Versagt den Prekären tatsächlich ihre politische Stimme oder wird sie ihnen nicht vielmehr systematisch durch den Neoliberalismus, der sie in kräfteraubende Lebensumstände zwingt, versagt? Inwieweit hängt hier ein ideologisches Herrschaftssystem, das sprichwörtliche Damoklesschwert in Gestalt der Prekarität als ständig schwebende Bedrohung über den Kopf der Demokratie und gefährdet dadurch über kurz oder lang ihr Leben?
Um sich diesen Fragestellungen anzunähern, werden in der vorliegenden Hausarbeit zunächst die Grundzüge des Phänomens Prekarität sowie im Anschluss der Partizipation als Fundament einer funktionierenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung beleuchtet. Am Ende soll ein Erkenntnisgewinn darüber stehen, inwiefern die neoliberale Transformation einer Gesellschaft möglicherweise auch ihr demokratisches Fundament zum Bröckeln bringt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Prekarität: Wenn Unsicherheit den Alltag bestimmt
1.1 Neoliberalismus: Der Nährboden der Prekarität
1.2 Unsicherheit: Das Gesicht der Prekarität
1.3 Resignation und Entsolidarisierung: Die Folgen der Prekarität
2. Partizipation: Lebenselixier der Demokratie
2.1 Der sozioökonomische Aspekt politischer Partizipation
2.2 Politisches Selbstbewusstsein: Motivationsgrundlage zur aktiven Teilnahme an Demokratie
2.3 Soziale Partizipation: Der Schlüssel zu politischer Partizipation
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt (!), verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“
Bourdieu, 1998, S. 108
Prekarität entmachtet. Wer prekär lebt, lebt unfreiwillig in einem ständigen Zustand der Unsicherheit und Fremdbestimmung: Unsichere Arbeitsverhältnisse führen zu unsicheren Einkommensverhältnissen, führen zu unsicherer Lebensplanung und münden schließlich in stetem Kampf gegen den eigenen Statusverlust. Allerdings sei dies ein stiller Kampf, den die Betroffenen vor allem untereinander in Form von Konkurrenzgebaren am Arbeitsplatz oder mit sich selbst in Form dauerhafter Selbstoptimierung austrügen, um des Arbeitgebenden liebstes Kind und somit vermeintlich in Sicherheit zu sein (vgl. Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2015, S. 6).
Prekarität ist in weiten Teilen unserer Gesellschaft längst zum Normalzustand avanciert und greift über auf sämtliche Lebensverhältnisse auch jenseits des Arbeitsalltags. Folge des stetigen Gefühls der Machtlosigkeit gegenüber der Ungewissheit der eigenen Zukunft sei oftmals ein sich einstellender Zustand der Resignation (vgl. ebd., S. 5).
Frei nach Reinhold Niebuhr entfalten die Prekarier*innen1 ihr letztes Stück Selbstbestimmung innerhalb des eng gesteckten Rahmens und akzeptieren bewusst mit stoischer Gelassenheit, was sie vermeintlich nicht ändern können.2 Der dauernd zu bewältigende Drahtseilakt im Alltagszirkus eines neoliberalen Wertesystems raubt ihnen die nötige Kraft und den Glauben an den Nutzen daran, für sich selbst einzustehen. Dies äußere sich nicht zuletzt in zunehmender politischer Teilnahmslosigkeit der Prekarisierten – insbesondere jener mit sehr knappen finanziellen Ressourcen (vgl. Zandonella, 2019).
Ausgehend von der oben bereits skizzierten Prekarität als gesellschaftliches Massenphänomen führt dies unweigerlich zu der Frage, inwieweit sie sich gleichzeitig auf das vorhandene politische System einer Gesellschaft auswirkt, innerhalb derer sie sich ausbreitet.
Besonders einflussreich dürfte eine um sich greifende Prekarisierung vermutlich auf die Staatsform der Demokratie sein: Diese basiere entsprechend ihrer wörtlichen Bedeutung als „Herrschaft des Volkes“3 auf der sozialen und politischen Partizipation ihrer Mitglieder (vgl. Böhnke, 2011, S. 18). Mangelnde politische Beteiligung sei daher destruktiv für jedes demokratische System (vgl. van Deth, 2009, S. 141). „Eine breite und möglichst über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg gleich verteilte Unterstützung des Gemeinwesens gilt als Qualitätsmerkmal einer Demokratie, eine lebendige Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess als Ausdruck ihrer anerkannten Legitimität.“ (vgl. Böhnke, 2011, S. 18). Das Einschlafen der politischen Partizipation innerhalb einer spezifischen Bevölkerungsgruppe erweise sich demnach als fundamentales Problem für Demokratien, da diese im Zuge von Wahlen die zu repräsentierenden Bürger*inneninteressen ermitteln, die für die gewählten Volksvertreter*innen als handlungsleitend gelten (vgl. Vetter & Velimsky, 2019, S. 489). Oder anders ausgedrückt: Wenn einer mehrheitlichen Gruppe die Stimme versagt, wird sie von der Minderheit übertönt.
Doch versagt den Prekären tatsächlich ihre politische Stimme oder wird sie ihnen nicht vielmehr systematisch durch den Neoliberalismus, der sie in kräfteraubende Lebensumstände zwingt, versagt? Inwieweit hängt hier ein ideologisches Herrschaftssystem das sprichwörtliche Damoklesschwert4 in Gestalt der Prekarität als ständig schwebende Bedrohung über den Kopf der Demokratie und gefährdet dadurch über kurz oder lang ihr Leben?
Um sich diesen Fragestellungen anzunähern, werden in der vorliegenden Hausarbeit zunächst die Grundzüge des Phänomens Prekarität sowie im Anschluss der Partizipation als Fundament einer funktionierenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung beleuchtet. Am Ende soll ein Erkenntnisgewinn darüber stehen, inwiefern die neoliberale Transformation einer Gesellschaft möglicherweise auch ihr demokratisches Fundament zum Bröckeln bringt.
Dies geschieht am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, da auf sie alle zuvor genannten Rahmenbedingungen zutreffen: Laut Art. 20 GG sei sie „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Außerdem betreffen prekäre Arbeits- und damit einhergehend Lebensverhältnisse in Deutschland eine mehrheitliche Bevölkerungsgruppe, was sich u.a. daran ablesen lässt, dass „[ ] im Jahr 2020 nur noch 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit einem Branchen-tarifvertrag [arbeiteten]“ (tagesschau, 2021). Darüber hinaus wiesen empirische Studien (u.a. von Sidney Verba 1995 oder Armin Schäfer 2015) schon seit langer Zeit auch für die Bundesrepublik die soziale Selektivität bei politischen Beteiligungsprozessen – vornehmlich Wahlen – nach (vgl. Vetter & Velimsky, 2019, S. 489).
1. Prekarität: Wenn Unsicherheit den Alltag bestimmt
„Die Ausbreitung unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse wird als Prekarisierung bezeichnet. (…) Die zeitgenössische Prekarisierungsdiskussion thematisiert die Ausbreitung sozialer Unsicherheit infolge instabiler und stark asymmetrischer Vertragsbeziehungen in den Wohlfahrtsstaaten des globalen Nordens. (…) Prekarisierung ist eine relationale Kategorie, die sich auf gesellschaftlich definierte Normalitätsstandards bezieht und unterschiedliche Lebenslagen umfasst. (…) Prekarisierung findet auch jenseits von Erwerbsarbeit statt. Das gilt für Jugendliche ohne Chance auf reguläre Erwerbsarbeit oder für Pensionär/innen, die im Alter in unsichere Verhältnisse geraten. (…) Prekarisierung ist ein klassen- und schichtübergreifendes Phänomen.“
Dörre, 2017, S. 664
Klaus Dörres weitreichende Definition des Begriffs der Prekarisierung veranschaulicht sehr deutlich, wie tiefgreifend und umfassend ihr Einfluss auf die von ihr betroffenen Gesellschaften ist. Sie lässt sich nicht eingrenzen auf die Gruppe der Arbeitnehmer*innen, sondern auf alle Mitglieder einer Gesellschaft, deren Lebensstandard von künftiger oder bereits geleisteter Erwerbsarbeit abhängig ist. In einer Lohnarbeitsgesellschaft wie der deutschen wären dies demnach also potenziell alle Bürger*innen, so sie nicht durch großen innerfamiliären Reichtum abgesichert sind, auf den sie ständigen Zugriff im Jetzt und durch Vererbung in der Zukunft haben.
So betreffe eine sich ausbreitende Prekarität in indirekter Form z. B. auch die von Dörre genannten Jugendlichen, die mit Blick auf ihre Zukunft an einem flexibilisierten Arbeitsmarkt bereits zu Schulzeiten Unsicherheit verspüren und dadurch in verstärkten Konkurrenzdruck mit anderen Schüler*innen geraten (vgl. Dörre, 2017, S. 664).
Daraus könnte man ableiten: Bereits das bloße Wissen um vorherrschend prekäre Verhältnisse hat die Macht, einen selbst in eine prekäre Geisteshaltung zu versetzen – und dann wäre im Grunde kein Mitglied der Gesellschaft mehr vor ihr sicher. Der französische Sozialforscher Robert Castel beschrieb Prekarität daher auch als grundsätzliches Gefährdungsmoment für die Kohäsion der Gesellschaft, also ihren Gesamtzusammenhalt und als die soziale Frage des 21. Jahrhunderts (vgl. Castel, 2000, S. 15 ff.).
Welchem ideologischen Nährboden Prekarisierung entwächst, an welchen Aspekten sie sich im Einzelfall aber auch im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang manifestiert und welche großflächigen Wunden sie bei den Betroffenen hinterlässt, darauf wird in diesem Kapitel näher eingegangen.
1.1 Neoliberalismus: Der Nährboden der Prekarität
Wenn gesellschaftliche Verhältnisse entstehen, weiter heranwachsen und sich verfestigen, dann geschieht dies niemals rein zufällig. Sie sind immer der Spiegel eines Zeitgeistes (vgl. Etzioni, 1975, S. 27).
Im Falle des Phänomens der sich ausbreitenden Prekarität heiße dieser Zeitgeist Neoliberalismus (vgl. Anhorn, 2021, S. 3). Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff des Neoliberalismus als „Denkrichtung des Liberalismus, die eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit anstrebt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft jedoch nicht ganz ablehnt, sondern auf ein Minimum beschränken will“ (Bundeszentrale für politische Bildung, 2016a). Folgt man jedoch kritischen Betrachtungsweisen – wie etwa der von Roland Anhorn – auf diese vermeintlich rein ökonomische Ideologie, so findet man Beschreibungen, laut denen sie die Gesellschaft als Kollektiv, aber auch die ganz individuellen Lebenswelten ihrer Mitglieder auf erschütternde Weise durchdringe. Sogar von einer gewaltvollen Umwälzung ist die Rede (vgl. Anhorn, 2021, S. 3). So brächten neoliberale Denkweisen, die sich aus der Ökonomie heraus in der Gesellschaft manifestierten, „einen im weitesten Sinne ‚neuen‘ Modus der Vergesellschaftung hervor, der gleichermaßen im Zeichen einer systematisch gesteigerten existenziellen Unsicherheit wie einer vermehrt an die Individuen und Familien delegierten und politisch aufgeherrschten Eigenverantwortung und Selbstsorge steht“ (ebd., S. 3).
Neoliberalismus darf demnach also nicht isoliert als Wirtschaftsweise betrachtet werden, sondern ist zu verstehen als vollumfängliches Wertesystem, das über politische Einflussnahmen Einzug in die Privatsphäre der Menschen hält und dort bis in die Mikroebene ihres Alltags Veränderungen nicht nur hervorruft, sondern aufdiktiert. Den Fokus auf „Eigenverantwortung und Selbstsorge“ (ebd., S. 3) legend, mute er den Mitgliedern einer Gesellschaft also zu, jedes potenzielle Alltags- und Zukunftsrisiko auf autonome Weise, ganz individuell zu minimieren und stellt damit den gesellschaftlichen Grundwert der Solidarität vollends in Frage (vgl. Galuske & Rietzke, 2008, S. 403).
Auf den Grundwert der Solidarität stützt sich aber in Deutschland ein vollumfängliches Staatsprinzip, das sog. „ Solidaritätsprinzip “, dem verschiedene sozialstaatliche Versicherungsleistungen entspringen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit, 2015). So sei es in der deutschen Gesellschaft noch bis etwa zu Beginn der 1990er Jahre als selbstverständlich angesehen worden, dass der Sozialstaat seine Bevölkerung vor ungebremsten Marktmechanismen schützt. Dieser Schutz sei z. B. in Form von Arbeitsschutzgesetzen, umfassenden Sozialversicherungsleistungen und einer deutlich umverteilenden Steuerpolitik erfolgt (vgl. Galuske & Rietzke, 2008, S. 400 f.). Auch habe der Staat durch die Systematik seiner Unterstützungsleistungen die Bürger*innen davor bewahrt, ihre Arbeitskraft schier bedingungslos verkaufen zu müssen und so die Schleusen für ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu öffnen (vgl. Galuske & Rietzke, 2008, S. 400 f.). Zwischenzeitlich sei dieses System grundlegenden Veränderungen unterlaufen, hin zu einem aktivierenden Sozialstaatsmodell, das das Mantra der „Forderung und Förderung von mehr Selbstverantwortung der Bürger“ (ebd., S. 403) und damit den Kern einer neoliberalen Geisteshaltung propagiere. Mit Hilfe von Mindestsicherungen anstelle von Sicherheitsleistungen liefere dieser Staat seine Bürger*innen den Anforderungen eines nach Flexibilität strebenden Marktes aus (vgl. ebd., S. 399).
Hieran wird deutlich: Sozialstaatliche und durch solidarische Grundhaltung ermöglichte Absicherungen dürfen keinesfalls als naturgegebene Selbstverständlichkeiten im demokratischen System angesehen werden, sondern sind Konstruktionen im Bauplan eines gemeinschaftlichen Wertesystems, das als solches vor Transformation nicht gefeit ist. Solidarität als Grundwert am Leben zu erhalten sei jedoch unabdingbar für den Fortbestand einer Gesellschaft (vgl. Stützle-Hebel, 2013, S. 22).
[...]
1 Im Rahmen dieser Ausarbeitung wird das Gender-Sternchen als Mittel der geschlechtergerechten Schreibweise verwendet, um neben dem männlichen und weiblichen auch weitere Geschlechter und Geschlechtsidentitäten typografisch sichtbar zu machen und einzubeziehen.
2 Reinhold Niebuhr (1892 – 1971) war ein US-amerikanischer Theologe und Philosoph sowie Urheber des weltweit bekannt gewordenen „Serenity Prayer“, in dem es wörtlich heißt: „God, grant me the serenity to accept the things I cannot change, courage to change the things I can, and wisdom to know the difference.” (vgl. Shapiro, 2014).
3 Aus dem Griechischen „ dēmokratía: Volksherrschaft“ (vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, o.J.).
4 „Der bildliche Ausdruck beruht auf einer bei Cicero überlieferten Legende, nach der der Tyrann Dionysos I. von Syrakus den Höfling Damokles üppig bewirtete, über seinem Haupte aber ein Schwert an einem Pferdehaar aufhängen ließ, um ihm damit die ständige Bedrohung jeden Glücks vor Augen zu führen.“ (Pfeifer, 1993)