Warum unterstützt Russland das Assad-Regime im Syrien-Konflikt seit 2011?
Das Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zur Fragestellung zu leisten, welche Rolle Russland seit dem Arabischen Frühling im Nahen Osten spielt. Dafür werden vier verschiedene Unterstützungsmaßnahmen qualitativ analysiert, die Russland für das Assad-Regime seit 2011 geleistet hat: Diplomatische Unterstützung, Militärintervention, Rüstungsexporte und wirtschaftliche Unterstützung.
Die vorliegende Arbeit nähert sich der Forschungsfrage aus einer neorealistischen Perspektive, um den Analyserahmen einzugrenzen. Bevor dieser nachgegangen wird, soll im nächsten Kapitel (2.) zunächst die theoretische Grundlage der Arbeit dargelegt werden. Darin werden die zentralen Annahmen des Offensiven Realismus aufgezeigt, der Begriff der Macht definiert sowie mögliche Strategien beschrieben, die zum Zweck von Machtgewinnen oder -Verteidigung durch Großmächte angewendet werden. Auf der Basis einer neorealistischen Perspektive folgt das Kapitel (3.) über Russlands materielle Interessen in Syrien. Anschließend folgen vier Unterkapitel (4.1.-4.4.) über die Unterstützungsmaßnahmen Russlands, in denen analysiert wird, warum Russland das Assad-Regime unterstützt. Abschließend folgt das Fazit, indem die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst werden und auf die formulierte Hypothese Bezug genommen wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Offensive Realismus nach Mearsheimer
3. Russlands Interessen in Syrien
4. Russlands Unterstützungsmaßnahmen im Syrien-Konflikt
4.1. Diplomatische Unterstützung des Assad-Regimes ab 2011
4.2. Russlands Militärintervention in Syrien ab 2015
4.3. Russlands Rüstungsexporte
4.4. Russlands wirtschaftliche Unterstützung
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Jahr 2011 brach in Syrien ein Konflikt aus, der aus einem Bürgerkrieg zwischen dem Assad- Regime und der Opposition in eine größere Krise1 überging und bis heute andauert. Seit dem Beginn des Syrien-Konflikts hat Russland das Assad-Regime mit verschiedenen Maßnahmen unnachgiebig unterstützt und damit zur Stabilisierung des Regimes verholfen (vgl. Rabino- vich/Valensi 2021: 186). Im UN-Sicherheitsrat lehnte Russland alle Resolutionen ab, die dem Regime schaden oder zur Ablösung führen könnten, während es parallel dazu beständig Waffen an die syrische Staatsmacht lieferte (vgl. Allison 2013: 21 f.). Anschließend intervenierte Russland Ende September 2015 auch militärisch, um dem Regime Beistand zu leisten, was für viele Beobachter sehr überraschend kam (vgl. Malek 2015: 3). Außerdem leistete Russland auch wirtschaftliche Unterstützung, die überwiegend durch russische Staatsunternehmen erfolgte (vgl. Lund 2019: 18). Zusammen mit dem Iran gilt Russland als engster Unterstützer des Assad- Regimes. Es stellt sich jedoch die Frage, warum Russland so handelt, obwohl das Land nicht zum Nahen Osten gehört.
Demnach behandelt diese Arbeit die Forschungsfrage: Warum unterstützt Russland das Assad-Regime im Syrien-Konflikt seit 2011?. Dafür wird der Erklärungsansatz des Offensiven Realismus nach Mearsheimer hinzugezogen, der Russlands Unterstützungsverhalten erklären soll. Dieses bietet sich als hilfreiches Werkzeug an, weil es die Intentionen von Großmächten wie Russland sowie komplexe Konflikte vereinfacht erklären kann. Das Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zur Fragestellung zu leisten, welche Rolle Russland seit dem Arabischen Frühling im Nahen Osten spielt. Dafür werden vier verschiedene Unterstützungsmaßnahmen qualitativ analysiert, die Russland für das Assad-Regime seit 2011 geleistet hat: Diplomatische Unterstützung, Militärintervention, Rüstungsexporte und wirtschaftliche Unterstützung.
Auf Basis der neorealistischen Annahme, dass sich Großmächte rational und strategisch verhalten, um im anarchischen System zu überleben (vgl. Mearsheimer 2014), wird folgende Hypothese aufgestellt: Wenn Russland das Assad-Regime mit einer Maßnahme unterstützt, dann sind damit materielle Gewinne für Russland verbunden. Die Unterstützung wird demnach nicht als ein altruistisches, sondern als nutzenmaximierendes Handeln betrachtet - als eine Investition, die materielle Gewinne verspricht.
Im Hinblick auf den Forschungsstand gibt es verschiedene Erklärungen, warum Russland sich in Syrien engagiert: Casula und Katz (vgl. 2018: 296) argumentieren, dass sowohl das Machtgleichgewicht mit dem Westen als auch konstruktivistische Faktoren wie Identität und historische Wurzeln eine Rolle spielen. Abboud (vgl. 2016: 126) kommt in seiner Monografie zu dem Schluss, dass Russlands Unterstützung für das syrische Regime durch das Zusammenspiel geopolitischer, innerstaatlicher und wirtschaftlicher Faktoren bestimmt sei. Bezüglich Russlands Strategie und Politik im Nahen Osten belegt Blank (vgl. 2014: 14 f.), ähnlich wie Abboud (2016), dass Russlands großmachtpolitische Ziele sein Wirken in der Region erklären: Dazu gehört das Kräftegleichgewicht mit den USA, Schaffung eines Staatenblocks, der sich den US-Positionen zum Nahen Osten entgegenstellt, sowie sicherheitspolitische, wirtschaftspolitische und innenpolitische Ziele.
Die vorliegende Arbeit nähert sich der Forschungsfrage aus einer neorealistischen Perspektive, um den Analyserahmen einzugrenzen. Bevor dieser nachgegangen wird, soll im nächsten Kapitel (2.) zunächst die theoretische Grundlage der Arbeit dargelegt werden. Darin werden die zentralen Annahmen des Offensiven Realismus aufgezeigt, der Begriff der Macht definiert sowie mögliche Strategien beschrieben, die zum Zweck von Machtgewinnen oder - Verteidigung durch Großmächte angewendet werden. Auf der Basis einer neorealistischen Perspektive folgt das Kapitel (3.) über Russlands materielle Interessen in Syrien. Anschließend folgen vier Unterkapitel (4.1.-4.4.) über die Unterstützungsmaßnahmen Russlands, in denen analysiert wird, warum Russland das Assad-Regime unterstützt. Abschließend folgt das Fazit, indem die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst werden und auf die formulierte Hypothese Bezug genommen wird.
2. Der Offensive Realismus nach Mearsheimer
In diesem Abschnitt soll der theoretische Rahmen der Arbeit gelegt werden, indem der Ansatz des offensiven Neorealismus nach John J. Mearsheimer kurz erläutert wird. Die zentrale Aussage des offensiven Realismus lautet: „States in the international system aim to maximize their relative power positions over other states“ (Mearsheimer 1994/95: 11).
In seiner Theorie bezieht sich Mearsheimer größtenteils auf die Rolle von Großmächten2, die daran interessiert seien, ihre relative Macht zu maximieren. Das heißt, Großmächte maximieren ihre Macht nicht nur auf Kosten anderer Staaten, sondern versuchen auch zu verhindern, dass ihre Rivalen auf ihre Kosten an Macht gelangen. Es ist also das Ziel der Großmächte, das relative Kräftegleichgewicht3 immer zu ihren Gunsten zu verändern oder aufrechtzuerhalten (vgl. Mearsheimer 2014: 3). Hierin offenbart sich auch der Charakter des offensiven Realismus, denn Großmächte achten sowohl auf ihre „Defensive“ als auch auf die „Offensive“ (ebd.: 35).
Um Mearsheimers Argumentation zu verstehen, muss zunächst seine Definition von Macht offengelegt werden. “Power [...] represents nothing more than specific assets or material resources that are available to a state” (ebd.: 57). Präziser formuliert ließe sich die materielle Macht in zwei Formen unterteilen - in latente und in militärische Macht. Diese beide Formen seien eng miteinander verwandt, denn latente Macht, als Summe aller sozioökonomischen Bestandteile, könne in den Aufbau militärischer Macht einfließen. Sie basiere weitgehend auf dem materiellen Reichtum eines Staates sowie der Gesamtgröße seiner Bevölkerung. Latente Macht gelte als „rohes Potenzial“ (ebd.: 55), das im Wettbewerb mit rivalisierenden Staaten ausgeschöpft werden könne. Demnach zielen Großmächte darauf ab, den Reichtum, der in der Welt besteht, für sich zu gewinnen. Das bedeutet, dass diese daran interessiert seien ihre Wirtschaft zu verbessern, um daraus militärische Macht zu generieren und sich einen militärischen Vorteil gegenüber ihren Rivalen zu verschaffen. Außerdem versuchen sie, die Dominanz rivalisierender Großmächte in ressourcenreichen Gebieten der Welt zu verhindern und somit an wichtige Rohstoffe zu gelangen, um ihr Wirtschaftswachstum anzutreiben (vgl. ebd.: 143-145).4 Die militärische Macht basiere hingegen auf der Größe und Stärke nationaler Landstreitkraft sowie auf den Luft- und Seestreitkräften, die als Unterstützung gelten. Sie spiegle das eigentliche Kräfteverhältnis der Staaten im Machtgleichgewicht, dem sogenannten Nullsummenspiel wider (vgl. ebd.: 55 f.). Diesbezüglich streben Großmächte danach, eine überlegenere Landmacht zusammen mit Luft- und Seestreitkräften aufzubauen. Darüber hinaus wenden sie beträchtliche Ressourcen auf, um ihr Nukleararsenal auszubauen und folglich eine überlegenere Atommacht zu erlangen (vgl. ebd.: 145).
Um die Machtverhältnisse zu eigenen Gunsten zu verschieben, wenden Staaten eine Vielzahl von Mitteln an - wirtschaftliche, diplomatische und militärische. Das Machtstreben höre erst dann auf, wenn eine Hegemonie erreicht werde (vgl. ebd.: 34). Das bedeutet, dass ein Staat zum mächtigsten Akteur im internationalen System werden müsse, das alle anderen Großmächte dominiere und kontrolliere. Er müsse die größten latenten und militärischen Machtressourcen besitzen sowie einen großen Machtvorsprung zur zweitmächtigsten Großmacht im System besitzen (vgl. ebd.: 44 f.). Allerdings sei ein solcher Zustand sehr unwahrscheinlich, sodass das realistisch-bestmögliche Ergebnis nur in einer regionalen Hegemonie besteht. Großmächte können potenziell nur ihre eigene, und höchstens geografisch nahgelegene Regionen kontrollieren (vgl. ebd.: 41).
Nun stellt sich die Frage, warum Staaten um Macht konkurrieren und nach Überlegenheit streben. Mearsheimer begründet dieses Verhalten damit, dass das primäre Ziel von Staaten das Überleben sei. Das internationale System sei anarchisch, das heißt, es gebe keine übergeordnete Weltregierung. Die Staaten besitzen keine Gewissheit über die Absichten anderer Staaten und müssen sich permanent vor Gefahren fürchten. Hinzu kommt, dass Großmächte über offensive militärische Fähigkeiten verfügen und in der Lage sind, sich gegenseitig anzugreifen. Allerdings sind Großmächte rationale Akteure, die strategisch handeln, um im anarchischen System zu überleben. Sie agieren somit nicht unüberlegt, sondern berücksichtigen die Präferenzen und das Verhalten anderer Staaten (vgl. ebd.: 29-32).
Darüber hinaus schreibt Mearsheimer den Staaten verschiedene Strategien zu, die potenziell genutzt werden, um Macht zu maximieren oder andere Staaten bei ihrer Machtmaximierung einzuschränken. Zur offensiven Hauptstrategie zähle beispielsweise Krieg, wobei durch eine erfolgreiche Eroberung ein Zugang zu neuen Ressourcen verschafft werde (vgl. ebd.: 147149). Zur wichtigsten defensiven Strategie zählt das balancing: das Verhindern seitens Großmächten, dass Rivalen das Machtgleichgewicht stören (vgl. ebd.: 139). Dazu gehören Warnsignale mithilfe der Diplomatie oder militärisches Aufrüsten, um einen Aggressor5 abzuschrecken. Außerdem können Großmächte zur kostengünstigsten Methode greifen, indem mit anderen Staaten Allianzen gegen einen gemeinsamen Aggressor geschmiedet werden, das externe balancing (vgl. ebd. 156 f.). Allianzen seien allerdings nur temporär, denn „today’s alliance partner might be tomorrow’s enemy, and today’s enemy might be tomorrow’s alliance partner” (ebd.: 33).
Neben den oben genannten Strategien können Großmächte auch andere kreative und innovative Pläne verfolgen, um ihre Gegner auszuspielen. So können erfolgreiche Praktiken anderer Staaten imitiert oder neue Waffen und Militärdoktrinen entwickelt werden. Wenn sich Staaten unberechenbar verhalten, dann erwachsen daraus oft wichtige Vorteile (vgl. ebd.: 166 f.).
3. Russlands Interessen in Syrien
In diesem Abschnitt werden auf Basis des aktuellen Forschungsstands Russlands Interessen in Syrien aufgezeigt, die in der Realität zwar vielfältiger und komplexer sind, in Anlehnung an Mearsheimers (2014) Erklärungsansatz aber auf militärische und ökonomische Faktoren begrenzt werden. Dieses Kapitel legt die Basis für ein besseres Verständnis der darauffolgenden Analyse, weil es Russlands Unterstützungsverhalten nachvollziehbar veranschaulicht. Syriens Rolle wird dabei als eine „Spielwiese“ (Trenin 2018: 52) behandelt, auf der die Großmächte Russland und USA im Rahmen eines Nullsummenspiels gegeneinander antreten.
Historisch betrachtet war Syrien der wichtigste Verbündete der Sowjetunion im Nahen Osten. Im Kalten Krieg führte die Sowjetunion auf syrischem Territorium militärische Missionen durch (vgl. Magen 2013: 41) und leistete schon damals wirtschaftliche, militärische und politische Unterstützung (vgl. Casula/Katz 2018: 301). Nach dem Zerfall der Sowjetunion nahm das russische Engagement in Syrien zwar ab, sei aber unter Präsident Putin wieder aufgenommen worden (vgl. Magen 2013: 41). Nachdem die USA 2003 in den Irak interveniert haben und zur dominanten Macht im Nahen Osten wurden, sei das syrische Assad-Regime der einzige arabische Staat gewesen, der sich offen gegen die US-amerikanische Hegemonie gestellt habe (vgl. Vasiliev 2018: 385 f.). Innerhalb des Nullsummenspiels zwischen Russland und den USA gehört Syrien somit zu einer „antiwestlichen Kraft“ (vgl. Dannreuther 2012: 543), die an Russlands Seite steht. Gleichzeitig zielen die USA darauf ab, das Assad-Regime zu stürzen (vgl. Roberts 2018: 249), das für Russland einen Verlust eines wichtigen militärischen Verbündeten im internationalen Machtgleichgewicht gegen die USA bedeuten würde. Zudem wäre damit Russlands Zugang in die Region weitgehend verspielt, denn seit dem Arabischen Frühling 2011 ist Syrien Russlands „letzte Bastion im Nahen Osten“ (Magen 2013: 43) geworden.
Außerdem verfügt Russland in Tartus über seinen einzigen ausländischen Marinestützpunkt, der sich „im Herzen des Nahen Ostens“ und „inmitten westlicher geopolitischer Einflusssphäre“ (Rezvani 2020: 894) befinde. Der ehemalige syrische Präsident Hafiz al-Assad stellte Sowjetrussland 1971 den Stützpunkt zur Verfügung, um der sowjetischen Marineflotte im Mittelmeer zu helfen. Die Einrichtung erspare den russischen Kriegsschiffen bis heute die Rückfahrt ins Schwarze Meer und werde neben militärischen auch für wirtschaftliche Zwecke genutzt (vgl. Afridi/Jibran 2018: 62).
[...]
1 Der Syrien-Konflikt setzt sich aus vielen Teilkonflikten zusammen, die sich gegenseitig verschärfen und verlängern: Dem innerstaatlichen Bürgerkrieg zwischen dem Assad-Regime und der Opposition, der regionalen und der internationalen Dimension des Konfliktes sowie dem Krieg gegen den Islamischen Staat (vgl. Rabinovich/Valensi 2021: 41).
2 Mearsheimer (vgl. 2014: 5) definiert eine Großmacht als einen Staat, der über ausreichende militärische Mittel verfügen müsse, um sich in einem konventionellen Krieg gegen den mächtigsten Staat der Welt ernsthaft zur Wehr setzen zu können.
3 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Nullsummenspiel synonym dazu verwendet.
4 Ergänzend zu Mearsheimers Ansatz werden in Anlehnung an Gill und Law (vgl. 1988: 28 f.) staatliche oder private Unternehmen, die für einen Staat von großer strategischer Bedeutung sind, in etwa Rüstungs- oder Energieunternehmen als Akteure betrachtet, die zur Erreichung maximal möglicher Macht des Nationalstaats beitragen.
5 Unter einem Aggressor versteht Mearsheimer (vgl. 2014: 464) Großmächte, die sowohl ein Motiv als auch die Mittel zur Gewaltanwendung haben, um zusätzliche Macht zu erlangen.