Begleitet von seinem Konzept des "globalen Realismus", bemüht sich Milo Rau von Anfang an für sein politisches Engagement entsprechende ästhetische Ausdrucksformen zu entwickeln. In den vergangenen Jahren hat er drei Formate künstlerisch erforscht und weiterentwickelt: das Reenactment oder die Erforschung von Bildern, Diskursen und gesellschaftlichen Handlungsweisen anhand ihrer detaillierten szenischen Nachahmung, das der nicht selten umstrittenen Gerichtsprozesse und Tribunale und eine dritte Form, die sich mit dem Erzählen beschäftigt.
Für eine tiefere Analyse seiner Theaterpraxis muss man sich neben dem Prozess der Rezeption auch mit dem phänomenologischen Aufbau seiner Kunst auseinandersetzen. Geankert zwischen Kunst und Wissenschaft, versteht seine Arbeit sich als eine Kollaboration mit anderen KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen, SchauspielerInnen und TeilnehmerInnen seiner Projekte, die in einen Netzwerk agieren und über dem International Institut for Political Murder verbunden sind. IIPM versteht sich als Mischung aus einem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und diplomatischen Unternehmen, das in seiner Personalstruktur in ein ,"Executive Committee", "Departments" und "Ambassadors" geteilt ist, um die notwendigen Schritte der Projekte durchzuführen. In seinem wissenschaftlichen Verständnis, versucht IIPM institutionelle Grenzen wie zwischen Praxis und Theorie zu überschreiten, in beiden Formen der Arbeit und der Ergebnisse.
Aus verschiedenen Formen, Formaten, Genres und Medien, eingebunden in einen theoretischen Rahmen, die eine Form des Realismus nimmt, wird ein Netzwerk des Ästhetischen erstellt, dessen Prozesse nicht nur als eine diskursive Bereicherung der laufenden Debatten über die Dynamik einer materiellen Welt betrachtet werden sollen. Der Künstler führt eigentlich die Welt, die er sich vorstellt, auf. In diesem Zusammenhang ist seine künstlerische Praxis nur im Rahmen einer menschlich-materiellen Verwicklung, einer materiellen agency zu untersuchen, die mit sozio-technisch-materiellen Bedingungen verschränkt sind. Auch wenn alien agency ein auf Forschung basiertes Studium der Produktion der Kunst ist, liegt mein Fokus auf der Untersuchung der affektiven und empirischen Aspekte, die folgende Frage aufwerfen: Wie entstehen Erfahrungen in der Welt durch Milo Raus Praxis und was bewirken sie?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.
2. Wirklichkeitsvisionen.
2.1. Hate Radio.
2.2. Das Kongo Tribunal.
3. Materielle agency.
3.1. agency und künstlerische Forschung
3.2. ,,Es funktioniert."
4. Fazit.
5. Bibliographie.
1 Einleitung
Begleitet von seinem Konzept des ,,globalen Realismus", bemüht sich Milo Rau von An- fang an für sein politisches Engagement entsprechende ästhetische Ausdrucksformen zu entwickeln. In den vergangenen Jahren hat er drei Formate künstlerisch erforscht und weiterentwickelt: das Reenactment oder die ,,Erforschung von Bildern, Diskursen und ge- sellschaftlichen Handlungsweisen anhand ihrer detaillierten szenischen Nachahmung"1, das der nicht selten umstrittenen Gerichtsprozesse und Tribunale und eine dritte Form, die sich mit dem Erzählen beschäftigt.
Für eine tiefere Analyse seiner Theaterpraxis muss man sich neben dem Prozess der Re- zeption auch mit dem phänomenologischen Aufbau seiner Kunst auseinandersetzen. Gean- kert zwischen Kunst und Wissenschaft, seine Arbeit versteht sich als eine Kollaboration mit anderen KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen, SchauspielerInnen und TeilnehmerInnen seiner Projekte, die in einen Netzwerk agieren und über dem Internatio- nal Institut for Political Murder verbunden sind. IIPM versteht sich als Mischung aus ei- nem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und diplomatischen Unternehmen, das in seiner Personalstruktur in ein ,,Executive Committee", ,,Departments" und ,,Ambassadors" geteilt ist, um die notwendigen Schritte der Projekte durchzuführen. In seinem wissenschaftlichen Verständnis, versucht IIPM institutionelle Grenzen wie zwischen Praxis und Theorie zu überschreiten, in beiden Formen der Arbeit und der Ergebnisse.3
Aus verschiedenen Formen, Formaten, Genres und Medien, eingebunden in einen theo- retischen Rahmen, die eine Form des Realismus nimmt, wird ein Netzwerk des Ästhe- tischen erstellt, dessen Prozesse nicht nur als eine diskursive Bereicherung der laufenden Debatten über die Dynamik einer materiellen Welt betrachtet werden sollen. Der Künstler führt eigentlich die Welt, die er sich vorstellt, auf.3 In diesem Zusammenhang ist seine künstlerische Praxis nur im Rahmen einer menschlich-materiellen Verwicklung, einer ma- teriellen agency 4 zu untersuchen, die mit sozio-technisch-materiellen Bedingungen ver- schränkt sind. Auch wenn alien agency ein auf Forschung basiertes Studium der Produkti- on der Kunst ist, liegt mein Fokus auf der Untersuchung der affektiven und empirischen Aspekte, die folgende Fragen aufwerfen: Wie entstehen Erfahrungen in der Welt durch Milo Raus Praxis und was bewirken sie? Um diese leitende Frage zu beantworten, müssen andere gestellt werden, deren Antwort den Zusammenhang zwischen den Medien, Strategi- en, Dramaturgien und Bedingungen für die Konstruktion und Choreographie der Erfahrung und Wirkung zwischen Menschen und den von den Künstlern gebrauchten Materialien er- hellen können.5
In einem zweiten Teil möchte ich die Frage der materiellen agency beantworten: Wie greift die Vielfalt der menschlichen Vorstellungskraft und Erfahrung mit den auffallenden materiellen Effekten und Performances jenseits von uns, ineinander?6 Außerdem möchte ich klären wie diese unregistrierbaren Erfahrungen der Wahrnehmung und der Wirkung in solchen Theaterexperimenten zum Ausdruck kommen..
Um eine Entwicklung aufzuzeigen, habe ich mich für zwei Projekte von Milo Rau und IIPM entschieden, die eine Veränderung in der Arbeitsweise sowie in unterschiedlichen Ansätzen des Regisseurs aufzeigen: Hate Radio (2011), das Reenactment eines rassis- tischen Radiosenders aus der Zeiten des Genozids in Ruanda und Das Kongo Tribunal (2015), ein Gerichtsprozess in zwei Teilen, der die aktuelle Situation im Ost-Kongo zur Verhandlung anbietet.
2 Wirklichkeitsvisionen
Wenn Milo Rau in Hate Radio mit der SchauspielerInnen recherchiertes und montiertes Material auf die Bühne bringt, treten, angefangen mit seinen Theater-Prozessen, Menschen ohne schauspielerische Ausbildung auf, die über ihre eigene Erfahrungen sprechen und sich selbst spielen. Zwei antithetische Zugriffe, die eine Entwicklung in seiner künstleri- schen Strategie nachweisen. Von dem Format des künstlerischen Reenactment wie in Hate Radio, eine detailtreue Rekonstruktion der rassistischen Radiostation aus Ruanda, wech- selt Rau mit Das Kongo Tribunal auf das Prozessformat, das genau anders funktioniert. Wenn Hate Radio durch Verdichtung und Rhythmitisierung eine bessere Radiostation dar- stellt als es RTLM in Wirklichkeit gewesen ist, um seine Realität, eine Aktualisierung zu produzieren, versucht Milo Rau in den Prozessen wie auch in Die Moskauer Prozesse und in Die Züricher Prozesse eine völlig offene, antagonistische Situation zu schaffen, die jede traumatische Qualität der Wiederholung vermeidet.7 In Das Kongo Tribunal bricht Rau, wie schon in Civil Wars, mit dem Format des Reenactments: dass etwas schon mal war, schon mal stattgefunden hat. Es geht hier um einen Fall, der noch nicht verhandelt war. Es geht um eine formale Veränderung, eine Veränderung des eigenen realistischen Konzept der Darstellung. Der Regisseur verzichtet auf Überidentifikation und Wiederholungsstruk- tur und versucht ein Experiment.
2.1 Hate Radio
In der Mitte der Bühne befindet sich ein rechteckiger Container. Jalousien verhüllen das Innere und eine undurchsichtige Fassade trennt das Geschehen von dem Publikum. Die Fassade verwandelt sich beim Beginn der Aufführung in eine Projektionsfläche, auf der In- formationen des Genozids in Ruanda und großformatige Videobilder von zwei Frauen und drei Männer erscheinen. Mit dem Oberkörper und Gesichtern zur Kamera hin gerichtet, be- richten sie über Erfahrungen von Menschen, die 1994 angesichts der Ermordung von An- gehörigen der Tutsi- Minderheit und Hutu zu Opfern, Mittätern und Beobachtern wurden. Die Geschichten werden aus der Perspektive der jeweils Betroffenen erzählt. Durch mehr- malige Identitätswechsel wird es deutlich, dass sie als Stellvertreter fungieren. Die Texte, die sie sprechen, sind von Georges Ruggiu oder Valerie Bemeriki, ehemalige Moderatoren des propagandistischen Radiosenders RTLM. 8
Als die Jalousien nach oben fahren, wird der Inhalt des Containers als Nachbau des Stu- dios sichtbar, in dem der Radiosender RTLM auf Sendung ging. Drei der SchauspielerIn- nen, die auf den Videobildern zu sehen waren, sitzen jetzt in dem Studio und zeigen die Moderatoren Bemeriki, Ruggiu und Kantano Habimana während einer Live- Sendung: be- schwörend sprechen sie ihre Texte in die Mikrophone, telefonieren mit Radiohörern, um diese zu Folter und Mord aufzurufen, trinken und rauchen, gestikulieren.9 In einer Ecke sitzt auf einem Stuhl ein vierter Man, der sich erhebt und durch den Raum bewegt, wäh- rend in dem Zimmer nebenan eine fünfte Person als DJ Joseph in regelmäßigen Abständen Musik auflegt: ,,Rape me" von Nirvana, ,,Le dernier slow" von Joe Dassin und ,,I like to move it" von Reel to Real.
Der dritte Moderator, der in der Inszenierung eine wichtige Rolle spielt, ist der Italo-Bel- gier Georges Ruggiu, der durch Zufall in das Redaktionsteam gekommen war und als Aus- länder eine wichtige Funktion übernahm.10
Anmerkung der Redaktion: Diese Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
Der eineinhalb Jahre andauernde Prozess der Forschung bei Hate Radio beinhaltete In- terviews mit damaligen Akteuren aus Ruanda: mit überlebenden Radiohörern, Journalisten,
,,einfachen Tätern", Mitgliedern der Übergangsregierung, die an den Genozid beteiligt gewesen sind, intensive Gespräche mit MedientheoretikerInnen und Soldaten der Befrei- ungsarmee und sogar mit der Moderatorin Valerie Bemeriki selbst. Sie lieferte Informatio- nen über die Einrichtung des Studios, über die Tafel mit den prominenten Opfern, über Ar- beitsabläufe und das Verhalten der ModeratorInnen zueinander. Rau und sein Kollektiv ha- ben Akten vom International Criminal Tribunal for Rwanda, Tonfiles und Videoaufnah- men gesichtet und ausgewertet. Mit Hilfe der Kooperation mit dem Memorial Center in Ki- gali und einer ruandischen Radiostation bekommen sie Zugang zu Datenbanken mit den zum Teil verbotene Hits des ruandischen Genozids. Damit sind jedes Wort und jede Anek- dote aus der Inszenierung dokumentarisch belegt..11
Das mühsame Prozess des Schreibens, der der Recherche folgt, ist der Übergang von den Tatsachen, von der Erzählung zu einer Situation, die man als real bezeichnen kann, die ,,von sich aus spricht".12 Interessante untergründige Strukturen, die zum Schein kommen, ergeben für Rau die Metaphysik der Person, die dadurch eine besondere Relevanz für den künstlerischen Prozess hat.13
[...]
1 Siehe Rau: ,,Vom traumatischen Raum zum Möglichkeitsraum", URL : https://intern.zhdk.ch/index.php? id=109312.
2 Siehe Umathum: ,,Du sollst dir ein Bild machen!", S. 49.
3 Vgl. Salter: Alien Agency, S. xii.
4 Der Begriff ,,materielle agency" ist von Chris Salter übernommen worden.
5 Vgl. Salter: Alien Agency, S. xii.
6 Ebd.
7 Siehe Tobler; Rau: ,,Die Dinge nicht nur darstellen, in sie eingreifen", URL: www.diaphanes.ch/titel/die- dinge-nicht-nur-dar-stellen--in-sie-eingreifen-3669.
8 Siehe Umathum: ,,Du sollst dir ein Bild machen!", S. 38-39.
9 Ebd.
10 Siehe Bossart; Rau: ,,Wenn aus Wasser Eis wird", S. 8.
11 Ebd., S. 9.
12 Bossart; Rau: ,,Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt", S. 33.
13 Siehe Wahl; Rau: ,,Die Wahrheit der Wiederholung", S. 229.