dies aktiviert die Erinnerung an ein früheres (meist infantiles) Erlebnis, wo der Wunsch erfüllt wurde, und beide Aspekte gehen die Symbiose des Tagträumens ein. [7]
Nach einem Hinweise auf die Beziehung von Phantasien zu Neurose und Psychose geht Freud dann kurz auf die Parallelen der Phantasien zum Traum [8] ein. Das Wesen der Träume sei dasselbe wie das der Phantasien, eben die Wunscherfüllung; dass der Sinn der ersteren oft verworren und diffus erscheine, sei der Traumentstellung geschuldet, die als Werkzeug der Verdrängung unbewusster Wünsche fungiere.
Nach diesen Vorbereitungen leitet Freud zum Dichter über:
Dürfen wir wirklich den Versuch machen, den Dichter mit dem „Träumer am helllichten Tag“, seine Schöpfungen mit Tagträumen zu vergleichen? [9]
Er scheidet sodann die Dichter, die „fertige Stoffe übernehmen“ von jenen, „die ihre Stoffe frei zu schaffen scheinen“ [10], auf diese beschränken sich
zunächst seine Ausführungen. Auf die ersteren kommt er später [11] noch einmal
zurück, bemerkend, dass diesen in der Auswahl des fertig übernommenen Stoffes und in „oft weitgehenden Abänderungen“ desselben „ein Stück Selbstständigkeit“ verbleibe.
Von den frei erfundenen Stoffen (Romane) gibt Freud die folgenden Charakteristika: Erstens stehe ein „Held“ im Mittelpunkt der Handlung, der die Sympathie der Leser haben soll. Er trage das „verräterische Merkmal der Unverletzlichkeit“, das ihn als „Seine Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane“ entlarvt. Zweitens verlieben sich alle Frauen des Romans in diesen Helden. Und drittens scheiden sich die anderen Personen des Romans scharf in Gut und Böse. [12]
Mit diesen Charakteristika stellt Freud also den Roman dem Tagtraum zur Seite; in der Seele des Helden sitzt „gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen von außen an“ [13]. Nach diesen prinzipiellen Erwägungen räumt Freud ein:
Wir verkennen nun keineswegs, dass sehr viele dichterische Schöpfungen sich von dem Vorbilde des naiven Tagtraumes weit entfernt halten, aber ich kann doch die Vermutung nicht unterdrücken, dass auch die extremsten Abweichungen durch eine lückenlose Reihe von Übergängen mit diesem Modelle in Beziehung gesetzt werden könnten. [14]
Ferner unterscheide sich der Roman vom Tagtraum dadurch, dass der Dichter sein Ich in mehrere Partial-Ichs aufzuspalten vermag; die diesen Partial-Ichs entsprechenden verschiedenen Strömungen des Ichs werden in verschiedenen Romanfiguren personifiziert.
Freud erwähnt nun noch Romane, in denen der Held nur Beobachter, Zuschauer des Geschehens sei, als Beispiel führt er den späten Zola an. [15] Doch auch hier ließe sich eine Parallele ziehen, denn es gäbe auch solche von der Norm abweichende Tagträume.
Von der Voraussetzung ausgegangen, dass „die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist“ [16], gelangt Freud zu folgendem wichtigen Resümee:
Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst lässt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen. [17]
Der letzte Teil von „Der Dichter und das Phantasieren“ ist der zweiten eingangs gestellten Frage gewidmet, wie es der Dichter schaffe, den Leser zu ergreifen. Während wir „abgestoßen“ oder „höchstens kühl“ reagieren, wenn uns jemand seine Tagträume erzählen würde, so empfinden wir beim Lesen „hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust“. Wie er das erreicht, also die Schranken zwischen den Menschen zu überwinden vermag, sei zwar „die eigentliche Ars Poetica“, also sein Geheimnis, jedoch nennt Freud zwei Mittel. Erstens mildert der Dichter die Tagträume durch „Abänderungen und Verhüllungen“. Zweitens beschert er uns einen „rein formalen, d. h. ästhetischen“ Lustgewinn durch die dichterische Darstellungsweise. Freud schließt mit der Bemerkung, dass er diese Lust, wie sie uns künstlerische Werke bereiten, als eine Vorlust erachtet, eine „Verlockungsprämie“, um tiefere Lust in uns zu entfesseln. [18]
[...]
[1] Sigmund Freud * 6. Mai 1856 in Freiberg (Příbor), Mähren - † 23. September 1939 in London
[2] Walter Schönau, Einführung in die Psychoanalytische Literaturwissenschaft, Stuttgart 2003
[3] Freud „Der Dichter und das Phantasieren“, in „Studienausgabe X“ S. 171, Frankfurt/M. 1969
[4] ebd. S. 171
[5] ebd. S. 172
[6] ebd. S. 173
[7] ebd. S. 174
[8] ebd. S. 175
[9] ebd. S. 175 f.
[10] ebd. S. 176
[11] ebd. S. 178
[12] ebd. S. 176 f.
[13] ebd. S. 177
[14] ebd. S. 177
[15] ebd. S. 177
[16] ebd. S. 178
[17] ebd. S. 177 f.
[18] ebd. S. 179