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Das Strafverfahren gegen Oskar Gröning. Eine späte Wiedergutmachung des Versagens der deutschen Justiz im Rahmen der Aufarbeitung von NS-Verbrechen?

©2020 Seminararbeit 42 Seiten

Zusammenfassung

Wie kam es dazu, dass Oskar Gröning für seine Taten in Auschwitz so viele Jahre nicht verfolgt wurde? Wie kann es sein, dass Gröning nicht der Einzige ist, der sich im hohen Alter noch vor den Gerichten für seine Taten vor fast 80 Jahren verantworten muss? Der Prozess gegen Oskar Gröning im Jahr 2015 gehört sicherlich zu einem der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre. Grund dafür war nicht nur, dass Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen angeklagt war, sondern auch, dass er bei Beginn des Prozesses bereits 94 Jahre alt war. Die Frage, wieso sich ein 94-jähriger Mann noch für seine Taten als junger Erwachsener verantworten muss, wurde häufig gestellt.

Um die oben gestellten Fragen zu beantworten, wird zunächst darauf eingegangen, inwiefern die Verbrechen aus der NS-Zeit überhaupt aufgearbeitet wurden. Weiterhin wird geklärt, ob der Prozess gegen Gröning eine „Wiedergutmachung“ für ein mögliches Versagen der deutschen Justiz ist. Dabei sind für die Entwicklung des Verfahrens gegen Gröning während der bundesdeutschen Teilung lediglich die Zustände in Westdeutschland relevant. Zudem war der Fall Gröning auch insoweit besonders, als dass seine Handlungen in Auschwitz nicht eindeutig als Beihilfehandlung zu den Tötungen zu qualifizieren waren.

Es wird daher auch auf die Frage eingegangen, ab wann ein Verhalten als strafrechtlich relevante Beihilfe einzuordnen ist. Dabei soll zum einen auf den Vergleich zwischen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Frankfurter Auschwitzprozess von 1969 und der Rechtsprechung von 2016 eingegangen werden, und zum anderen auf die Frage, was als Haupttat im Rahmen des Holocausts zu werten ist.

Leseprobe

INHALTSVERZEICHNIS

A) Einleitung

B) OskarGröning
I) Kindheit(1921 - 1939)
II) NS-Zeit
III) Die Jahre vonl945 bis2015

C) VerfolgungvonNS-Unrecht
I) Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg
II) Der Ulmer Einsatzgruppenprozess
III) Die Verjährung von Mord und Totschlagstaten
IV) Der Auschwitzprozess von Frankfurt
V) Das Verfahren gegen John Demjanjuk

D) Die Ermittlungen gegen Oskar Gröning
I) Ermittlungsverfahren von 1977
II) Wiederaufnahmeanregung 2005
III) Wiederaufnahmeanregung von 2011
IV) Ermittlungsverfahren ab2013

E) Der Prozess vor dem Landgericht Lüneburg
I) ProzessualeVorfrage
II) Tatvorwurf
1) Teilnahmefähige Haupttat und Beihilfehandlung
(a) WegdesLandgerichts
(b) Einzeltatbezogene Begründung der Haupttat
(i) Rampendienst
(ii) Tätigkeiten in der Häftlingsgeldverwaltung
(iii) Folgen der einzeltatbezogenen Betrachtung
(c) Gesamttatbezogene Begründung der Haupttat
(d) Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Beihilfe
2) SubjektiveVoraussetzung
Ill) Strafe

F) Folgen des Prozesses
I) Revisionsgründe
1) Verfahrensrügen
(a) Verfahrensverzögerung
(b) Kronzeugenregelung
2) Sachrüge
II) Haftfähigkeit

G) Fazit

LITERATURVERZEICHNIS

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A) Einleitung

Der Prozess gegen Oskar Gröning im Jahr 2015 gehört sicherlich zu einem der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre. Grund dafür war nicht nur, dass Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen an­geklagt war, sondern auch, dass er bei Beginn des Prozesses bereits 94 Jahre alt war. Die Frage, wieso sich ein 94-jähriger Mann noch für seine Taten als junger Erwachsener verantworten muss, wurde häufig gestellt. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass Gröning für seine Taten in Auschwitz so viele Jahre nicht verfolgt wurde? Wie kann es sein, dass Gröning nicht der Einzige ist, der sich im hohen Alter noch vor den Ge­richten für seine Taten vor fast 80 Jahren verantworten muss? Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst darauf eingegangen werden, inwie­fern die Verbrechen aus der NS-Zeit überhaupt aufgearbeitet wurden. Wei­terhin soll geklärt werden, ob der Prozess gegen Gröning eine „Wieder­gutmachung“ für ein mögliches Versagen der deutschen Justiz ist. Dabei sind für die Entwicklung des Verfahrens gegen Gröning während der bun­desdeutschen Teilung lediglich die Zustände in Westdeutschland relevant. Zudem war der Fall Gröning auch insoweit besonders, als dass seine Hand­lungen in Auschwitz nicht eindeutig als Beihilfehandlung zu den Tötungen zu qualifizieren waren. Es soll daher auch auf die Frage eingegangen wer­den, ab wann ein Verhalten als strafrechtlich relevante Beihilfe einzuord­nen ist. Dabei soll zum einen auf den Vergleich zwischen der Rechtspre­chung des Bundesgerichtshofs zum Frankfurter Auschwitzprozess von 1969 und der Rechtsprechung von 2016 eingegangen werden, und zum anderen auf die Frage, was als Haupttat im Rahmen des Holocausts zu werten ist.

B) Oskar Gröning

Wie auch im Verfahren selbst, soll zunächst auf die Person Gröning ein­gegangen werden und dabei insbesondere auf dessen Werdegang und die Familiengeschichte. Dabei soll auch sein Verhalten nach seiner Tätigkeit in Auschwitz und die Zeit bis zum Verfahren 2015 beleuchtet werden.

I) Kindheit (1921 - 1939)

Gröning wurde am 10.06.1921 in Nienburg/Weser geboren. Sein Vater war Inhaber eines Stoffgeschäfts; seine Mutter starb als er vier Jahre alt war. Nach Abschluss der mittleren Reife, begann Gröning eine Ausbildung bei der Sparkasse1. Gröning war zunächst Mitglied im „Scharnhorst- Bund“, der Jugendorganisation der Organisation „Stahlhelm“, in der auch sein Vater Mitglied war2. Dabei handelte es sich um eine radikale Verei­nigung, die an der Vernichtung der Weimarer Republik mithalf3. Mit der Machtergreifung der NSDAP im Jahr 1933 ging der „Scharnhorst- Bund“ in der „Hitlerjugend“ auf4 5. Seine Familie wies also bereits früh eine nationalsozialistische Überzeugung auf, denn er wurde „erzogen im Geist vonKaisertreue, Uniform, militärischem! trill"' .

II) NS-Zeit

Gröning wurde im Alter von 18 Jahren Mitglied in der NSDAP6. Zwei Jahre später, trat er freiwillig der Waffen-SS bei, um der „Elite-Kaste“ an­zugehören, „die immer ruhmbedeckt nach Hause kam.“7. Seinem Wunsch, „Zahlmeister“ zu werden, wurde entsprochen und er wurde bei der Waf­fen-SS in Besoldungsstellen eingesetzt und ausgebildet8. Im September 1942 folgte seine Versetzung vom „SS-Wirtschafts-Verwaltungshaupt­amt“ in Dachau zur „Verwaltung des K.L. Ausschwitz“9. In Unkenntnis10 der Vernichtungstätigkeiten im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau trat er eine Stelle in der sog. „Häftlingsgeldverwaltung“ (HGV), einer Ab­teilung der „Häftlingseigentumsverwaltung“ (HEV) an11. Zu der Haupt­aufgabe Grönings gehört die Verwaltung und Sortierung des Geldes, wel­ches die Häftlinge mitbrachten12. Zudem war er beim sogenannten Ram­pendienst für die Überwachung des zurückgelassenen Gepäcks verant­wortlich, wodurch dessen Unversehrtheit gewährleistet werden sollte13. In unregelmäßigen Abständen wurden die Wertsachen der Deportierten und das von Gröning sortierte Geld von ihm selber nach Berlin zum „SS Wirt­schafts-Verwaltungshauptamt“ gebracht oder direkt von ihm bei der Reichsbank auf ein mit Tamnamen geführtes Konto eingezahlt14. Durch diese Einzahlungen hatte nicht nur der NS-Staat Einnahmen, die beispiels­weise sofort in Militärausgaben investiert werden konnten,15 sondern auch die SS erhielt dadurch Kredite von der Reichsbank, die dem Auf- und Aus­bau eigener Wirtschaftsbetriebe dienten16. Nachdem Gröning im Dezem­ber 1943 heiratete, kehrte er im Januar 1944 nach Ausschwitz zurück, wo eine Urlaubssperre für alle SS-Bediensteten verhängt wurde, da die soge­nannte Ungarn-Aktion17 bevorstand18. Gröning, mittlerweile zum Unter­scharführer befördert, musste während dieser Zeit nicht mehr offiziell zum Rampendienst antreten, übernahm aber auf Bitten anderer SS-Angehöriger zwei-dreimal deren Dienst19.

Mit Ende der Ungarn-Aktion änderte sich auch Grönings Einstellung zu Ausschwitz. Grund dafür war zum einen, das Näherrücken der Roten Ar­mee20. Zum anderen wurde Gröning im September 1944 erstmals eine ak­tive Tötungshandlung befohlen, da er sich an einem Erschießungs-Kom­mando beteiligen sollte21. Um sich diesem Befehl zu entziehen, verließ Gröning die Unterkunft über Nacht und kehrte erst nach Abzug dieses Kommandos zurück22.Von diesem Moment an war ihm aber klar, dass er sich zukünftig einer aktiven Teilnahme an Tötungshandlungen wohl nicht länger entziehen konnte23.

Zudem wollte er nicht als Angehöriger der SS in Kriegsgefangenschaft ge­raten, so dass er ein Versetzungsgesuch an die Front stellte, welches zur Folge hatte, dass Gröning im Oktober 1944 zur sogenannten „Ardennen­offensive“ abgezogen wurde24. Während dieser letzten Schlacht vor der Kapitulation Deutschlands, wurde Gröning verwundet und in ein britisches Gefangenenlager gebracht. Dort wurden die Soldaten unter anderem auch über ihre Rollen im Krieg befragt. Gröning verschwieg seine Tätigkeit und seine Zugehörigkeit zum Lagerpersonal in Auschwitz und beschränkte seine Aussage auf seine Zeit als Front-Soldat. Dadurch konnte er lange Zeit verheimlichen, selbst in Auschwitz beschäftigt gewesen zu sein25.

III) Die Jahre von 1945 bis 2015

1947 kehrte er in seine Heimatstadt Nienburg zurück, wo ein Sohn bereits 1944 zur Welt kam26. In den folgenden Jahren schwieg er über seine Er­fahrungen im Konzentrationslager Auschwitz27. Dies änderte sich, als Gröning 1985 auf einen Holocaust-Leugner traf, denn dieses Treffen be­wirkte, dass er über seine Zeit in Auschwitz zu sprechen begann28. Er schrieb seine Geschichte auf und verteilte sie an Freunde und Verwandte, gab Interviews und bekannte sich zu seinen Tätigkeiten in Auschwitz29. Gröning starb am 9. März 2018im Alter von 96 Jahren30.

C) Verfolgung von NS-Unrecht

Das Verfahren gegen Gröning wird oftmals als Versuch gesehen, das Un­recht der deutschen Justiz im Rahmen der Aufarbeitung von NS-Unrecht wiedergutzumachen31. Zu klären ist daher zunächst, wie NS-Verbrechen überhaupt aufgearbeitet wurden und inwiefern im Rahmen dieser Aufar­beitung auch von einem Versagen gesprochen werden kann. Dabei ist ins­besondere auch relevant, weshalb Gröning nicht schon früher strafrecht­lich verfolgt wurde.

I) Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg

NS- und Kriegsverbrechen sollten vor den staatlichen Gerichten derjeni­gen Staaten entschieden werden, auf deren Territorium die Verbrechen be­gangen wurden. Ausgenommen davon waren die sogenannten „Haupt­kriegsverbrecher“, denn deren Verbrechen ließen sich nicht territorial be­schränken32. Über diese sollte auf Grundlage des Londoner „Abkommen über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse“ ein internationaler Gerichtshof mit Richtern aus Großbritannien, USA, Frankreich und der Sowjetunion urteilen33. Letztendlich wurden 24 führende NS-Politiker und Persönlichkeiten während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses vom 20. November 1945 bis zum 1. Ok­tober 1946 angeklagt, von denen 22 verurteilt wurden. Anklagepunkte wa­ren Vorbereitung zum Angriffskrieg, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit34.

Deutsche Gerichte hingegen wurden zunächst auf Grundlage des Militär­regierungsgesetz Nr. 2 geschlossen und waren nach ihrer Wiedereröffnung im Herbst 1945 auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 435 in ihrer Zuständigkeit beschränkt. So sah Artikel 3 des Kontrollratsgesetzes Nr. 4 vor, dass die Gerichte für strafbare Handlungen von Nationalsozialisten, nicht mehr zuständig waren. Stattdessen waren für den Großteil der natio­nalsozialistischen Verbrechen, insbesonderejene Verbrechen, die sich ge­gen Angehörige der Alliierten Nationen richteten, die alliierten Militärge­richte zuständig36.

Abgesehen von der Zuständigkeitsbeschränkung kam es in der Justiz au­ßerdem zu Problemen, da ein erheblicher Mangel an Personal bestand und vielfach Ermittlungsbeamte fehlten37. Die Behörden waren somit überwie­gend auf Anzeigen aus der Bevölkerung angewiesen und konnten keine eigenständigen Ermittlungen anstreben38.

Zu diesem Zeitpunkt war die Verfolgung von NS-Verbrechen auch nicht zuletzt deswegen nur eingeschränkt möglich, da sich viele potentielle Kriegsverbrecher gar nicht in Deutschland befanden und so dem Verfahren nicht zugänglich waren39. Nach dem Hauptkriegsverbrecherprozess von Nürnberg war Deutschland also in einer Phase, in der eine systematische Ermittlung der NS-Verbrechen - und damit insbesondere die Verbrechen in Auschwitz, in der deutschen Justiz nicht stattfand40. Zudem führten auch zwei Drittel der Verfahren der Amerikaner auf deutschen Boden nicht zu einer Vollstreckung der Urteile41. Grund dafür war, dass der Westteil des gespaltenen Deutschlands als Bündnispartner der USA gebraucht wurde. Für diese Bündnisfähigkeit forderten die Deutschen jedoch die Straffrei­heit der Kriegsverbrecher42, da sich ein Großteil der Nachkriegsgesell­schaft der Vergangenheit nicht stellen wollte und sich weigerte, die Ver­antwortung für den Holocaust zu übernehmen43.

Auch Gröning profitierte hier als „kleines Rädchen im Getriebe“44 von den Problemen der Aufarbeitung, da auch er während dieser Phase der Aufarbeitung in Kriegsgefangenschaft saß und seine Tätigkeit in Auschwitz verschleiern konnte.

Im März 1947 tauchte Grönings Name auf der Liste der United Nations War Crimes Commision auf45. Diese Liste war das Ergebnis der Zusam­menarbeit 16 verschiedener Staaten, auf der sich 36.800 Verdächtige von Kriegsverbrechen fanden46. Auf Grundlage dieser Liste wollte die polni­sche Regierung 300 Mitarbeiter des Konzentrationslagers Auschwitz ju­ristisch verfolgen47. Doch trotz der Proteste Polens und Jugoslawiens wur­den sämtliche in Gefangenschaft gehaltene Nationalsozialisten auf Drän­gen der Kommission freigelassen48. Begründet wurde dies zum einen da­mit, dass der Wiederaufbau Deutschlands zu diesem Zeitpunkt Vorrang haben sollte49, zum anderen sollten die freigelassenen Nationalsozialisten dem Westen beim Kampf gegen den aufkeimenden Kommunismus hel­fen50. Somit hatte Grönings Tätigkeit in Auschwitz auch während dieser Zeit der Aufarbeitung von NS-Unrecht keinerlei Konsequenzen. Er und viele andere in Gefangenschaft gehaltene Nationalsozialisten wurden frei­gelassen und kamen zurück nach Deutschland, wo eine strafrechtliche Verfolgung der „Rädchen im Getriebe51 “ aufgrund der Überlastung der Justiz zunächst nicht zu befürchten war. Die erste Phase der Strafverfolgung von NS-Verbrechen war also insgesamt von Aufarbei­tungsproblematiken und dem Verdrängen der Bevölkerung, sowie der Po­litik und Justiz gekennzeichnet.

II) Der Ulmer Einsatzgruppenprozess

Während des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses von 1958 zeigte sich, wel­ches Blutbad Nationalsozialisten des Einsatzkommandos der Sicherheits­polizei und der SD an derjüdischen Bevölkerung Litauens angerichtet hat­ten52. Es wurde deutlich, dass Anzeigen aus der Bevölkerung zu NS-Ver­brechen nicht ausreichen konnte, um eine systematische Ermittlung und Aufarbeitung zu gewährleisten53. Auf der Justizministerkonferenz im Ok­tober 1958 wurde zudem festgestellt, dass die für die Zuständigkeit der Strafermittlungsbehörden erforderlichen Voraussetzungen oft nicht erfüllt waren, da der Wohnort der Täter meist unbekannt war und aus diesem Grund keine Ermittlungen eingeleitet wurden, oder die Taten im Ausland verübt worden waren und daher gar nicht auf den Schirm der Ermittlungs­behörden traten54. Aus diesem Grund wurde 1958 eine „zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ gegrün­det, welche die NS-Verbrechen an den europäischen Juden zum Gegen­stand der deutschen Justiz machte55. Dadurch wurden die einzelnen Staats­anwaltschaften durch die zentrale Stelle entlastet, um so der Komplexität der nationalsozialistischen Verbrechen gerecht zu werden56. Während diese zentrale Stelle fortan für die Sammlung und Aufarbeitung der ent­sprechenden Beweismittel zuständig war, prüften die Staatsanwaltschaften nach Übersendung der Akten, ob ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen war57. Doch auch die Zuständigkeit der zentralen Stelle galt nicht unein­geschränkt58. Nicht zuständig war die Stelle danach zum Beispiel für Ver­brechen, deren Tatorte in Deutschland lagen (zumindest bis 1964) oder für Kriegsverbrechen der Wehrmacht59. Grundsätzlich galt schon damals für Strafverfolgungsbehörden in Deutschland das „Legalitätsprinzip“60. Eine sachliche Zuständigkeitsbeschränkung für Ermittlungsbehörden wider­spricht diesem Prinzip, da damit die Einleitung eines Ermittlungsverfah­rens von dem Vorliegen der Zuständigkeit abhängig gemacht wird und ge­rade nicht vom Vorliegen des Anfangsverdachts. Aus diesem Grund wurde die zentrale Stelle als „Vorermittlungsbehörde“ eingestuft, eine Behörde, die die Strafprozessordnung nicht als Ermittlungsbehörde kennt und für die daher auch das Legalitätsprinzip nicht galt61. Der Ulmer Einsatzgrup­penprozess stellte somit einen ersten Wendepunkt in der Verfolgung von NS-Verbrechen dar62.

Dennoch blieben viele Täter oder Teilnehmer, darunter auch Gröning, in dieser Phase der Aufarbeitung unbestraft. Dies lag neben der Einstufung der zentralen Stelle auch daran, dass sich das West-Deutschland der 50iger Jahre in Richtung Europa bewegte. Umfassende Prozesse, welche die Er­kenntnis zu Tage kommen lassen hätten, dass viele der schlimmsten NS- Verbrechen noch ungeahndet waren und weiterhin Nationalsozialisten be­deutsame Stellen bekleideten, standen dieser Bewegung im Wege.63.

III) Die Verjährung von Mord und Totschlagstaten

Nach der damaligen Rechtslage galt für Verbrechen, welche eine Frei­heitsstrafe von mehr als 10 Jahren vorsahen, nach §§ 66-69 StGB eine Ver­jährungsfrist von 15 Jahren. Bei lebenslänglichem Zuchthause eine Ver­jährungsfrist von 20 Jahren64. Als Zeitpunkt für den Beginn der Verjäh­rungsfrist einigte man sich auf den 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Man war damals der Ansicht, dass ab diesem Tag eine Strafverfolgung möglich war65. Mit der Schaffung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg hoffte man, die Verfolgung von NS-Verbrechen zu beschleunigen, um diese Verfahren innerhalb weniger Jahre abzuschlie­ßen, da ansonsten die Verjährung für Totschlag I960 und für Mord 1965 drohte66. Dies sollte mit Einleitung von verjährungsunterbrechenden Ermittlungsverfahren verhindert werden67. Zudem wurde auch im Bundes­tag über Möglichkeiten zur Verhinderung der anstehenden Verjährung von Totschlagstaten diskutiert68. Letztendlich wurden aber sämtliche Vor­schläge, wie die Verschiebung der Verjährungsfrist auf den Tag nach der Wahl des ersten Bundeskanzlers, für Totschlagstaten abgelehnt. Somit trat die Verjährung dieser Taten ungehindert ein und zahlreiche Ermittlungs­verfahren wurden eingestellt69. Anders war dies bei Mord, denn dafür wurde das Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen am 13. April 1965 erlassen. Dieses regelte, dass der Zeitraum zwischen dem 08. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1949 bei der Berechnung der Verjährung unbeachtlich bleiben sollte70. Mit dem 9. Strafrechtsände­rungsgesetz von 196971 wurde die Verjährung zudem auf30 Jahre verlän­gert und mit dem 16. Strafrechtsänderungsgesetz 197972 letztendlich auf­gehoben, sofern zu diesem Zeitpunkt noch keine Verjährung eingetreten war73. Problematisch könnte dies mit Blick auf das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG erscheinen. Aus dessen Wortlaut ergibt sich je­doch, dass nur die Strafbarkeitsvoraussetzung bestimmt sein muss. Ver­fahrensrechtliche Regelungen, wie Verjährungen, stellen jedoch gerade keine Strafbarkeitsvoraussetzung, sondern vielmehr Verfolgbarkeitsvo­raussetzungen dar und werden daher nicht vom Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG erfasst74. Der Grund dafür lässt sich anhand des Sinn und Zwecks des Art. 103 Abs. 2 GG erläutern. Art. 103 Abs. 2 schützt das Interesse des Einzelnen, der darauf vertrauen soll, dass sein Verhalten auch nicht in der Zukunft strafrechtlich relevant wird75. Genau dieses schutz­würdige Interesse besteht im Rahmen der prozessualen Verfolgungsvo­raussetzungen aber gerade nicht. Schließlich kann ein Täter nie darauf ver­trauen, dass die Verjährungsfrist verstreicht, ohne dass sie zum Beispiel durch richterliche Handlungen nach § 78c StGB unterbrochen wird. Die Beschränkung des Rückwirkungsverbots auf Strafbarkeitsvoraussetzun­gen ist daher nur billig. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG war daher nicht gegeben76.

Somit war zumindest die Verjährung von Mord rechtzeitig verhindert wor­den und eine Verfolgung auch von Gröning weiterhin möglich.

IV) Der Auschwitzprozess von Frankfurt

Der erste große Auschwitzprozess begann am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Römer77. Der Prozess endete nach 183 Verhandlungstagen mit der zweitätigen Urteilsverkündung ab dem 19. August 196578. Der Prozess war nicht nur aufgrund des großen Medienechos von erheblicher Bedeu­tung, auch juristisch wurden wesentliche Fragestellungen behandelt79. Denn die Frage nach der strafrechtlichen Beurteilung der Tathandlungen in Auschwitz war in Rechtsprechung und Literatur höchst umstritten80. Zu­nächst musste sich am geltenden Strafrecht orientiert werden81. So kannte das deutsche Strafrecht zum Zeitpunkt der Tathandlungen weder den Tat­bestand des Massenverbrechens noch des Völkermords, so dass eine Sub­sumtion nur wegen Mordes in Betracht kam82. Denn anders als völker­rechtlich anerkannt und während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher­prozesses auch vertreten, wurde eine Einschränkung des Rückwirkungs­verbots nach Art. 103 Abs. 2 GG in Deutschland nicht in Betracht gezo­gen83. Dass die Einordnung der Verbrechen als Mord den Zuständen in Auschwitz kaum gerecht wurde, ist eindeutig. Somit kann man darüber streiten ob diese Entscheidung billig war. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass anders als im Rahmen der Nürnberger Prozesse, nicht andere Nationen die Richter stellten, sondern die Deutschen selber. Als Richter urteilten also diejenigen, die, wenn sie nicht selbst beteiligt an den Massentötungen, diese jedenfalls auch nicht verhindert hatten. Denn ein Großteil des deutschen Volkes hatte seinen Beitrag zu dem Funktionieren der Tötungsmaschinerie geleistet, in dem es die Deportationen und Ver­brechen gegen Juden im eigenen Land duldete. Man konnte sich also nicht ganz so einfach auf die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Handelns berufen, wie es die Alliierten in den Nürnberger Prozessen taten. Zudem befand sich Deutschland bzw. die BRD im Wiederaufbau, es sollten de­mokratische Zustände hergerichtet werden und das Unrecht aus der NS- Zeit zurückgelassen werden. Es war also durchaus verständlich, dass man sich dagegen entschied, unmittelbar nach der Einführung rechtsstaatlicher Prinzipien, das Rückwirkungsverbot zu missachten.

Fraglich war, wie die Durchführung der Massentötungen strafrechtlich be­urteilt werden sollte, denn eine Einteilung in Einzelhandlungen derjewei- ligen Tatbeteiligten war nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht mög­lich. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt, und damit insbesondere Fritz Bauer, vertrat die Ansicht, dass die Morde in Auschwitz als eine Gesamttat zu betrachten wären undjeder, der Mitglied des Lagerpersonals war, schon durch diese Zugehörigkeit an der Tat beteiligt war84. Für diese Ansicht sprach, dass dadurch eine umfassende Strafverfolgung für die Vernich­tungstätigkeiten in den verschiedenen Konzentrations-, Arbeits- und Ver­nichtungslagern möglich gewesen wäre, da dem Einzelnen danach kein konkreter Tatbeitrag zum Mord nachgewiesen werden musste. Alleine eine Unterstützungshandlung, z.B. durch die Arbeit in der Häftlingseigen­tumsverwaltung wäre für die Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord aus­reichend gewesen. Die Massenvernichtung in Auschwitz war nach dieser Auffassung als natürliche Handlungseinheit zu betrachten85. Dies sollte insbesondere prozessökonomische Vorteile haben, denn nach dieser Auf­fassung war dem Angeklagten nur die Präsenz im Vernichtungslager nach­zuweisen, nicht aber eine konkrete Tötungshandlung86. Gestützt wurde die Ansicht Bauers von der Rechtsprechung der 60er Jahre. So hatte der 2. Strafsenat des BGH 1964 entschieden, dass alle Angehörigen der Lager­mannschaft der SS im Vernichtungslager Sobibor an dem Massenmord be­teiligt waren und ohne den Nachweis einer konkreten Handlung, welche die Vernichtung gefördert hatte, verurteilt werden konnten87.

[...]


1 Huth, Die letzten Zeugen, S. 10.

2 LG Lüneburg, Urt. v. 15.07.2015 - 27 Ks 9/14, 27 Ks 1191 Js 98402/13 (9/14), Rn. 1.

3 Klotzbücher, Politische Weg des Stahlhelm, S. 322.

4 https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46185248.html (16.3.2020).

5 Huth, Die letzten Zeugen, S. 10.

6 Engelmann, Buchhaltervon Auschwitz, S. 28.

7 LG Lüneburg Urt. v. 15.07.2015, Rn. 4.

8 Huth, Die letzten Zeugen, S. 10.

9 Engelmann, Buchhaltervon Auschwitz, S. 29.

10 Huth, Die letzten Zeugen, S. 12.

11 LG Lüneburg Urt. v. 15.07.2015, Rn. 4-9.

12 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S.31.

13 Huth, Die letzten Zeugen, S. 14.

14 LGLüneburgUrt.v. 15.07. 2015,Rn. 11.

15 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S. 62.

16 LGLüneburgUrt.v. 15.07.2015,Rn. 11.

17 Während der Ungarn-Aktion vom 16.05.1944 bis zum 11.07.1944 wurden rund 430.000 jüdische Ungarn nach Auschwitz deportiert, von denen rund dreiviertel unmit­telbar nach der Ankunft in Auschwitz ermordet wurden.

18 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S.81.

19 Huth, Die letzten Zeugen, S. 138.

20 Engelmann, Buchhaltervon Auschwitz, S. 93.

21 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S.93.

22 Huth, Die letzten Zeugen, S. 139.

23 Huth, Die letzten Zeugen, S. 139.

24 2424 LGLüneburgUrt.v. 15.07.2015,Rn. 18.

25 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S. 94.

26 Engelmann, Buchhaltervon Auschwitz, S. 98.

27 https://www.bbc.com/news/world-europe-32336353 (16.03.2020).

28 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S. 101.

29 https://www.bbc.com/news/world-europe-32336353 (16.03.2020).

30 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/auschwitz-oskar-groening-ss- buchhalter-tot (20.06.2020)

31 StV2017, 546.

32 Rückeri, StrafverfolgugvonNS-Verbrechen, S. 25.

33 Rückeri, StrafverfolgugvonNS-Verbrechen, S. 25.

34 Freudiger, JuristischeAufarbeitungvonNS-Verfahren, S. 13.

35 Freudiger, Juristische AufarbeitungvonNS-Verfahren, S. 12.

36 Rückeri, StrafverfolgugvonNS-Verbrechen, S. 13.

37 Rückeri, StrafverfolgugvonNS-Verbrechen, S. 36.

38 Freudiger, Juristische AufarbeitungvonNS-Verbrechen, S. 16.

39 Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 28.

40 Huth, Die letzten Zeugen, S. 173.

41 Giordano, Die Zweite Schuld, S. 116.

42 Giordano, Die Zweite Schuld, S. 117.

43 Huth, Die letzten Zeugen, S. 173.

44 Walther in: Forschungsjoumal Soziale Bewegungen, Band 28, 229

45 Engelmann, BuchhaltervonAuschwitz, S. 96.

46 https://www.theguardian.com/law/2014/nov/ll/secret-war-crimes-nazis-soas-un-ar- chive (15.3.).

47 https://www.theguardian.com/world/2015/iul/16/how-nazi-guard-oskar-groning-es- caped-iustice-in-1947-for-crimes-at-auschwitz (15.03.).

48 https://www.theguardian.com/world/2015/iul/16/how-nazi-guard-oskar-groning-es- caped-iustice-in-1947-for-crimes-at-auschwitz (15.03.).

49 Engelmann, Buchhaltervon Auschwitz, S. 96.

50 https://www.theguardian.com/world/2Q15/iul/16/how-nazi-guard-oskar-groning-es- caped-iustice-in-1947-for-crimes-at-auschwitz (15.03.).

51 Walther in: Forschungsjoumal Soziale Bewegungen, Band 28, 229.

52 NJW 1992, 2529 (2531).

53 Eichmüller in: Vierteljahrshefte iur Zeitgeschichte 4/2008 S. 627.

54 Streim in: Kuretsidis-Haider, Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung, S. 131.

55 NJW 1992, 2529 (2531).

56 NJW2009, 14(16).

57 Dobrawa, Der Auschwitz Prozess, S. 17.

58 ZRP 2010, 92 (94).

59 NJW2009, 14(16).

60 Beschreibt die Pflicht der Ermittlungsbehörde bei Bestehen eines Anfangsverdachts, einErmittlungsverfahreneinzuleiten, Kölbel, MüKo StPO, § 160 Rn. 29.

61 ZRP 2010, 92 (94).

62 Huth, Die letzten Zeugen, S. 174.

63 ZRP 2010, 92 (94).

64 https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/293285/veriaehrungsdebatte (20.04).

65 https://www.deutschlandfunk.de/veriaehrung-von-ns-morden-ein-kompromiss-als- meilenstein,724.de.html?dram:article id=313704 (20.04).

66 Safferling in: Lüttig/Lehmann (Hrsg.), Die letzten NS-Verfahren, S. 30.

67 Eichmüller in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4/2008 S. 627.

68 Safferling in: Lüttig/Lehmann (Hrsg.), Die letzten NS-Verfahren, S. 30.

69 NJW 1992, 2529 (2531).

70 NJW2009, 14(15).

71 BGBl. I S. 1065.

72 BGB1.IS. 1046.

73 NJW 2009, 14 (15).

74 Hassemer/Kargl in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, § 2 Rn. 12a.

75 Remmert in: Maunz/Dürig/Remmert, GG, Art. 103 Abs. 2, Rn. 37.

76 Radke in: BeckOK Grundgesetz zu Art. 131 GG.

77 Langbein, Auschwitz Prozess, S. 35.

78 Langbein, Auschwitz Prozess, S. 14.

79 Renz in: Osterloh/Vollnhals (Hrsg.) NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, S. 360.

80 Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 134.

81 Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 134.

82 NJW 1992, 2529 (2533).

83 NJW 1997, 2298 (2298).

84 Huth, Die letzten Zeugen, S. 175.

85 Renz, NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, S. 358.

86 Renz, NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, S. 358.

87 Nestler in: Lüttig/Lehmann (Hrsg.), Die letzten NS-Verfahren, S. 63.

Details

Seiten
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783346596642
ISBN (Paperback)
9783346596659
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
strafverfahren oskar gröning wiedergutmachung versagens justiz aufarbeitung ns-verbrechen
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Titel: Das Strafverfahren gegen Oskar Gröning. Eine späte Wiedergutmachung des Versagens der deutschen Justiz im Rahmen der Aufarbeitung von NS-Verbrechen?