Ziel dieser Arbeit soll es sein, eine Analyse von Irmelin Rose, mit besonderem Fokus auf die Darstellung der Großstadt, zu geben. Dabei soll nicht nur die Figur Annas/Irmelins untersucht werden, sondern auch die expressionistischen Merkmale der Erzählung herausgearbeitet werden.
Zunächst soll auf die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Irmelin Rose Bezug genommen werden. Daraufhin wird analysiert, wie die Großstadt im Werk dargestellt wird. Dazu soll erläutert werden, wie sich das Leben in Wien um 1900 gestaltete, um dann zu analysieren, wie die Stadt, jeweils in den drei Einzelkapiteln von Irmelin Rose, dargestellt wird. Die anschließende Figurenanalyse der Protagonistin soll ebenso Aufschluss über sprachliche Mittel und Besonderheiten geben, mit denen Robert Müller arbeitete. Bevor die Ergebnisse zusammengefasst werden, wird Irmelin Rose als Werk des Expressionismus untersucht. Insgesamt wird also die Erzählung analysiert, das Besondere daran herausgearbeitet und dargestellt, welche Bedeutung sie zurückblickend für die zeitgenössische Literatur hatte.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
2 Zur Entstehung
3 Die Großstadt
3.1 Der Garten
3.2 Die Stadt
3.3 Das Geheimnis der Straße
4 Irmelin als mythisches Wesen
5 Der Einfluss des Expressionismus
5.1 Der literarische Expressionismus Robert Müllers
5.2 Was ist an Irmelin Rose expressionistisch?
6 Fazit
7 Literatur
1 Einführung
Der, 1887 in Wien geborene, Robert Müller ist zu seiner Zeit besonders für seine aktivistischen Texte bekannt geworden, daneben hat er fiktionale Literatur, die den Zeitgeist Wiens um 1900 widerspiegelt, geschrieben.1 Irmelin Rose - Die Mythe der großen Stadt2, von 1914, ist eines dieser Werke.
Allgemein wurde Robert Müller, nach seinem Tod, wenig gewürdigt. Dabei zeigte er, als einer der Haupt-Wiener-Aktivisten, Initiative für die Entwicklung von Naturwissenschaften, der Industrialisierung und der Verstädterung und war ein Hauptvertreter des Wiener Expressionismus.3 Ernst Fischer stellte fest, dass Irmelin Rose wenig Beachtung fand, da das Werk im Vergleich zu anderen Schriften unpolitisch war.4 Auch in den zeitgenössischen Rezensionen, zu Robert Müller von 1916 bis 1925, ist fast nie etwas darüber zu finden. Deshalb gibt es hierzu nur relativ wenig Forschungsliteratur und größtenteils ist diese veraltet. Der aktuellste Aufsatz ist von Kristin Kopp, in dem sie eine Kurzinterpretation, mit Fokus auf die Symbolik des Todes, gibt.5 Besonders hilfreich, für das Verfassen dieser Arbeit, war die Monografie Bilderschrift Großstadt, von Thomas Köster, in der er die Werke Müllers, unter anderem Irmelin Rose, in Hinblick auf großstädtische Darstellung beleuchtet und diese in die Literaturgeschichte einordnet.6 Hervorzuheben ist auch die Analyse von Christian Liederer, die besonders die Figuren in den Werken Müllers untersucht, auch wenn Irmelin Rose nur in einem kleinen Kapitel Beachtung findet.7 Um expressionistische Merkmale herauszuarbeiten, waren vor allem die Arbeiten von Max Krell8 und Robert Matthias Erdbeer9 hilfreich; letztere beinhaltet auch eine der wenigen Analysen zu Irmelin Rose. Günter Helmes Monografie10 gibt Aufschluss, wie die Erzählung in das Gesamtwerk Robert Müllers einzuordnen ist, bearbeitet aber eigentlich seine publizistischen Schriften. Und Stephanie Heckners Die Tropen als Tropus 11 beschäftigt sich besonders ausführlich mit Müllers Dichtungstheorie, auch in Bezug auf den Expressionismus.
Ziel dieser Arbeit soll es sein, eine Analyse von Irmelin Rose, mit besonderem Fokus auf die Darstellung der Großstadt, zu geben. Dabei soll nicht nur die Figur An- nas/Irmelins untersucht werden, sondern auch die expressionistischen Merkmale der Erzählung herausgearbeitet werden. Um dem Umfang dieser Arbeit gerecht zu werden, kann nur in knapper Form auf die expressionistischen Besonderheiten eingegangen werden, obwohl hierzu sicher eine selbstständige Arbeit möglich wäre. Im Folgenden soll zunächst auf die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Irme- lin Rose Bezug genommen werden. Daraufhin wird analysiert, wie die Großstadt im Werk dargestellt wird. Dazu soll erläutert werden, wie sich das Leben in Wien um 1900 gestaltete, um dann zu analysieren, wie die Stadt, jeweils in den drei Einzelkapiteln von Irmelin Rose, dargestellt wird. Die anschließende Figurenanalyse der Protagonistin soll ebenso Aufschluss über sprachliche Mittel und Besonderheiten geben, mit denen Robert Müller arbeitete. Bevor die Ergebnisse zusammengefasst werden, wird Irmelin Rose als Werk des Expressionismus untersucht. Insgesamt wird im Folgenden also die Erzählung analysiert, das Besondere daran herausgearbeitet und dargestellt, welche Bedeutung sie zurückblickend für die zeitgenössische Literatur hatte.
2 Zur Entstehung
Irmelin Rose - Die Mythe der großen Stadt: Bereits der Titel weist daraufhin, dass die Großstadt im Werk von Bedeutung ist. 1914 wurde die Erzählung in einer kleinen Auflage von 500 Exemplaren beim Hermann Meister Verlag in Heidelberg ver- öffentlicht.12 Irmelin Rose war Müllers erste eigenständige Publikation. 1912 hatte er bereits eine Fassung geschrieben, die er später stark überarbeitete. Durch die Briefkorrespondenz, mit dem Brenner-Redakteur Ludwig von Ficker, wird deutlich, dass die Erzählung ursprünglich angelegt war, um als Fortsetzungsgeschichte im Brenner zu erscheinen. 1913 kam es aber zu einem Zerwürfnis mit Ficker, welcher plötzlich die Veröffentlichung als „künstlerisch unansehnlich“ ablehnte.13 1912 hatte er Müller noch als „Elementarereignis“ gelobt; ein Jahr später nannte er ihn einen „Volldampf-Hysteriker“ und „Nerven-Heroiker.“14 Aus dem Briefwechsel wird nur ungefähr ersichtlich, warum es zu diesem Zerwürfnis kam. Im Begleitbrief, den Müller an Ficker zur ersten Fassung der Erzählung schrieb, heißt es, dass die Erzählung bewusst an das Phänomen des Verkehrs gebunden sei und dass er eine „Intellektualisierung erzählerischer Prosa“15 angestrebt hätte. Dies war Ficker wohl zuwider und er stellte sich gegen die Großstadtmotivik: „Ich finde den literarischen Apparat noch immer unzulänglich; dieses mystische Monstrum“ und Müller antwortete: „Worüber ich also streiten will, ist etwas Prinzipielles. Nämlich: Darf in einer Erzählung Abstraktes stehen? Sie sagen: nein. Ich sage: ja.“16
Zum Verständnis der Erzählung ist es wichtig, die Änderungen Müllers zwischen den verschiedenen Fassungen nachzuvollziehen. Müller beschrieb seine erste, für den Brenner geschriebene Fassung in Bezug auf die Darstellung der Großstadt so, dass ihm der komprimiert dargestellte Verkehr „nicht genügend klotzig, schrill, spektakelnd, kurz nicht dämonisch genug herausgekommen“17 ist. Es kann also davon ausgegangen werden, dass in der 1914 abgedruckten Fassung genau auf diese genannten Kriterien Wert gelegt wurde und dass Müller versuchte, den Straßenverkehr als besonders spektakulär darzustellen.
Außerdem ist bemerkenswert, dass die Erzählung ursprünglich auf zwei Kapitel (I Der Garten, II Die Stadt) angelegt war.18 Das hätte dazu geführt, dass das neuromantisch gehaltene erste Kapitel dem zweiten Stadtkapitel im polaren und starken Kontrast gegenüberstünde. Die Verfalls- und Todesthematik hätte die gesamte Stadtdarstellung dominiert. Die Dreiteilung der Erzählung, mit dem Zwischenkapitel „Die Stadt“, lässt eine positivere Konnotation der Stadt zu. Neben der dargestellten Nervosität und der potentiellen Gefahr, kann auch Technikbegeisterung und Kauflust erkannt werden, ohne, dass es im zweiten Kapitel zu einem Unglück kommt. Robert Müllers Entschluss, zur Dreiteilung der Erzählung, wertet also die Großstadtdarstellung auf.
Im Folgenden soll genauer auf Müllers Vorlage zur Großstadt eingegangen und dann anhand der einzelnen drei Kapitel analysiert werden, was das Besondere an seiner Großstadtdarstellung ist.
3 Die Großstadt
Um 1900 entwickelte sich Wien zu einer Metropole, mit Straßenbahnnetz (die Elektrifizierung der Wiener Straßenbahn war 1903 abgeschlossen), Automobilstraßen, Elektrizitätswerken, Ballett, Fabrikhallen und künstlicher Beleuchtung auf den öffentlichen Plätzen.19 Der damals 16-jährige Robert Müller ist in diesem großstädtischen Wien, mit all seinen Reizen, aufgewachsen und sollte bald unter den Einflüssen des literarischen Futurismus und Expressionismus schreiben. Der Zeitgeist beeinflusste ihn nachhaltig. Müller begriff sich als Verkörperung des intellektuellen Großstadtmenschen und wollte sich im Geiste von der geradlinigen Bourgeoisie abgrenzen.20 Thomas Köster weist darauf hin, dass Müller außerdem eine Zeit lang in New York gelebt hatte, sich als Stadtmenschen sah und sich, in seinen Briefen aus New York, selbst als „Flaneur“ und Reporter darstellte, mit dynamischen Bewegungen und in beschaulicher Kleidung: „Ein derart verstädterter, selbst ,Wien als Kosmopole‘ betrachtender Blick ist prononciert der des durch die stimulierend-nervöse Atmosphäre New Yorks gegangenen intellektuellen Großstadtmenschen.“21 Müller äußerte auch seine Gedanken zum modernen Intellektuellen. Er war der Meinung, dass dieser erst erkennen müsse, dass „vier Fünftel der Menschheit jenem Zustand entgegengehen, den wir Amerikanismus nennen. Alle Großstädte werden so wie New-York und Berlin aussehen [...] Danach haben wir uns zu richten.“22 Außerdem soll Müller darauf bestanden haben, dass Wien eine Art Prototyp einer Stadt darstellt, „in der [.] aus Masse Geist und zuerst eine europäische Form des Amerikanismus“ entstehen könnte.23 Dabei war Müllers Haltung zur Großstadt ambivalent. Er hatte bereits 1915 Städtelob wie -kritik geäußert.24
Im Folgenden wird erarbeitet, ob Müller diesen Blick auf die Stadt in Irmelin Rose verarbeitet hat. Wird zum Beispiel die Stadt als Metropole dargestellt? Dazu wird von 3.1 bis 3.3 jedes Unterkapitel der Erzählung einzeln analysiert; auch „Der Garten“, da selbst hier Verweise auf die Großstadt zu finden sind und das Anfangskapitel wichtig ist, um den generellen Aufbau und das System hinter Irmelin Rose zu verstehen.
[...]
1 Vgl. Thomas Köster: Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers. Paderborn: Igel 1995, S. 21. (= Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte, Band 8). Weitere Angaben zu Leben und Werk würden den Umfang dieser Arbeit überschreiten, bei Köster zu finden im Kapitel mit intellektueller Biografie.
2 Robert Müller: Irmelin Rose. Die Mythe der großen Stadt. Heidelberg: Saturn Verlag Hermann Meister 1914.
3 Vgl. Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien, Köln: Böhlau 1991, S. 9f. (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Band 21).
4 Ernst Fischer: Expressionismus - Aktivismus - Revolution. Die österreichischen Schriftsteller zwischen Geistespolitik und Roter Garden. In: Klaus Amann, Armin Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich. Die Literatur der Künste. Wien u.a.: Böhlau 1994, S. 19-48. (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Band 30). Besonders hilfreich, um den politischen Müller zu verstehen.
5 Kristin Kopp: The Lustmord of Irmelin Rose. In: Werner Michael Schwarz, Ingo Zechner (Hg.): Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift für Siegfried Mattl zum 60. Geburtstag. Wien, Berlin: Turia + Kant 2014.
6 Köster: Bilderschrift Großstadt.
7 Christian Liederer: Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Band 25).
8 Max Krell: Expressionismus der Prosa - Robert Müller. In: Helmut Kreuzer, Günter Helmes (Hg.): Expressionismus - Aktivismus - Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (18871924). Paderborn: Igel 1981, S. 290-292.
9 Robert Matthias Erdbeer: Der Einkaufsbummel als Horrortrip. Ein diskursgeschichtlicher Versuch zur Attraktionskultur in Robert Müllers Erzählung „Irmelin Rose“ (1914). In: Gerhard Neumann u.a. (Hg.): Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 8/2000. Freiburg im Breisgau: Rombach 2000, S. 311-355.
10 Günter Helmes: Robert Müller: Themen und Tendenzen seiner publizistischen Schriften. Mit Exkursen zur Biografie und zur Interpretation der fiktionalen Texte. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1986. (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 11).
11 Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien, Köln: Böhlau 1991. (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Band 21).
12 Vgl. für gesamten Abschnitt Köster: Bilderschrift Großstadt, S. 102.
13 Ebd., S. 103.
14 Ebd., S. 104.
15 Zitiert nach ebd.
16 Zitiert nach ebd.
17 Zitiert nach ebd.
18 Vgl. ebd.
19 Vgl. Köster: Bilderschrift Großstadt, S. 22.
20 Vgl. Ebd., S. 23.
21 Ebd., S. 26. Müller lebte von Frühling 1910 bis Herbst 1911 in New York.
22 Zitiert nach ebd., S. 27.
23 Zitiert nach ebd.
24 Vgl. ebd., S. 238.