Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers, geschrieben zwischen 1776 und 1778, bilden Jean-Jacques Rousseaus letztes Werk. Es wurde posthum veröffentlicht und gilt als eine Fortführung der Bekenntnisse. Der Text, der einen autobiografischen Charakter aufweist und von einem erzählten Subjekt namens Rousseau handelt, zählt zu den
berühmtesten Spaziergängertexten. Er gliedert sich in insgesamt zehn Abschnitte, die als nacherzählte Spaziergänge inszeniert sind. Jeder dieser Abschnitte behandelt ein eigenes Thema, jedoch lassen sich außer dem Spazierengehen sowie Reflexionen bezüglich des Schreibprozesses zusätzliche textübergreifende Motive, wie das Erleiden von physischer und psychischer Gewalt durch die Außenwelt oder permanent empfundene Einsamkeit erkennen. Ein weiteres Kernelement des Textes bildet das Erfahren von Muße, durch die der Erzähler Momente der Glückseligkeit durchlebt.
In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, wie die Übergänge, die das erzählte Subjekt vollzieht, um in einen solchen Mußezustand zu gelangen, literarisch übersetzt werden. Für die folgende Analyse soll deshalb zunächst der Begriff der Transgression erläutert werden sowie die Methode dargelegt werden, durch die textspezifische
Strukturen aufgedeckt werden sollen. In einem dritten Abschnitt werden einzelne Textstellen untersucht, in denen es zu liminalen Ereignissen kommt. Hierfür sind vor allem die Bedingungen für eine solche Übertretung sowie die räumlichen und zeitlichen Oppositionen der jeweiligen semantischen Räume, in denen sich das Subjekt bewegt, von besonderem Interesse. In einem Resümee sollen abschließend die Ergebnisse reflektiert werden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Untersuchungsgegenstand und Methode
3. Transgressive Erfahrungen auf der Petersinsel
3.1. Erste Szene
3.2. Zweite Szene
4. Die zwei Textebenen
5. Resümee
6. Literatur
1. Einleitung
Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers1, geschrieben zwischen 1776 und 1778, bilden Jean-Jacques Rousseaus letztes Werk. Es wurde posthum veröffentlicht und gilt als eine Fortführung der Bekenntnisse.2 Der Text, der einen autobiografischen Charakter aufweist und von einem erzählten Subjekt namens Rousseau handelt, zählt zu den berühmtesten Spaziergängertexten. Er gliedert sich in insgesamt zehn Abschnitte, die als nacherzählte Spaziergänge inszeniert sind. Jeder dieser Abschnitte behandelt ein eigenes Thema, jedoch lassen sich außer dem Spazierengehen sowie Reflexionen bezüglich des Schreibprozesses zusätzliche textübergreifende Motive, wie das Erleiden von physischer und psychischer Gewalt durch die Außenwelt oder permanent empfundene Einsamkeit erkennen. Ein weiteres Kernelement des Textes bildet das Erfahren von Muße, durch die der Erzähler Momente der Glückseligkeit durchlebt.
Der für die vorliegende Arbeit zentrale fünfte Spaziergang, in dem das erzählte Ich von seinem zweimonatigen Aufenthalt auf der Petersinsel im Bieler See berichtet, stellt im Bereich der Rousseau-Forschung eine der meist untersuchten Passagen dar. Sennefelder hebt hervor, dass diese „fast als eine ,Anleitungʻ [Hervorh. im Original] zur Muße gelten [kann]“3, wobei sie den Begriff der Muße mit dem der ,rêverieʻ gleichsetzt.4
In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, wie die Übergänge, die das erzählte Subjekt vollzieht, um in einen solchen Mußezustand zu gelangen, literarisch übersetzt werden. Für die folgende Analyse soll deshalb zunächst der Begriff der Transgression erläutert werden sowie die Methode dargelegt werden, durch die textspezifische Strukturen aufgedeckt werden sollen. In einem dritten Abschnitt werden einzelne Textstellen untersucht, in denen es zu liminalen Ereignissen kommt. Hierfür sind vor allem die Bedingungen für eine solche Übertretung sowie die räumlichen und zeitlichen Oppositionen der jeweiligen semantischen Räume, in denen sich das Subjekt bewegt, von besonderem Interesse. In einem Resümee sollen abschließend die Ergebnisse reflektiert werden.
2. Untersuchungsgegenstand und Methode
Der Begriff Transgression impliziert das Vorhandensein verschiedener (kultureller) Räume sowie einer oder mehrerer Grenzen. Zudem benötigt es ein Subjekt, das die Handlung des Übertretens vollzieht. Bereits in der Antike beschäftigte man sich mit dem Phänomen des Übergangs. Heraklit zog das Konzept der Transgression zur Erklärung der Grundstruktur des Seins heran und auch später blieb die Transgression ein wichtiger Gegenstand philosophischer Überlegungen.5 Über die Philosophie fand der Begriff schließlich seinen Weg in literaturwissenschaftliche Reflexionen. Bekannt sind hier vor allem Juri M. Lotmans raumtheoretische Überlegungen, wobei die Grenze das zentrale Element seiner Theorien bildet. Weitere wichtige Elemente sind die Figur des Grenzgängers und der durch ihn initiierte Paradigmenwechsel sowie die Beschreibung semantischer Räume.6
In der Literatur können Transgressionen in den unterschiedlichsten Kontexten Erwähnung finden. Auch in den Träumereien werden verschiedene Formen von Grenzüberschreitungen dargestellt, die durch den Erzähler vollzogen werden. In der Einleitung des fünften Spaziergangs erfährt der Rezipient, dass das erzählte Ich u. a. aufgrund normativer Übertretungen seinen Wohnort in Môtiers verlassen muss, da sein Verhalten von einigen Dorfbewohnern durch physische Angriffe sanktioniert wurde. Um zu seinem neuen Fluchtort, der Petersinsel zu gelangen, wird eine weitere Grenze überschritten, diesmal eine lokale. Die für diese Arbeit zentralen transgressiven Momente finden auf der Petersinsel selbst statt und beziehen sich vielmehr auf mentale Prozesse, die in dem erzählten Subjekt Zustände vollkommener Muße auslösen.
Da es in der vorliegenden Arbeit um die Gegenüberstellung semantischer Räume und deren Möglichkeiten zur Überschreitung geht, soll in Anlehnung an Lotman mit einer raumsemantischen Interpretation gearbeitet werden. Diese soll dazu beitragen, die poetischen Verfahren aufzudecken, die Rousseaus letztes Werk organisieren.
[...]
1 Alle folgenden Zitate stammen aus: Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Übersetzt von Ulrich Bossier. Stuttgart 2003. Im Folgenden zitiert als: RTS.
2 Vgl. Thomas Koebner: Versuch über den literarischen Spaziergang. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche. Festschrift für Rainer Gruenter, Heidelberg 1988. S 47.
Obwohl die Forschung mehrheitlich diese Auffassung vertritt, gibt es hier auch Gegenstimmen. Die Literaturwissenschaftlerin Claudia Albes merkt an, dass „[…] der Erzählgestus dieser beiden Texte zu unterschiedlich [ist], als daß man die Rêveries einfach für eine Fortsetzung der berühmten Autobiographie halten dürfte.“ Claudia Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Basel 1999. S. 16.
3 Anna Karina Sennefelder: Rückzugsorte des Erzählens. Muße als Modus autobiographischer Selbstreflexion. In: E. Cheauré et. al. (Hg.), Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße, Bd. 7. Tübingen 2018. S. 63. (zugleich Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., 2017). Im Folgenden zitiert als: Sennefelder Rückzugsorte.
4 Ebd. S. 2.
5 Vgl. Peter Brandes und Michaela Krug: Übergänge. Lektüren zur Ästhetik der Transgression. In: K. Hickethier (Hg.), Literatur – Sprache – Medien, Bd. 3. Münster 2003. S. 7.
6 Vgl. Michael C. Frank: Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: W. Hallet; B. Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur: Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn., Bielefeld 2009. S. 67.