Die Geschichte von Rotkäppchen wurde im Laufe der Jahrhunderte von unzähligen Autoren bearbeitet und variiert. Entgegen seiner Popularität stellt die Version der Gebrüder Grimm dabei weder die erste noch die letzte Adaption des Stoffes dar, sondern greift auf frühere Bearbeitungen zurück und hat gleichfalls das Feld für neue Bearbeitungen eröffnet. Da Märchen immer einen Spiegel der Gesellschaft darstellen in der sie entstanden sind und die herrschenden Gesetze, Werte und Normen abbilden, kann die vergleichende Analyse von Märchenversionen Aufschlüsse über Veränderungen und Entwicklungen im sozialen System.
In der vorliegenden Arbeit sollen die frühe Rotkäppchenversion "Die Geschichte von der Großmutter", deren Erzählerkern vermutlich bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht, "Le petit chaperon rouge" von Charles Perrault (1697) und "Rotkäppchen" der Gebrüder Grimm (1812/15) näher beleuchtet und herausgestellt werden, welche Intentionen die Märchen mit demselben Stoff aber unterschiedlichen Ausarbeitungen verfolgen.
Besonderes Augenmerk soll auf Rotkäppchens Weg vom cleveren kleinen Mädchen, das sich selbstständig vor dem Wolf retten konnte, zum naiven Geschöpf, das von einer männlichen Autoritätsperson gerettet werden muss liegen, um die Stellung der Frau in der Gesellschaft und die Beziehung von männlicher und weiblicher Macht nachzuverfolgen. In diesem Zusammenhang soll auch der zunehmende Verlust des offenen Umgangs mit weiblicher Sexualität näher betrachtet werden, der bei den Grimms in der beinahe vollständigen Eliminierung aller erotischen Konnotationen gipfelt. Es soll herausgestellt werden, inwiefern diese Ausmerzung einerseits die Schamgrenzen der jeweiligen historischen Gesellschaft absteckt und andererseits dazu beiträgt, das männlich-weibliche Machtgefälle in der patriarchalen Gesellschaft zu festigen.
Abschließend soll anhand von Otto F. Gmelins "Rotkäppchen" gezeigt werden, wie moderne Versionen dem Mädchen seine Selbstständigkeit zurückgeben, indem es den Wolf alleine besiegt, und damit gewissermaßen den Bogen zurück zu den Anfängen der Überlieferungsgeschichte von "Rotkäppchen" schlagen, die noch die Eigenständigkeit und Cleverness des Mädchens zelebriert haben.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rotkäppchens Anfang - „Die Geschichte von der Großmutter“
2.1. Von Nähnadeln und Stecknadeln - Der Weg zurjungen Frau
2.2. „Zieh dich aus, mein Kind“ - offener Umgang mit Sexualität
2.3. Selbst ist die Frau - Wie das Mädchen sich selbst rettet
3. Ein Kavalier im Wolfspelz - „Le petit chaperon Rouge“ von Charles Perrault
3.1. „viens te coucher avec moi“ - Erotische (Ver)lockung
3.2. Die Moral von der Geschicht’
3.3. Le petit chaperon rouge - so nannte man es Rotkäppchen
4. Naives Geschöpf - Das „Rotkäppchen“ der Gebrüder Grimm
4.1. „Ich will schon alles gut machen“ - Verhaltensmaßregeln
4.2. „sieh einmal die schönen Blumen“ - Verführt vom Wolf
4.3. Prüderie des Biedermeier - Streichung erotischer Elemente
4.4. Rettung durch den männlichen Jäger
4.5. Selbsterkenntnis statt Moral
4.6. „Es wird auch erzählt“ -Das zweite Ende
5. Moderne Versionen - Rotkäppchens Weg zurück zur Selbstständigkeit
5.1. Otto F. Gmelin - „Es war einmal ein furchtloses Mädchen“
6. Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Geschichte von „Rotkäppchen“ wurde im Laufe der Jahrhunderte von unzähligen Autoren bearbeitet und variiert. Entgegen seiner Popularität stellt die Version der Gebrüder Grimm dabei weder die erste, noch die letzte Adaption des Stoffes dar, sondern greift auf frühere Bearbeitungen zurück und hat gleichfalls das Feld für neue Bearbeitungen eröffnet. Da Märchen immer einen Spiegel der Gesellschaft darstellen, in der sie entstanden sind und die herrschenden Gesetze, Werte und Normen abbilden, kann die vergleichende Analyse von Märchenversionen Aufschlüsse über Veränderungen und Entwicklungen im sozialen System geben (vgl. Niegelhell: 2005, 180).
In der vorliegenden Arbeit sollen die frühe Rotkäppchen-Version „Die Geschichte von der Großmutter“, deren Erzählerkern vermutlich bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht, „Le petit chaperon rouge“ von Charles Perrault (1697) und „Rotkäppchen“ von den Gebrüder Grimm (1812/15) näher beleuchtet und herausgestellt werden, welche Intentionen die Märchen mit demselben Stoff aber unterschiedlichen Ausarbeitungen verfolgen. Besonderes Augenmerk soll auf Rotkäppchens Weg vom cleveren kleinen Mädchen, das sich selbstständig vor dem Wolf retten konnte, zum naiven Geschöpf, das von einer männlichen Autoritätsperson gerettet werden muss, liegen, um die Stellung der Frau in der Gesellschaft und die Beziehung von männlicher und weiblicher Macht nachzuverfolgen. In diesem Zusammenhang soll auch der zunehmende Verlust des offenen Umgangs mit weiblicher Sexualität näher betrachtet werden, der bei den Grimms in der beinahe vollständigen Eliminierung aller erotischen Konnotationen gipfelt. Es soll untersucht werden, inwiefern diese Ausmerzung einerseits die Schamgrenzen der jeweiligen historischen Gesellschaft absteckt und andererseits dazu beiträgt, das männlich-weibliche Machtgefälle in der patriarchalen Gesellschaft zu festigen.
Abschließend soll anhand von Otto F. Gmelins „Rotkäppchen“ gezeigt werden, wie moderne Versionen dem Mädchen seine Selbstständigkeit zurückgeben, indem es den Wolf alleine besiegt, und damit gewissermaßen den Bogen zurück zu den Anfängen der Überlieferungsgeschichte von „Rotkäppchen“ schlagen, die noch die Eigenständigkeit und Cleverness des Mädchens zelebriert haben.
2. Rotkäppchens Anfang - „Die Geschichte von der Großmutter“
Eine relativ unbekannte Ur-Fassung des Rotkäppchen-Märchens, deren mündliche Erzähltradition wohl bis in das 16. Jahrhundert zurückgeht, wurde 1885 von Paul Delarue rekonstruiert (vgl. Messner: 2001, 231) und trägt den Titel „Die Geschichte von der Großmutter“. In dieser frühen Version wird das kleine Mädchen nicht von dem Wolf gefressen, sondern kann sich alleine, ohne fremde Hilfe, vor ihm retten. Es ist demnach aktiv und selbstständig, Eigenschaften, die ihm in den ebenfalls zu betrachtenden Rotkäppchen-Adaptionen von Charles Perrault und den Gebrüdern Grimm immer mehr abhanden kommen werden.
2.1. Von Nähnadeln und Stecknadeln - Der Weg zur jungen Frau
Auf dem Weg zur Großmutter trifft das Mädchen den Wolf an einer Wegkreuzung, wo es die Wahl zwischen dem Stecknadel- und dem Nähnadelweg hat, sich aber bewusst für letzteren entscheidet. Diese Wahl scheint nicht willkürlich getroffen zu sein, führt man sich vor Augen, dass Nähnadeln und Stecknadeln in einigen ländlichen Regionen Frankreichs im 19. Jahrhundert zwei unterschiedliche Stadien im Leben eines Mädchens symbolisierten. Die französische Ethnographin Yvonne Verdier weist darauf hin, dass es in diesen Regionen üblich war, Mädchen einen Winter über zu einer Näherin zu schicken, wo es vor allem lernen sollte, sich hübsch zu machen. Dies wurde mit der Redewendung umschrieben, dass das Mädchen Stecknadeln sammle. Der abgeschlossene Aufenthalt bei der Näherin und das Erreichen des fünfzehnten Lebensjahres läuteten schließlich den Beginn der sogenannten Mädchenzeit ein, ab der es der jungen Frau erlaubt war, einen Liebhaber zu haben (vgl. Verdier: 1997, 106).
Hinzu kommt, dass Stecknadel recht einfach zu benutzen sind, keine Erfahrung verlangen, zwei Dinge nur temporär zusammenstecken und vor allem kein Nadelöhr besitzen, in das ein Faden eingeführt werden könnte, womit sie das Stadium der Jungfräulichkeit versinnbildlichen. Um Nähnadeln zu benutzen, ist hingegen ein gewisses Handwerk erforderlich, man fügt Dinge permanent zusammen und das Einfädeln des Fadens in das Nadelöhr hat eine sexuelle Konnotation (vgl. Douglas: 1995, 4). Es lässt sich zusammenfassen, dass die Stecknadeln für den jungfräulichen Mädchenabschnitt stehen, in dem lose Bekanntschaften mit Verehrern gepflegt werden, während die Nähnadeln das Symbol der erwachsenen, sexuell aktiven Frau sind, die in einer festen Beziehung lebt. In „Die Geschichte von der Großmutter“ entscheidet sich das Mädchen an der Wegkreuzung dafür, den Nähnadelweg zu gehen und folgt damit dem Pfad in Richtung Erwachsensein, Weiblichkeit und Sexualität.
Auch die Tatsache, dass das Mädchen später das Fleisch ihrer Großmutter isst und deren Blut trinkt, kann, lässt man die Grausamkeit dieses kannibalistischen Vorgangs außen vor, in dieser Hinsicht interpretiert werden. Das Mädchen, das sich ihre Großmutter im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt, nimmt dadurch symbolisch ihren Platz in der Gesellschaft ein (vgl. Zipes: 1993, 24). Es hat das Stadium einer sexuell herangereiften Frau erreicht und ersetzt nun die ältere Generation.
2.2. „Zieh dich aus, mein Kind“ - offener Umgang mit Sexualität
Das Mädchen wird vom Wolf aufgefordert, Stück für Stück seine Kleidung abzulegen und diese ins Feuer zu werfen. Anschließend legt es sich nackt zur vermeintlichen Großmutter ins Bett und zeigt sich überrascht über deren behaarten Körper, wodurch offensichtlich wird, dass auch der Wolf nackt ist. Erst die Gebrüder Grimm haben es mit der Prüderie der Biedermeierzeit als nötig empfunden, den Wolf die Kleider der Großmutter anzuziehen zu lassen.
Das langsame Ausziehen und gemeinsame Liegen im Bett zeigen, dass der offene Umgang mit Sexualität und Nacktheit in der Neuzeit zum Alltag gehörte und man ohne Zurückhaltung und Scheu damit umgegangen ist (vgl. Fabritius: 2010, 45f). Allerdings galten sexuellen Erfahrungen außerhalb der Ehe auch in dieser Zeit als sozial unangebracht und Keuschheit war eine wichtige gesellschaftliche Tugend (vgl. Orenstein: 2003, 65). Das Mädchen, das sich im Märchen nun in einer solch untugendhaften Situation befindet, wird aber weder in perraultscher Manier mit dem Tod für ihre Unsitte bestraft, noch muss es wie bei den Gebrüdern Grimm am Ende von einer männlichen Autoritätsperson gerettet werden.
2.3. Selbst ist die Frau - Wie das Mädchen sich selbst rettet
Das Mädchen lässt sich nicht täuschen, sondern entlarvt die vermeintliche Großmutter als Wolf und schafft es, diesem mit einer List zu entkommen. Indem es die Situation souverän und clever meistert, zeigt es, dass es dem gefährlichen Wolf gewachsen ist und weigert sich, die Rolle des schwachen Gegenparts zu spielen.
Auch, wenn Frauen in der frühen Neuzeit durchaus über Mitspracherecht verfügten und Entscheidungen gemeinsam mit dem Mann getroffen wurden, beschränkte sich ihr Wirkungsbereich im Allgemeinen auf das Innere des Hauses, den sie im Sinne eines idealen Frauenbildes nicht zu überschreiten hatte. Ein Märchen, in dem ein Mädchen als selbständig, mutig, tapfer und schlau präsentiert wird, rebelliert offenkundig gegen Klischeevorstellungen und Beschränkungen, die dem weiblichen Geschlecht in einer von Männern dominierten Welt angehangen werden. Ist die Unterstellung einer feministisch-emanzipatorischen Absicht wohl eindeutig zu hoch angesetzt, lässt sich dennoch durchaus die Intention erkennen, heranwachsende Mädchen zu selbstbewussten Frauen zu erziehen, die wissen, wie man mit den im Wolf verkörperten Gefahren umzugehen hat (vgl. Messner: 2001, 234).
3. Ein Kavalier im Wolfspelz - „Le petit chaperon rouge“ von Charles Perrault
Charles Perraults „Le petit chaperon rouge“, erstmals 1697 erschienen, ist für Erwachsene und Kinder der sozialen Oberschicht verfasst und weist dementsprechende Anpassungen auf (vgl. Zipes: 1993, 25). Die kannibalischen Elemente, sowie Rotkäppchens Fragen nach dem behaarten Körper der Großmutter wurden als unzivilisiert angesehen und daher vom Autor herausgestrichen (vgl. Fabritius: 2010, 57).
Auf dem Weg zur Großmutter bleibt Rotkäppchen stehen, um mit dem Wolf zu sprechen, da es nicht weiß, was für ein gefährliches Tier der Wolf ist und gibt ihm Auskunft über den Wohnort der Großmutter. Dadurch erscheint das Mädchen schon an dieser frühen Stelle naiv, wenn nicht sogar dumm, und gänzlich unerfahren. Auch Rotkäppchens Eigenständigkeit wird bereits bei diesem ersten Aufeinandertreffen angetastet, denn es kann nun nicht mehr selbst entscheiden, welchen Weg es gehen möchte. Stattdessen trifft der Wolf die Wahl für sie, indem er sagt: „ich nehme diesen Weg und du jenen Weg“ (Perrault: 2017, 70).
Auf seinem weiteren Weg hat Rotkäppchen Freude daran, Haselnüsse aufzulesen, hinter Schmetterlingen herzulaufen und Blumen zu pflücken, wodurch es pflichtvergessen und kindlich erscheint. Im Gegensatz zu der Version der Gebrüder Grimm, geht dieses Verhalten aber allein vom Mädchen selbst aus, der Wolf muss es nicht erst auf die Natur um es herum aufmerksam machen.
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