Interdisziplinäre Aspekte der Wirtschaftsinformatik. Reizüberflutung im digitalen Zeitalter
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich deshalb mit der Reizüberflutung durch Technologie und beantwortet im Zuge dessen folgende Frage: Wie können wir nachhaltig und sinnstiftend mit digitalen Technologien umgehen und unsere Gesundheit schützen?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Ziel der Arbeit
1.3 Aufbau der Arbeit
1.4 Forschungsmethodik
2 Reizüberflutung im digitalen Zeitalter
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Gesundheitliche Folgen durch digitale Reizüberflutung
2.3 Treiber der digitalen Reizüberflutung
2.3.1 Vereinfachung von Prozessen
2.3.2 Suchtpotenzial digitaler Technologien
3 Prozess zu einem nachhaltigen Umgang mit digitalen Technologien durch „digitalen Minimalismus“
3.1 Digitale „Entrümpelung“
3.2 Die digitale Optimierungsphase
3.3 Die digitale Awareness-Phase
4 Schlussbetrachtung
4.1 Zusammenfassung
4.2 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Der User als Marionette der Aufmerksamkeitsindustrie
Abbildung 2: Der News-Button von Facebook in greller roter Farbe
Abbildung 3: Nirgends werden die Menschen so alt wie auf der Insel Okinawa in Japan Einzelne Abb. wurden aus rechtlichen Gründen entfernt (Anm. d. Red.).
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 : Strukturierte Literaturauflistung
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
„Das Schaffen von Umgebungen, die digitalen Stress wirksam und nachhaltig reduzieren, konnte bislang nicht mit der rasanten technologischen Entwicklung Schritt halten.“1
Dieses Zitat des Wiener Professors für Wirtschaftsinformatik und Experten für digitalen Stress, Prof. R. Riedl, fasst die Ausgangssituation bei der Betrachtung des Themas „Reizüberflutung im digitalen Zeitalter“ prägnant zusammen. Der digitale Wandel wurde etwa um das Jahr 1990 herum durch die Entstehung des Internets eingeläutet.2 Er beschreibt die umfassenden Auswirkungen, die die Nutzung von digitalen Technologien auf alle Lebensbereiche der Menschen hat. Sowohl in der Arbeitswelt als auch im Privaten haben sich (mobile) Hardware, digitale Kommunikationstechnologien und soziale Netzwerke längst als ständige Begleiter etabliert.3 Die Vorteile der Nutzung digitaler Technologien stehen dabei außer Zweifel. Mittlerweile arbeitet jeder zweite Deutsche an einem Bild- schirmarbeitsplatz.4 Fast die Hälfte der Erdbevölkerung -aktuell rund 7,7 Milliarden Menschen - nutzt ein Smartphone und etwa vier Milliarden Menschen nutzen regelmäßig das Internet.5 Im Jahre 2019, also noch vor der Corona-Pandemie, betrug der durchschnittliche Konsum von Audio- und audiovisuellen Medieninhalten eines Deutschen, inklusive der Arbeitszeit am Bildschirm, über neun Stunden am Tag. Dieser hohe Wert ist vor allem durch Mobile Devices (Smartphones, Tablets) zu erklären, die den ganzen Tag verfügbar sind und hohes Suchtpotential aufweisen. So wurden die Nutzungszeiten sukzessive in die genannten Höhen getrieben.6
Es scheint naheliegend, dass diese sehr hohen Nutzungszeiten der digitalen Technologien nicht nur Vorteile bringen, sondern auch physische und psychische Belastungen in Form von Stress für den Menschen darstellen. Die sehr hohen Nutzungszeiten wirken sich folglich negativ auf die menschliche Gesundheit aus. Parallel zur digitalen Entwicklung stieg die Anzahl der Fälle von psychischen Erkrankungen, die wohl auf Stress zurückzuführen sind, in Deutschland seit 1994 um 120 Prozent an.7 Während Kurzsichtigkeit früher eher selten war, ist mittlerweile jedes zweite Kind in Deutschland schon im Grundschulalter kurzsichtig, was sich durch die hohe Bildschirmzeit erklären lässt.8
Durch die Corona-Pandemie wurde die ohnehin bereits sehr schnelle technologische Entwicklung notgedrungen nochmals beschleunigt und somit auf ein neues, ungeahntes Level gehoben. In der Wissenschaft wurde der Frage, wie dies unsere Lebensweise verändert, bisher zu wenig Augenmerk geschenkt. Insbesondere wäre es wichtig, den Zusammenhang zwischen der zunehmenden Digitalisierung und dem damit einhergehenden Stress und daraus resultierenden Folgeerkrankungen zu untersuchen.
1.2 Ziel der Arbeit
Bezugnehmend auf die soeben erläuterte Problemstellung analysiert die vorliegende Seminararbeit das Phänomen Reizüberflutung im digitalen Zeitalter. Dabei wird die folgende zentrale Forschungsfrage gestellt:
Wie können wir nachhaltig und sinnstiftend mit digitalen Technologien umgehen und unsere Gesundheit schützen?
Aus dieser Fragestellung resultieren untergeordnete Teilfragen, die auf die zentrale Fragestellung hinleiten:
- Was versteht man unter Reizüberflutung im digitalen Zeitalter? Welche Folgen hat diese Reizüberflutung für die menschliche Gesundheit?
- Wodurch wird die Reizüberflutung und die exorbitant hohe Zeit, die wir täglich mit digitalen Technologien verbringen, verursacht?
Ziel dieser Seminararbeit ist es, ein Konzept zu erarbeiten, das zu einem gesunden Umgang mit der Digitalisierung und deren Folgen beiträgt.
1.3 Aufbau der Arbeit
Kapitel 1 dieser Seminararbeit dient der Einführung in die Thematik. Neben der Zielstellung werden auch der Aufbau der Arbeit sowie die wissenschaftliche Herangehensweise erörtert.
In Kapitel 2 wird zunächst der Begriff der digitalen Reizüberflutung als ein Unterbegriff von digitalem Stress näher erläutert. Im Anschluss daran werden die gesundheitlichen Folgen dieser Reizüberflutung auf die menschliche Psyche und Physis erklärt. Anschließend wird aufgezeigt, was die derzeit größten Treiber der digitalen Reizüberflutung und deren Mechanismen sind. In diesem Zusammenhang wird vor allem die sog. digitale Aufmerksamkeitsindustrie dargestellt und kritisch beleuchtet.
Kapitel 3 behandelt die zentrale Fragestellung dieser Seminararbeit und soll ein Konzept zum nachhaltigen Umgang mit digitalen Technologien aufzeigen. Es handelt sich dabei nicht um ein Präventivkonzept, sondern es wird angenommen, dass sich die betroffenen Personen, hervorgerufen durch die Digitalisierung, bereits auf einem erhöhten Stresslevel befinden. In einem Drei-Stufen-Plan wird eine Möglichkeit ausgearbeitet, um zu einem gesundem Umgang mit digitalen Technologien zu gelangen.
In Kapitel 4 werden die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst. Abschließend folgt ein Fazit.
1.4 Forschungsmethodik
Zur Erstellung der vorliegenden Arbeit fand die Methodik des Design Science Research Anwendung. Diese Forschungsmethode wird in der vergleichsweise jungen Disziplin Wirtschaftsinformatik bevorzugt angewendet.9 Es handelt sich dabei um einen konstruktionsorientierten Ansatz zur strukturierten Wissensgenerierung. Ziel dieser Methode ist es, ein Artefakt zu kreieren, das im vorliegenden Fall eine effiziente Methode dafür liefern soll, wie Personen bestmöglich mit den Gefahren der voranschreitenden Digitalisierung umgehen und die Technologien auf nachhaltige und sinnstiftende Art und Weise in ihren Alltag integrieren können.10
Um sich mit aktuellen Informationen einer Antwort auf die Forschungsfrage zu nähern, wurde zusätzlich eine Literaturrecherche auf u.A. Google Scholar, Springer Link, Emerald Insight, Research Gate und Academic Search Complete durchgeführt. Eine Tabelle zur strukturierten Übersicht der Literaturrecherche kann Anhang 1 entnommen werden.
2 Reizüberflutung im digitalen Zeitalter
In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen zur Untersuchung des Phänomens der Reizüberflutung im digitalen Zeitalter erläutert. Hierbei wird vor allem der Begriff „Reizüberflutung“ näher bestimmt und von dem übergeordneten und oft verwendeten Begriff „digitaler Stress“ abgegrenzt.
2.1 Begriffsbestimmung
Digitale Reizüberflutung wird in dieser Seminararbeit als ein Unterbegriff von digitalem Stress verstanden. Der Begriff „digital“ beschreibt dabei die fortlaufenden, in digitalen Technologien (Computer) begründeten Veränderungsprozesse, die beinahe alle Bereiche des Lebens betreffen.11 Stress ist nach wissenschaftlicher Definition ein „Muster spezifischer und nicht spezifischer Reaktionen eines Menschen auf Ereignisse, die sein physiologisches und psychologisches Gleichgewicht stören. Die Fähigkeit, diese Ereignisse zu bewältigen, werden dabei stark beansprucht oder sie reichen zur Bewältigung nicht aus.“12 Digitale Stressfaktoren können dabei externe und interne Ereignisse sein. Ein externes Ereignis ist ein in der Umgebung stattfindendes Vorkommnis, wie beispielsweise die Einführung eines neuen Informationssystems in der Arbeitswelt.13 Weist dieses System eine hohe Komplexität auf, führt dies bei vielen Betroffenen zu einem hohen Grad von Verunsicherung und damit zu Stress. Ein internes Ereignis, das digitalen Stress auslöst, kann beispielsweise der Gedanke an einen möglichen Arbeitsplatzverlust durch die Digitalisierung oder die Angst vor computerbasierter Leistungsüberwachung sein.14 Als weitere große Stressfaktoren werden zudem die Unzuverlässigkeit digitaler Technologien (Programmabstürze, Verzögerungen etc.) sowie schlechte Nutzerfreundlichkeit angege- ben.15 Während diese digitalen Stressfaktoren und die grundsätzliche Relation von IT- Nutzung und menschlichen Stressreaktionen seit den 1980er Jahren bekannt ist,16 stehen heutzutage jedoch besonders zwei weitere Auslöser von digitalem Stress im Mittelpunkt der Problematik: Durch Mobile Devices wie Smartphones und Tablets verfolgt die Flut berufsbezogener Nachrichten per Mail oder in Messengern wie „WhatsApp“ die Menschen heutzutage auch nach Feierabend. 84 Prozent der deutschen Arbeitnehmer geben an, auch nachdem sie das Büro verlassen haben noch geschäftlich erreichbar zu sein.17 Aus dieser „Omnipräsenz“, die gelegentlich auch als „Techno-Invasion“18 bezeichnet wird, entsteht eine zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben. Dies geht mit dem Gefühl einher, ständig erreichbar sein zu müssen, Dauerpräsenz zeigen zu müssen („Always-on(line)“- Modus) sowie eine hohe Reaktionsfähigkeit an den Tag legen zu müssen, also am besten immer sofort zu antworten.19 Zudem entsteht aufgrund des heute sehr großen und vielfältigen Einsatzes digitaler Technologien eine Überflutung („Techno-Overload”)20 und somit das Gefühl von Beschleunigung, Zeitdruck und Zunahme der Arbeit.21 Bei diesen beiden Faktoren handelt es sich um die aktuell stärksten Stressfaktoren, die alle Generationen betreffen. Das Zusammenspiel der beiden Faktoren prägt den Begriff der digitalen Reizüberflutung. Diese beschreibt den negativen Einfluss der Nutzung und der Allgegenwärtigkeit von digitalen Technologien auf die Gesundheit.
In der Praxis erfordert die moderne Arbeitswelt ein ständiges Multitasking. Mehrere parallel laufende Posteingänge (E-Mail, Smartphone, Collaboration Tools wie Skype) sorgen für ständige Unterbrechungen. Büroarbeiter in Deutschland werden dadurch täglich rund 70 mal bei der Erledigung einer Aufgabe durch IT-Geräte, Programme22 und vor allem auch, durchschnittlich alle elf Minuten, durch private Angelegenheiten auf dem Smartphone23, unterbrochen. Aufgrund der Erkenntnis, dass es bis zu 24 Minuten dauert, bis man die ursprünglich verrichtete Tätigkeit wieder aufnimmt24 25 26, wird deutlich, dass ein konzentriertes Arbeiten („im Flow“) heutzutage beinahe unmöglich geworden ist.25,26
2.2 Gesundheitliche Folgen durch digitale Reizüberflutung
Die Erkenntnisse wissenschaftlicher Studien darüber, dass digitale Reizüberflutung zu akutem und chronischem Stress führt, sind unzweifelhaft. Negative Folgen ergeben sich dabei für Gesundheit, Wohlbefinden und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Men- schen.27 Viele Betroffene geben an, vermehrt unter Erschöpfung sowie emotionaler und kognitiver Irritation zu leiden.28 Jeder dritte Arbeitnehmer in Europa fühlt sich sogar so gestresst, dass er über einen Arbeitsplatzwechsel nachdenkt oder darüber, den Beruf gänzlich aufzugeben.29 Erklärungen dafür liefert eine evolutionäre Betrachtung der Psychologie des Menschen. Der Mensch, seine Physiologie und sein Gehirn haben sich nicht verändert, während sich die digitalen Technologien vor allem seit den 1960er Jahren rasend schnell entwickelt haben.30 Es blieb für den Menschen daher keine Zeit, sich auf die Veränderungen einzustellen. Evolutionspsychologisch gesehen war der Mensch in der Geschichte immer im Vorteil, wenn er schnell aufgenommen hat, dass etwas Neues geschieht. Im heutigen Informationszeitalter, das von Omnipräsenz und Überflutung mit Informationen geprägt ist, wird dem Menschen dies jedoch zum Verhängnis. Zwar können viele Informationen aufgenommen werden, es bleibt allerdings keine Zeit mehr, um diese zu verarbeiten.31 Mit einem Multitasking dieses Ausmaßes ist das menschliche Gehirn überfordert.32 Aufgrund der Anforderungen der relativ neuen „Wissensarbeit“ besteht das Gefühl der Notwendigkeit, durch die neuen technologischen Möglichkeiten jederzeit verfügbar zu sein und kontinuierlich zu kommunizieren. Die Folge davon ist eine Fragmentierung der Aufmerksamkeit des Menschen, die zu Überlastung führt. Der Mensch kommt nicht mehr zum „Abschalten“ und fühlt sich in einem permanent andauernden Zustand erhöhter Alarmbereitschaft.33,34 Dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne des Menschen während der letzten Jahre von etwa zwölf auf sieben Sekunden gefallen ist, belegt dies eindrucksvoll.33 34 35 Dadurch sinkt als Konsequenz nicht nur die Produktivität in der Arbeit, sondern es wird auch dauerhaft der Spiegel von Stresshormonen im menschlichen Körper erhöht, vor allem der von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Verbunden damit und messbar gestiegen sind typische Stresskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Probleme, Schlafstörungen, Beeinträchtigungen des Immunsystems sowie vor allem auch psychische Krankheiten (Erschöpfung, Depressionen, Burn-out).36 Beispielsweise meldete die Techniker Krankenkasse für die Jahre zwischen 2006 und 2012 einen Anstieg der Fehlzeiten wegen psychischer Störungen um 71 Prozent.37 Hauptverantwortlich für diese Tendenzen ist das Smartphone. Dieses ist das Sinnbild für digitale Reizüberflutung und Dauerablenkung. Mit dem Erscheinen des iPhones im Jahre 2007 ist die Bildschirmzeit der Menschen förmlich explodiert.38 Smartphones haben ein so großes Ablenkungspotenzial für den Menschen, dass die bloße Anwesenheit eines Smartphones selbst im ausgeschalteten Zustand zu schlechteren Leistungstests von Probanden führt.39
2.3 Treiber der digitalen Reizüberflutung
Angesichts der vielen Probleme, die digitale Reizüberflutung mit sich bringt, wird in diesem Unterkapitel erläutert, wodurch die hohe Anzahl von Stunden erklärbar ist, die wir täglich mit digitalen Technologien verbringen.
2.3.1 Vereinfachung von Prozessen
Dass Digitalisierung im Allgemeinen großartig ist und den Alltag erleichtert, wird vor allem aktuell während der Corona-Krise deutlich. Durch schnelle Datenverbindungen ist es möglich, Arbeitsprozesse und Kommunikation aufrechtzuerhalten, ohne dass alle Mitarbeiter gemeinsam an einem Ort arbeiten.40 Ohne diese Flexibilität wäre die Wirtschaft angesichts der Krise beinahe chancenlos. Zudem wird eine schnelle Reaktion auf Veränderungen sowie ein kostengünstiger Austausch über Kontinente hinweg ermöglicht. Zugang zu Wissen ist jederzeit für fast jedermann problemlos möglich und durch Automatisierung lassen sich Effizienz und Produktivität von Prozessen steigern. Um den Wohlstand des Standorts Deutschland als ressourcenarmes Land mittel- und langfristig aufrechtzuerhalten, ist es unerlässlich, die Chancen der Digitalisierung so gut wie möglich zu nutzen.41 Unabhängig von der Arbeitswelt ist es durch Digitalisierung beispielsweise gelungen, lange verlorene Familienmitglieder wieder zu vereinen oder medizinischen Fortschritt zu erreichen.42
Dies steht außer Frage. Jedoch steht im Mittelpunkt der digitalen Reizüberflutung die Tatsache, dass es diesen Technologien und Tools gelungen ist, über die Funktion, für die sie eigentlich entworfen wurden, hinauszugelangen, sodass wir sie oftmals Aktivitäten vorziehen, die wir eigentlich für wertvoller halten.43
2.3.2 Suchtpotenzial digitaler Technologien
Aus rechtlichen Gründen wurde die Abb. entfernt. (Anm. d. Red.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Der User als Marionette der Aufmerksamkeitsindustrie
Nicht nur während der Arbeitszeit, sondern auch im Privaten ist die Bildschirmzeit der Menschen extrem hoch. Von den schon angesprochenen durchschnittlich täglich neun Stunden im Umgang mit digitalen Technologien entfallen alleine etwa 3,5 Stunden auf das Smartphone.44 Dabei verbucht der eigentliche Sinn eines Smartphones, nämlich überall telefonieren zu können, mit lediglich sieben Minuten einen fast verschwindend geringen Wert. Die Zeit wird eher durch scheinbar grundloses Checken und Einschalten des Smartphones verursacht. Durchschnittlich schaltet eine deutsche Person das Smartphone täglich 88 Mal ein,45 wobei davon 35 Mal lediglich gecheckt wird, ob eine neue Nachricht o.Ä. eingetroffen ist.46 Durchschnittlich 53 Mal am Tag kommt es zum Entsperren des Smartphones, also der typischen „Swipe“-Bewegung. Durch verschiedene Apps sind vor allem junge Menschen tagtäglich etwa 100 Reizen ausgesetzt,47 aktuell hauptsächlich durch Apps wie „WhatsApp“, „Twitter“, „Facebook“, „Instagram“ oder „Reddit“. Es entsteht ein nervöser „Tick“, der Betroffene ständig dazu verleitet, sich mit diesen Apps zu beschäftigen. In Umfragen werden diese Werte von Betroffenen meist grob unterschätzt. Die meisten Befragten geben zudem offen an, süchtig nach ihrem Smartphone zu sein und eigentlich viel weniger Zeit online verbringen zu wollen.48
Dieses Suchtverhalten wird ganz bewusst von der sog. Aufmerksamkeitsindustrie, auch „Überwachungskapitalismus“ genannt, provoziert und ausgenutzt.49 Der ehemalige Google-Mitarbeiter und „Whistleblower“ Tristan Harris erklärt dies eindrucksvoll: „An der Universität Stanford habe ich folgendes gelernt: Wie können wir alles, was wir über die Psychologie wissen, um Menschen zu bestimmten Handlungsweisen zu lenken, ausnutzen und in Technologien einbauen, mit dem Ziel, die User so lange wie möglich vor dem Bildschirm zu halten?“50 Gegenüber Hightech-Geräten, Computerspielen, Apps und interaktiven Erlebnissen wird also ganz absichtlich eine Verhaltenssucht erzeugt. Ziel der Aufmerksamkeitsindustrie ist es nämlich, durch gezielte und individuelle Werbemaßnahmen möglichst viel Umsatz zu generieren.51 Dies wird durch ein Zitat der Wirtschaftsprofessorin Shoshana Zuboff verdeutlicht: „Genau davon haben Unternehmen immer geträumt: Die Garantie zu haben, dass Werbemaßnahmen erfolgreich sind. Genau das ist das Geschäft der Aufmerksamkeitsindustrie. Diese Sicherheit verkaufen sie. Um sicherzustellen, dass Werbung erfolgreich sein wird, muss man zwangsweise sehr gute Voraussagen über Personen machen können. Dafür braucht man vor allem eines: viele Daten über eine Person.“52 Mittlerweile ist daher dieses Fördern der Betrachtungsdauer die Schlüsselressource von Unternehmen wie Google oder Facebook und in Zahlen lukrativer als das Fördern von Öl.53 Durch Mobile Devices stieg die Aufmerksamkeitsindustrie so von einer Nische zu einem der mächtigsten Industriezweige der digitalisierten Welt auf. Werbemaßnahmen in Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsendungen und Werbeplakate gab es zwar schon vor der digitalen Revolution, jedoch ebneten vor allem die Mobile Devices (Smartphones) den steilen Aufstieg dieses Industriezweiges. Über Smartphones kann zu allen Tages- und Nachtzeiten Werbung vermittelt werden und es können Daten von Nutzern erhoben werden, um die Werbung weiter zu präzisieren.54 Dieses Mobile Marketing macht heute 88 Prozent des Umsatzes von Facebook aus.55 Die Werbeplätze auf Facebook und ähnlichen Seiten werden meist nach dem Auktionsprinzip an Unternehmen verkauft. In vielen Fällen müssen die Unternehmen auch erst dann Zahlungen an Facebook etc. leisten, sobald ein User auf einen der Werbebanner klickt. Wie schon angedeutet, verfügen die Hersteller dieser Seiten, die unsere Aufmerksamkeit fesseln sollen, über großes Wissen der menschlichen Psychologie und machen sich bestimmte, fest verwurzelte Mechanismen und Verhaltensweisen des Menschen zunutze.56
Ein typisches Mittel, das sich die Aufmerksamkeitsindustrie zunutze macht, ist die sog. intermittierende positive Verstärkung. Im Mittelpunkt dieses Prinzips steht die Verhaltenskonditionierung durch positives Feedback, also Belohnung. Dabei ist entscheidend, wünschenswerte Verhaltensweisen nach einem nicht vorhersagbaren Muster zu belohnen, ähnlich einem Spielautomaten im Casino. Diese unerwarteten Belohnungen setzen ein sehr viel höheres Maß an Dopamin im Menschen frei als sichere, erwartbare Belohnungen. Auf dieser Basis wurde z.B. der Facebook „Like“-Button entwickelt, der auf diesem Prinzip beruht. Der Mensch fühlt sich stärker zu Feedback hingezogen, wenn es nicht garantiert ist. Dieses mächtige Werkzeug der Aufmerksamkeitsindustrie findet sich auch in Apps und Spielen wieder.57 Die „Mikro“-Belohnungen können dabei in Form von Bewegungen, Farben, Tönen oder Bildern umgesetzt werden, die jeweils unmittelbar auf den Auslöser folgen.58
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Der News-Button von Facebook in greller roter Farbe
Beispielsweise wurde das Benachrichtigungssymbol von Facebook, dass Neuigkeiten anzeigt, bewusst von der unscheinbaren Farbe blau in die aufmerksamkeitsheischende Farbe rot geändert.59
Das wohl wichtigste Instrument für den Erfolg der Aufmerksamkeitsindustrie ist der archaische Drang des Menschen nach sozialer Anerkennung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das niemals völlig ignorieren kann, was andere seiner Art von ihm denken. In der Urzeit war die soziale Position gegenüber anderen Stammesmitgliedern überlebenswichtig. Die Notwendigkeit, sich eine günstige soziale Position zu sichern, hat sich somit über Millionen von Jahren in den Köpfen der Menschen fest verankert. Dadurch wird auch die Tendenz der Menschen erklärbar, immer möglichst unverzüglich auf neu eingehende Nachrichten zu antworten. Dass dieser Drang sehr stark und für die meisten Menschen unwiderstehlich verlockend ist, wird durch die Tatsache bewiesen, dass die Ablenkung durch den Gebrauch des Smartphones das Fahren unter Alkoholeinfluss inzwischen als Grund für die meisten Verkehrsunfälle in Deutschland abgelöst hat.59 60 61 62 Das Ignorieren einer soeben eingegangenen Nachricht setzt das menschliche Steinzeitgehirn mit der Missachtung eines Stammesmitglieds gleich, das am gemeinsamen Feuer unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte. Dieser potenziell gefährliche gesellschaftliche Fauxpas soll mit allen Mitteln vermieden werden.6162
Dadurch wird verständlich, dass der Mensch sehr empfänglich für digitale Technologien ist und die Aufmerksamkeitsindustrie sich dies zur Umsatzsteigerung zunutze macht. Die extrem hohe Stundenzahl, die eine deutsche Person im Durchschnitt oft gegen den bewussten Willen vor Bildschirmen verbringt, wird somit erklärbar. Es werden Milliarden von Dollar investiert, um dieses Ergebnis zu erzielen. Dieses Hintergrundwissen und Verständnis ist Voraussetzung für einen bewussteren und nachhaltigeren Umgang mit der beschriebenen Technologie.
[...]
1 Rene Riedl, 2020
2 Vgl. Droste, 2019
3 Vgl. Wais, Otte, 2019
4 Vgl. Rene Riedl (Vortrag) 2020, Linde Verlag
5 Vgl. Riedl, 2020, S.9
6 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
7 Vgl. Albers, 2017, S.29
8 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
9 Vgl. Portmann 2017, S. 108.
10 Vgl. Chatterjee,Hevner, 2010
11 Vgl. Droste, 2019
12 Riedl, 2020, S.23
13 Vgl. Riedl, 2020, S.23
14 Vgl. Riedl, 2020, S.23
15 Rene Riedl (Vortrag) 2020, Linde
16 Vgl. Riedl, 2020, S.13
17 Vgl. Albers, 2017, S.28
18 Vgl. Ragu-Nathan et al., 2008b
19 Vgl. Ragu-Nathan et al., 2008b
20 Vgl. Ragu-Nathan et al., 2008b
21 Vgl. Ragu-Nathan et al., 2008b
22 Vgl. Riedl, 2020, S.57
23 Vgl. Riedl, 2020, S.59
24 Vgl. Riedl, 2020, S.57
25 Vgl. Riedl, 2020, S.58
26 Vgl. Riedl, 2020, S.59
27 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
28 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
29 Vgl. Riedl, 2020, S.15
30 Vgl. Eggler, 2019, S.27
31 Vgl. Rene Riedl (Vortrag) 2020, Linde Verlag
32 Vgl. Riedl, 2020, S- 54 ff.
33 Vgl Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
34 Vgl. Gimpel, 2019, S.44
35 Vgl. Alter,Pauli, 2018, S.29
36 Vgl. Riedl, 2020, S.17,18
37 Vgl. Kämpf et al, 2020, S.134
38 Vgl. Herter, 2019, S.95
39 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
40 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie , 2020
41 Rene Riedl (Vortrag) 2020, Linde Verlag
42 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie , 2020
43 Vgl. Newport, 2019, S.19
44 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
45 Vgl. Albers, 2017, S.44
46 Vgl. Albers, 2017, S.44
47 Vgl. Albers, 2017, S.44
48 Vgl Albers, 2017, S.188
49 Vgl. Rhodes, Netflix, „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
50 Tristan Harris , „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
51 Vgl. Rhodes, Netflix, „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
52 Shoshana Zuboff, „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
53 Vgl. Rhodes, Netflix, „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
54 Vgl. Rhodes, Netflix, „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
55 Vgl Roth, 2021
56 Vgl. Rhodes, Netflix, „Das Dilemma mit den sozialen Medien“, 2020
57 Vgl. Newport, 2019, S.27 ff.
58 Vgl. Newport, 2019, S.28
59 Vgl. Alter, 2019
60 Vgl. Manfred Spitzer (Vortrag), 2019, RPP Institut
61 Vgl. Newport, 2019, S.29 ff.
62 Vgl. Diefenbach, 2016, S.134