Diese Arbeit untersucht mittels postfundamentalistischer Diskursanalyse (PDA) die Wahlprogramme der Bundestagswahl 2021 auf die Forderungen nach direktdemokratischer Bürgerbeteiligung. Inwiefern demokratische Geltungsansprüche gegen liberale Geltungsansprüche artikuliert werden und somit der Versuch unternommen wird, demokratische Legitimitätsnormen illiberal neu zu gründen, steht dabei im Fokus der Untersuchung. Die übergeordnete Forschungsfrage lautet: Wie artikulieren die Parteien ihre Forderung nach direktdemokratischer Bürgerbeteiligung im Bundestagswahlkampf 2021 in Bezug auf "illiberal-demokratische" Legitimität?
Genauer gesagt, werden die Parteiprogramme auf die Punkte untersucht, welche die Volkssouveränität als hinreichendes Argument artikulieren, um Individual- und Gruppenrechte oder liberale Normen der Rechtsstaatlichkeit zu beschneiden, auszuhöhlen oder sogar komplett abzuschaffen. Das Prozessmodell nach Kneip/Merkel wird zugrunde gelegt, um den Zugang und die Wirkungsweise illiberaler Legitimitätsnormen auf das politische System beurteilen zu können. Die Unterteilung in Input, Throughput und Output bietet eine analytische Unterscheidung, welche die Analyse auf mehreren Ebenen zulässt und zwischen verschiedenen Wirkungsweisen differenziert. Die Untersuchung zeigt, dass die CDU als einzige Partei keine weiteren direktdemokratischen Möglichkeiten fordert, die AfD demokratisch Argumentiert und damit liberale Freiheitsrechte untergräbt und alle weiteren Parteien (SPD, FDP, Grüne und Die Linke) entsprechend ihrer Themenschwerpunkte äquivalenzlogisch für mehr direktdemokratische Bürgerbeteiligung eintreten.
1. Einleitung
2. Theoretische und methodische Grundlage
2.1. Das Prozessmodell
2.2. „Illiberal-demokratische“ Legitimität
2.3. Die postfundamentalistische Diskursanalyse (DPA)
3. Die Parteiprogramme zur Bundestagswahl 2021
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit schließt an die Analyse von Seongcheol Kim (2020) an und befasst sich mit dem Konzept der „illiberal-demokratischen“ Legitimität in Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf 2021. Kim entwickelte in seinem Beitrag ein analytisches Konzept des Begriffs „illiberal-demokratische“ Legitimität, das mittels postfundamentalistischer Diskursanalyse (PDA) auf die Wahlprogramme der Parteien angewendet wurde, die eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag hatten.1
Ziel dieser Arbeit ist es, mittels Prozessmodell (Kneip/Merkel) und PDA (Laclau/Mouffe) in den aktuellen Wahlprogrammen die Forderungen nach direktdemokratischer Bürgerbeteiligung darauf zu untersuchen, inwiefern demokratische Geltungsansprüche gegen liberale Geltungsansprüche artikuliert werden und somit der Versuch unternommen wird, demokratische Legitimitätsnormen illiberal neu zu gründen. Die übergeordnete Forschungsfrage lautet: Wie artikulieren die Parteien ihre Forderung nach direktdemokratischer Bürgerbeteiligung im Bundestagswahlkampf 2021 in Bezug auf „illiberal-demokratische“ Legitimität? Genauer gesagt, werden die Parteiprogramme auf die Punkte untersucht, welche die Volkssouveränität als hinreichendes Argument artikulieren, um Individual- und Gruppenrechte oder liberale Normen der Rechtsstaatlichkeit zu beschneiden, auszuhöhlen oder sogar komplett abzuschaffen. Das Prozessmodell nach Kneip/Merkel wird zugrunde gelegt, um den Zugang und die Wirkungsweise illiberaler Legitimitätsnormen auf das politische System beurteilen zu können. Die Unterteilung in Input, Throughput und Output bietet eine analytische Unterscheidung, welche die Analyse auf mehreren Ebenen zulässt und zwischen verschiedenen Wirkungsweisen differenziert.
Die Ergebnisse von Kim aufgreifend, wird diese Arbeit zu Beginn das von Kneip und Merkel weiterentwickelte Prozessmodell vorstellen. Anschließend erfolgt die Einordnung des Begriffs „illiberal-demokratische Legitimität“ in die Phasen des Prozessmodells. Hierüber wird der Bezug zum Untersuchungsgegenstand hergestellt und die antagonistische Konstruktion der verwendeten Begriffe vorgestellt. Der theoretische Teil schließt mit der Vorstellung der postfundamentalistischen Diskursanalyse, die sich aufgrund ihrer Fokussierung auf Differenzen, Antagonismen und Bedeutungssysteme in besonderem Maße für diese Untersuchung eignet. Im anschließenden empirischen Teil wird die PDA auf die Wahlprogramme der Parteien angewandt, die eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben; namentlich: AfD, CDU/CSU, Die Grünen, Die Linken, FDP und SPD.
2. Theoretische und methodische Grundlage
Das folgende Kapitel stellt die theoretischen und methodischen Grundlagen vor. Zuerst wird das weiterentwickelte Prozessmodell vorgestellt, anschließend folgt die begriffliche Einordnung des Konzepts „illiberal-demokratische“ Legitimität. Die poststrukturalistische Diskursanalyse leitet danach in den empirischen Teil über.
2.1. Das Prozessmodell
Der theoretische Ausgangspunkt dieser Arbeit ist das von Kneip und Merkel ausgearbeitete Prozessmodell (ursprünglich: Easton 1965; erweitert: Almond und Powell 1988) zur Erforschung demokratischer Legitimität. Zuerst unterscheidet das Modell grundlegend zwischen den zwei Dimensionen empirisch und normativ. Die empirische Dimension beinhaltet im weitesten Sinne den Legitimitätsglauben der Bevölkerung. Deckt sich die empirische Legitimitätszuschreibung der Bevölkerung mit analytisch festgesetzten Legitimitätsnormen, kann ein demokratisches Regime als legitim angesehen werden. Die Unterscheidung zwischen empirischer und normativer Dimension bewirkt den Autoren zufolge, dass offenkundig autokratische Regime wie das Dritte Reiche oder das aktuelle Regime Nordkoreas ihre demokratische Rechtmäßigkeit nicht ausschließlich über die (scheinbare) Zustimmung der Bevölkerung beanspruchen können. Vielmehr muss die Einhaltung analytisch festgeschriebener Normen sowohl durch Wissenschaft und Analytik als auch durch die Bevölkerung bestätigt werden. Die Ausformulierung dieser Normen ist dabei weitestgehend kontextabhängig. Freiheit, Gleichheit und Herrschaftskontrolle werden lediglich als normatives Minimum demokratischer Legitimität angeführt.2 Außerdem wird der politische Prozess in drei Phasen unterteilt: Input, Throughput und Output. Alle drei Phasen des Prozessmodells weisen empirische und normative Komponenten auf. Der gesamte politische Prozess wird zudem als ineinandergreifende Sequenz verstanden, in der die einzelnen Phasen nicht als bloße Abfolge und voneinander unabhängig missverstanden werden dürfen.
Weitere allgemeine Annahmen sind erstens, die Produktion demokratischer Legitimität erfolgt in der Regel in Mustern, die in ihrer konkreten Ausgestaltung stets orts- und zeitabhängig sind.3 Und zweitens, Wandel darf nicht automatisch als Verbesserung oder Verschlechterung der Legitimität ausgelegt werden: „Neue Formen der Partizipation, Veränderungen des Parteiensystems, zunehmende öffentliche Kritik an den politischen Eliten und selbst das Aufkommen populistischer Politik stellen zunächst lediglich Veränderungen dar.“4
Die normative Dimension der Input-Phase ist in Demokratien zwangsläufig mit Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen verbunden. Jede/r Staatsbürger/in muss das gleiche Recht und die gleiche Chance haben, sich direkt oder indirekt an demokratischen Verfahren zu beteiligen. Ist diese normative Anforderung nicht erfüllt, darf der demokratische Prozess, bzw. seine Input-Phase, den Autoren nach nicht legitim genannt werden.5 Die Anfragen, Forderungen und Einflüsse der Bürgerinnen sind in dieser Phase die wichtigste Input-Quelle. Sie liefern Informationen über die Vorgänge innerhalb des politischen Systems, wie sie bspw. in Gang gesetzt, ausgestaltet oder verändert werden können. Diese Informationen werden von den politischen Parteien weiterverarbeitet. Als die bedeutendsten Akteure sind sie für die Übersetzungsleistung zuständig. Sie nehmen die Anforderungen ihrer Mitglieder und Sympathisantinnen auf, aggregieren, artikulieren und repräsentieren sie. Auch soziale Bewegungen, NGOs oder Bürgerinitiativen müssen hier genannt werden. Diese und weitere normativ orientierte Formen der Organisation und Beteiligung haben in den vergangenen Jahrzehnten stetig an Bedeutung gewonnen und als Akteur für die Legitimationsproduktion neue Formen der Beteiligung und Arenen für Aushandlungsprozesse geschaffen. Trotz neuer Organisations- und Beteiligungsformen muss jedoch festgehalten werden, dass politische Parteien als die traditionellen Akteure des Systems zwar an Unterstützung verlieren, sie aber weiterhin als die bedeutendsten institutionellen Gatekeeper der Politikproduktion und Entscheidungsfindung in allen etablierten Demokratien sind.6
Für die Herstellung oder den Zerfall demokratischer Legitimität ist die Throughput-Phase von besonderer Relevanz. Die in den politischen Prozess eingespeisten Interessen, Ideen, Werte, Normen und Präferenzen werden innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens von den politischen Akteuren aufgenommen und zu Politikergebnissen weiterverarbeitet.7
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1 Vgl. Kim (2020): S. 206ff.
2 Vgl. Kim (2020): S. 207f.
3 Vgl. Kneip/Merkel (2020): S. 38ff.
4 Ebd.: S. 41.
5 Vgl. ebd.: S. 38.
6 Vgl. ebd.: S. 42.
7 Vgl. Kneip/Merkel (2020): S. 39.