Mit Hilfe eines Praxisbeispiels der Klientin P. wird die multiperspektivische Fallarbeit im Sozialpsychiatrische Dienst erklärt. Zunächst erfolgt eine Aufklärung darüber, was der Sozialpsychiatrische Dienst ist und was seine Aufgaben sind. Dann wird das Fallbeispiel kurz erläutert.
Aus dem Fallbeispiel resultieren nun die theoriegeleitete Fallanalyse, die systemischen Fallhypothesen und die Generierung kurz-, mittel- und langfristiger Interventionen . Es wird also erklärt, wie in der Sozialen Arbeit im Sozialpsychiatrische Dienst gehandelt wird.
Zum Schluss erfolgt der Reflexionsprozess unter Einbeziehung der ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit.
I. Inhaltsverzeichnis
1. Praxisfeld Sozialpsychiatrischer Dienst
1.1 Theoriegeleitete Fallanalyse
2. Systemische Fallhypothesen
2.1 Fallhypothesen und Theoriebezug
2.2 Soziale Prognose
3. Generierung kurz-, mittel- und langfristiger Interventionen
4. Reflexionsprozess unter Einbeziehung der ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit
II. Literaturverzeichnis
1. Praxisfeld Sozialpsychiatrischer Dienst
Der Sozialpsychiatrische Dienst gliedert sich vorwiegend an das Gesundheitsamt, da Kreise und kreisfreie Städte dazu verpflichtet sind, die Beratung einzurichten und die Finanzierung von ihnen getragen wird. Osnabrück ist eine kreisfreie Stadt und somit verpflichtet einen Sozialpsychiatrischen Dienst einzurichten, sowie anzubieten. Die Beratung erfolgt kostenfrei und unterliegt der Schweigepflicht. Die Zielgruppe sind psychisch erkrankte Menschen, wobei die Kriterien des ICD-10 zu betrachten sind, Angehörige, Menschen in psychischen Krisen und mit Abhängigkeitserkrankungen, sowie Fachkräfte. Die Hauptaufgabe ist Menschen in seelischen Krisen und bei psychischen Erkrankungen zu beraten, begleiten sowie zu vermitteln. Ebenfalls werden Schutzmaßnahmen eingeleitet, der Sozialraum unterstützt, Einzel- und Gruppenarbeit durchgeführt, sowie die Soziotherapie, die sich aus Arbeits-, Beschäftigungs- und Sporttherapien zusammensetzt. Psychosoziale Stabilisierungen, Kriseninterventionen, Vernetzung, Teilhabe an der Gesellschaft, sowie die Unterstützung vor und nach einem stationären Aufenthalt zählen weiterhin zu den anstehenden Aufgaben eines/r Sozialarbeiters*in. Bei jungen Menschen erfolgt eine professionelle Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt (vgl. Riecken 2017:7 ff).
„Eine psychische oder seelische Störung ist eine häufige, intensive und langandauernde erhebliche Normabweichung im Erleben, Empfinden oder Verhalten, die die Bereiche des Denkens, Fühlens und Handelns betrifft und mit psychischem Leiden auf Seiten der Betroffenen einhergeht“, (Klöckner, Grimm 2017: 2).
Die Klientin P., 38 Jahre alt, erkrankte während ihres Studiums. Sie hielt sich häufiger im Landeskrankenhaus auf, indem bei ihr eine Schizo-affektive Psychose, ICD-10 – F25, diagnostiziert wurde, die sich bei ihr durch Denkzerfahrenheit, Wahngedanken und labile Affektivität äußert. Unter einer Schizo-affektiven Psychose wird eine episodische Störung verstanden, bei der sowohl affektive als auch schizophrene Symptome auftreten. Es werden weder die Kriterien für Schizophrenie noch für eine manische oder depressive Störung erfüllt (vgl. Krollner 2018: o.S.). Durch ihre selbstständige Absetzung der Medikation zeigt sie manisch-depressive Symptome und begibt sich freiwillig ins Krankenhaus. Bei der Schizo-affektiven Störung handelt es sich um eine psychische Störung, da sich bei Frau P. eine langfristige, intensive erhebliche Normabweichung im Erleben, Empfinden und Verhalten in den Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns zeigt, da sie mehrmals ihre Medikation abstellte, krankheitsuneinsichtig ist und sehr gereizt wirkt. Durch ihre hohe Verschuldung wird ihr Haus zwangsversteigert, sie ist nicht krankenversichert und ihr steht eine gesetzliche Betreuung für die Bereiche Gesundheit, Aufenthalt und Vermögen zur Verfügung. Ihr psychisches Leiden geht somit auf Seiten der Betroffenen einher, da ihre Mutter vor ihrem Tod eine Hypothek auf das Haus aufnahm, um die Schulden ihrer Tochter begleichen zu können. Ebenfalls möchte Frau P. nicht als Angestellte tätig sein, sondern im Bereich der Selbstständigkeit, da sie frei und unabhängig sein möchte.
Das niedersächsische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) bildet die rechtliche Grundlage. Gem. §1 des NPsychKG wird die Hilfe im Sozialpsychiatrischen Dienst für Personen, die eine psychische Krankheit oder eine seelische Behinderung haben bzw. hatten angewendet. Vorliegend hat Frau P. die psychische Krankheit Schizo-affektive Psychose und liegt somit im Anwendungsbereich. Zudem fällt Frau P. auch in die Zuständigkeit, da Landkreise und kreisfreie Städte für die Wahrnehmung der Aufgaben nach §3 des NPsychKG örtlich zuständig sind, sowie für dessen Bezirk indem die betroffene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Da Osnabrück eine kreisfreie Stadt ist und Frau P. ihren gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, ist der Sozialpsychiatrische Dienst für sie zuständig. Der §6 NPsychKG umfasst die Arten und Ziele der Hilfen, wobei eine frühzeitige und umfassende psychosoziale Beratung und Betreuung durchgeführt wird sowie eine medizinische und psychotherapeutische Beratung und Behandlung erfolgt. Das Ziel ist es, der betroffenen Person weitestgehend ein selbstbestimmtes Leben mit Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, sowie eine Unterbringung zu vermeiden. Vorliegend soll die Eingliederung in das Leben in der Gemeinschaft nach der stationären Behandlung von Frau P. erleichtert werden (vgl. Van Oostrom u. Weichert 2017: o.S.). „Die Hilfen sollen die nahestehenden Personen auch in ihrer Fürsorge für die betroffene Person entlasten und unterstützen“ (Van Oostrom, S. u. Weichert, J 2017: §6 Abs.4 S.2). Ebenfalls wird die Hilfe ambulant geleistet, damit Frau P. in ihrem gewohnten Lebensbereich verbleiben kann.
Unser institutioneller Auftrag beinhaltet die erste Kontaktaufnahme im Landeskrankenhaus mit dem/r zuständigen Sozialarbeiter*in, um zunächst wichtige Informationen von der Klientin zu erhalten und damit die erste Begegnung in einer für Frau P. vertrauten Umgebung stattfindet. Ebenfalls umfasst unser Auftrag auch die Nachsorge und ambulante Begleitung nach dem stationären Aufenthalt im Landeskrankenhaus.
Der Fall wird nach dem Regelkreis des Case Management verordnet. Da wir uns im Erstgespräch befinden, erfassen wir die Situation, sowie beschäftigen wir uns mit der Ressourcenerfragung. Hierbei befinden wir uns in der Assessment-Phase. Wichtige Kriterien sind dabei für uns, die Versorgungs- und Lebenssituation anhand einer Bedürfnispyramide, bewältigte Entwicklungsaufgaben und Beziehungen zu Institutionen, in diesem Fall zum Landeskrankenhaus. Wichtige Bausteine sind ebenfalls die sozialen Beziehungen, verfügbare Ressourcen, Machtkonstellationen, sowie die Bedarfslage von Frau P. Anschließend wird relativ zeitnah die Hilfebedarfsklärung erfolgen. Dabei stehen der Wille sowie die Kooperationsbereitschaft von Frau P., die Erarbeitung der Richtungsziele und der Aushandlungsprozess im Mittelpunkt. Wir entschieden uns für das Modell des Case Management, da „Personen bzw. Personengruppen, die nach dem Handlungskonzept des Case Managements begleitet, unterstützt, beraten und versorgt werden, bedarfsgerechte, aufeinander abgestimmte Leistungen erhalten“ (Radewagen 2018: 3). Außerdem sind uns die Vermeidungen von Schnittstellen im Hilfesystem, einer Über- und Unterversorgung sowie von unnötigen Belastungen für die Adressaten wichtig. Eine am Adressaten orientierte Ausrichtung der Hilfeleistungen soll die Hilfe effektiv und effizient gestalten (vgl. Radewagen 2018: 11 ff).
1.1 Theoriegeleitete Fallanalyse
Zur näheren Einordnung wird der Fall Frau P. mit unterschiedlichen Theorien verknüpft. Nach der Lebensweltorientierung nach Thiersch wird der Mensch ganzheitlich betrachtet. Die vorhandenen Ressourcen können zur Lösung sozialer Probleme genutzt werden. In unserer Beratung ist es wichtig Frau P. ganzheitlich zu betrachten und ihre vorhandenen Ressourcen zu nutzen. Ebenfalls ist Frau P. Expertin für ihren Alltag und somit können wir zur Selbstständigkeit im Alltag verhelfen. Dieses wird ebenfalls durch die Stärkung der Lebensräume, soziale Bezüge und Aufweisung von Hilfsmöglichkeiten gelingen. Besonders relevant sind die Dimensionen Zeit, Raum und Beziehungen. Die Zeit bezieht sich auf Lebensphasen und den damit verbundenen unterschiedlichen Bewältigungsaufgaben. Sie versucht die Zeit so zu strukturieren, dass sie entlastete Verlässlichkeit und gleichzeitig Perspektivität bietet, wobei die Gegenwart, das Hier und Jetzt bei Frau P. im Fokus steht. Die Dimension des Raumes beschreibt, dass von Frau P. die räumlichen Verhältnisse gesehen werden, wie ihr Umfeld und ihre Wohnung ausgestattet sind. Frau P. wird in ihrem erfahrenen Raum und den räumlichen Verhältnissen gesehen. In der dritten Dimension der sozialen Bezüge/Beziehungen agiert der/die Sozialarbeiter*in im Kontext des sozialen Geflechts von Familie, Freunden oder Bekannten. Wichtige Ziele sind dabei Prävention, Regionalisierung, Alltagsorientierung, Integration sowie die Partizipation (vgl. Hellmann 2016/17: 1ff).
Eine weitere passende Theorie ist „Motivational Interviewing“, bei der es sich um einen klientenzentrierten aber zugleich auch direktiven Beratungsansatz handelt, welcher mithilfe von Kommunikation versucht, Bedingungen zu schaffen, die für den Aufbau von intrinsischer Motivation bei anderen hilfreich sein können. Ziel dieser Methode ist also die Auflösung von Ambivalenzen zugunsten einer Veränderung bei der wir uns im geleitenden Stil befinden. Die Motivierende Gesprächsführung geht davon aus, dass jeder Mensch über Ressourcen und Motivation für eine solche Veränderung verfügt. Es geht also nicht darum, den Klienten*innen Motivation aufzudrücken, viel mehr sollen diese von den Fachkräften dabei unterstützt werden, ihre eigene intrinsische Motivation und Ressourcen zu entdecken (vgl. Miller u. Rollnick 2009: 11 ff). Vorliegend ist Frau P. krankheitsuneinsichtig und zeigt wenig Problemeinsichtigkeit, daher ist kaum Change Talk vorhanden. Durch evokative Fragen ist Change Talk zu erreichen. Ebenfalls fehlt es an Zuversicht und Selbstwirksamkeit, wobei es an Confidence Talk fehlt. Dies ist durch Zuversichtsskalen, frühere Erfolge und offenen Fragen zu erreichen. Frau P. sind die Erfolgschancen zuversichtlich aufzuzeigen, sowie die Aufmerksamkeit auf die Sprache der Veränderung zu legen. Durch die Krankheitsuneinsichtigkeit ist Frau P. extrinsisch motiviert (vgl. Granzow 2018: 4).
Zusätzlich ist der Konstruktivismus für die Fallanalyse bedeutsam. Konstruktivismus ist eine Epistemologie (Erkenntnistheorie). Ein erkannter Gegenstand wird von dem Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert, wobei Wissen zustande kommt, Beobachtungen Konstrukte darstellen und Erkenntnisse Beobachtungen der Realität sind. Die Autopoiese nach Luhmann stellt die stärkste Form der Selbstreferenz dar, die in einer Familie operational geschlossen ist, sowie energetisch offen, wenn ein Familienmitglied weiter entfernt ist. Die Selbstreferenz von Frau P. ist energetisch offen durch die wenigen Kontakte zu anderen Familienmitgliedern nach dem Tod ihrer Mutter. Dabei spielt die Kybernetik, die auf der Kontroll- und Kommunikationstheorie beruht, eine wichtige Rolle. Kybernetik 2. Ordnung ist eine Form der Erkenntnistheorie, die sich auf die Interaktion zwischen dem Beobachter und dem beobachteten System konzentriert (vgl. Tiaden 2018: 9ff). Sie bezieht sich auf sich selber, somit beschränken sich bei Frau P. auch die eigene Wahrnehmung und die Konstrukte auf sich selbst. Ihr Gehirn konstruiert eine eigene Realität, Beziehungen und Gefühle durch äußere Faktoren, wie Störungen, die das Gehirn zu viablen Infos verarbeitet. Bedeutsam ist dabei, dass die Lösungen für das gesamte System passen müssen und nicht für eine einzelne Person. Systeme sind formale Modelle, um eine Wirklichkeit zu konstruieren. Eine Handlungsmöglichkeit ist die systemische Beratung, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext von Problemlagen liegt und weitere Mitglieder des/r Klienten*in miteinbezieht. Somit trägt Frau P. alle notwendigen Ressourcen in sich und sie nimmt den Expertenstatus ein. Wichtige Kriterien sind ebenfalls die unterschiedlichen Sichtweisen, die Neutralität bzw. Allparteilichkeit gegenüber Anwesenden sowie die unterschiedliche Wahrnehmung der Welt jedes Menschen. Schlussendlich macht jedes Verhalten Sinn, wenn der Kontext klar ist, dies beschreibt das Refraiming der systemischen Beratung (vgl. Kleve 2010: o.S.).
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