In Art. 45 Abs. 1 AEUV wird festgehalten, dass in der Europäischen Union die Freizügigkeit von Arbeitnehmern gilt. Doch was bedeutet dies rechtstatsächlich für europäische Arbeitnehmer? Die Frage ist von großer praktischer Relevanz, arbeiteten schließlich im Jahr 2020 6,4 Millionen Bürger der Europäischen Union ab 15 Jahren in einem anderen EU-Land, ohne die dortige Staatsbürgerschaft zu besitzen.
Angesichts der sich aufwerfenden mannigfaltigen Fragestellungen versucht diese Arbeit einerseits, einen Grobumriss der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu zeichnen. Schwerpunktmäßig wird dabei hinterfragt, ob bezüglich der zentralen Merkmale wie der Arbeitnehmereigenschaft Rechtsklarheit besteht oder gar gesetzgeberischer Handlungsbedarf gegeben sein könnte. Abschließend erfolgt eine Betrachtung der dogmatischen Begründbarkeit von Übergangsregelungen, wie sie aus der EU-Osterweiterung bekannt sind.
I. Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Hintergrund, Funktion und Rechtsquellen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
C. Art. 45 AEUV
I. Arbeitnehmerbegriff
1. Auslegungskriterien des EuGHs
2. Definition
a. wirtschaftliche Leistung
b. unselbstständige Ausübung
c. Vergütung als Gegenleistung
3. Bereichsausnahme des Art. 45 Abs. 4 AEUV
4. Stellungnahme: Normierung des Arbeitnehmerbegriffs?
II. Gewährleistungsgehalt und Konkretisierung durch VO 492/2011
IV. Eingriffe in Art. 45 AEUV
1. Unmittelbare und versteckte Diskriminierungen
2. Sonstige Beschränkung
3. Stellungnahme: Übertragung der Keck-Rechtsprechung?
IV. Rechtfertigung
D. Exkurs: Übergangsregelungen – dogmatisch tragfähig?
E. Fazit
II. Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Einleitung
„Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet“ heißt es primärrechtlich in Art. 45 Abs. 1 AEUV.1 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) „stellt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer einen der fundamentalen Grundsätze der Gemeinschaft dar.“ 2
Doch was bedeutet dies rechtstatsächlich für europäische Arbeitnehmer? Die Frage ist von großer praktischer Relevanz, arbeiteten schließlich im Jahr 2020 6,4 Millionen Bürger der Europäischen Union (im Folgenden: EU) ab 15 Jahren in einem anderen EU-Land, ohne die dortige Staatsbürgerschaft zu besitzen.3 Angesichts der sich aufwerfenden mannigfaltigen Fragestellungen versucht diese Arbeit einerseits, einen Grobumriss der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu zeichnen. Schwerpunktmäßig soll dabei hinterfragt werden, ob bezüglich der zentralen Merkmale wie der Arbeitnehmereigenschaft Rechtsklarheit besteht, oder gar gesetzgeberischer Handlungsbedarf gegeben sein könnte. Abschließend erfolgt eine Betrachtung der dogmatischen Begründbarkeit von Übergangsregelungen, wie sie aus der EU-Osterweiterung bekannt sind.
B. Hintergrund, Funktion und Rechtsquellen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Die zentrale Norm im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist die Grundfreiheit des Art. 45 AEUV. Sie ersetzt seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 die vormalige Regelung des Art. 39 des EG-Vertrags, die wiederrum die erstmalige Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 48 des 1957 unterzeichneten EWG-Vertrags ersetzte.
Grundsätzlicher Zweck der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist es, dem wirtschaftlichen Hauptziel der Europäischen Union zu dienen, d.h. der Verwirklichung des Binnenmarktes ohne Grenzen (vgl. Art. 3 ff., Art. 2 ff. AEUV). Hindernisse für den freien Personenverkehr sollen beseitigt werden.4 EU-Arbeitnehmern wird ermöglicht, ihren Arbeitsplatz im gesamten Gebiet der Union frei zu wählen.5 Schlussendlich geht es um die Gewährleistung der Mobilität des „Produktionsfaktors Arbeit“ im Binnenmarkt.6
Ursprünglich war die Freizügigkeit nur bei wirtschaftlicher Betätigung gesichert und stellte somit ein exklusives Recht dar. Folglich lag in der Freizügigkeit als solcher die zunächst größte Bedeutung des Art. 45 AEUV. Dies änderte sich entscheidend infolge der Diskussion um das sog. „Europa der Bürger“, die im Vertrag von Maastricht zur Vorgängerregelung des heutigen Art. 21 AEUV und damit dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht führte.7 Zwar ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit lex specialis zu Art. 21 AEUV. Dennoch ist ein Bedeutungswandel eingetreten, der in dieser Arbeit näher beleuchtet werden soll.
Neben Art. 45 AEUV wird die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auf Grundlage von Art. 46 und 48 AEUV sekundärrechtlich ausgestaltet. Vorliegend von Interesse ist die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Union (im Folgenden: „VO 492/2011“). Diese ersetzte die bis dahin geltende VO (EWG) Nr. 1612/68 vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union. Sie erfüllt den Zweck, die in Art. 45 Abs. 3 lit. a-d und Art. 46 AEUV formulierten Ziele umzusetzen.8 Hintergrund des Verordnungserlasses war es, dass Art. 45 AEUV grundsätzlich nur die Vereinbarkeit einer Maßnahme mit dem Unionsrechts regelt (sog. negative Integrationsfunktion). Eine Detailsteuerung hingegen ist durch Sekundärrecht möglich.9
Art. 45 AEUV ist unmittelbar anwendbar und begründet Individualrechte, die vor den Gerichten eines Mitgliedstaates geltend gemacht werden können.10 Uneinigkeit besteht darüber, ob es sich bei Art. 45 AEUV um ein Grundrecht handelt. Überwiegend wird dies in der Literatur verneint.11 Art. 45 AEUV sei im vertraglichen Kontext zu betrachten, was bedeute, dass die Gewährleistung des Binnenmarktes ohne Grenzen normprägend sei. Eine Grundrechtsgarantie sei darin nicht zu sehen, zumal EU-Grundrechte gegenüber der Union, Art. 45 AEUV aber in erster Linie gegenüber den Mitgliedstaaten wirke.12
So zutreffend dies ist, hilft es m.E. nicht darüber hinweg, dass der EuGH selbst urteilte, dass der „freie Zugang zur Beschäftigung […] ein Grundrecht“ sei.13 Auch sieht der 4. Erwägungsgrund der VO 492/2011 vor: „Die Freizügigkeit ist ein Grundrecht der Arbeitnehmer […].“ Überdies ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 15 Abs. 2 der Grundrechte-Charta normiert. Diese hat gem. Art. 6 Abs. 1 EUV primärrechtsrang, geht in ihrem Gehalt aber nicht über den des AEUV hinaus, vgl. Art. 52 Abs. 2 Grundrechte-Charta.14
C. Art. 45 AEUV
Aus Gründen der Vollständigkeit sei kurz festgehalten, dass Voraussetzung der Anwendbarkeit von Art. 45 AEUV – wie im Falle der übrigen Grundfreiheiten - das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts ist.15 Vom Schutzbereich umfasst können nach Auffassung des EuGHs überdies neben Arbeitnehmern auch Arbeitgeber, Stellenbewerber (vgl. Art. 45 Abs. 3 lit. a) AEUV) und private Arbeitsvermittler sein.16 Teils wird in der Literatur vertreten, auch Familienangehörige direkt in den Schutzbereich einzubeziehen.17 Im Folgenden sollen ausschließlich Arbeitnehmer behandelt werden.
Der grenzüberschreitende Anknüpfungspunkt umfasst sowohl Zuzugsfälle, als auch Grenzgängersituationen des Pendelns.18 Ebenfalls Gegenstand des Art. 45 AEUV sind Wegzugskonstellationen.19 Wie in der Dogmatik der Grundfreiheiten allgemein anerkannt, sind Inländerdiskriminierungen zulässig.20 Von diesen abzugrenzen sind Fälle, in denen ein Staat seinen eigenen Staatsangehörigen die Anerkennung in einem anderen Mitgliedstaat erworbener beruflicher Qualifikationen versagt.21
I. Arbeitnehmerbegriff
Zentrale Voraussetzung der Anwendbarkeit des Art. 45 AEUV ist die Arbeitnehmereigenschaft. Diese besteht unabhängig davon, ob der Wohnsitz innerhalb der EU liegt.22 Insofern mag es verwundern, dass sich weder primär-, noch sekundärrechtlich eine Definition des Arbeitnehmerbegriffs findet. Aus der VO 492/2011 ergeben sich lediglich Anhaltspunkte. So sieht Art. 1 Abs. 1 eine „Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis“ vor. Der 5. Erwägungsgrund führt aus, dass „Dauerarbeitnehmer, Saisonarbeiter, Grenzarbeiter, oder Arbeitnehmer […] die ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit einer Dienstleistung ausüben“ von der Arbeitnehmerfreizügigkeit erfasst sein „soll“ [en]. Infolgedessen obliegt die Konkretisierung der Arbeitnehmereigenschaft (weiterhin) der Judikatur des EuGHs.23 Dieser hat in den letzten Jahrzehnten Auslegungsmaßstäbe aufgestellt und eine wiederkehrende Definition des Arbeitnehmerbegriffs entwickelt.24 Beide sollen im Folgenden aufgezeigt und kritisch beleuchtet werden.
1. Auslegungskriterien des EuGHs
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGHs ist der Begriff des Arbeitnehmers unionsrechtsautonom und unionseinheitlich zu verstehen.25 Die Notwendigkeit eines autonomen Verständnisses mag aufgrund der Tatsache, dass das Unionsrecht eine eigenständige Rechtsordnung bildet, selbstverständlich wirken.26 Da die jeweiligen Nationalstaaten eigene Arbeitnehmerbegriffe kennen (vgl. § 611a Abs. 1 BGB), ist die Differenzierung aber zwingend. Betrachtet man die Judikatur des EuGHs im Einzelnen, stellt man dennoch fest, dass das „autonome“ Verständnis nicht trennscharf vollzogen wird.27 Das Verhältnis von autonomen europarechtlichen Arbeitnehmerbegriffs zur nationalen Begriffsbestimmung zeigt sich u.a. in dem Umgang mit sog. sittenwidrigen Tätigkeiten.28 So kann - überzeugenderweise - ein Mitgliedstaat nicht mittels nationaler Verbotsgesetze bestimmte Tätigkeiten dem Schutz des Art. 45 AEUV entziehen.29 Das Merkmal der Einheitlichkeit des Arbeitnehmerbegriffs suggeriert auf den ersten Blick eine nicht zutreffende Absolutheit. So setzen die Verordnungen 883/2004 und 987/2009 unstreitig einen anderen Arbeitnehmerbegriff als den des Art. 45 AEUV voraus.30 Dies ist m.E. unter dogmatischen Gesichtspunkten problematisch. Das gilt zum einen in Hinblick auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung.
[...]
1 Sofern im Folgenden das Maskulinum verwendet wird, geschieht dies aus Gründen der Vereinfachung und Orientierung an der Gesetzessprache.
2 Statt vieler: EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, C-415/93, juris Rn. 93 – Bosman .
3 www.destatis.de.
4 Brechmann , Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Rn. 1.
5 Franzen , Streinz EUV/ AEUV, Art. 45 AEUV Rn. 1.
6 Nettesheim , Oppermann/Classen/Nettesheim, § 27 Rn. 1.
7 Steiger , EuR 2018, S. 307-308.
8 Khan/ Wessendorf , Geiger/ Khan/ Kotzur, Art. 46 AEUV Rn. 7.
9 Haratsch/ Koenig/ Pechstein , Rn. 841.
10 EuGH, Urteil vom 04.12.1974, C 41/74, juris Rn. 15 – van Duyn .
11 Statt vieler: Steinmeyer , EuArbR, Art. 45 AEUV Rn. 2.
12 Franzen , Streinz EUV/AEUV, Art. 45 AEUV Rn. 4.
13 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, C-415/93, juris Rn. 129 – Bosman . Angesichts dessen, dass es sich um eine zentrale Leitentscheidung handelt, vermag die Ansicht von Franzen , der insoweit von einer „unbeachtlichen Ausnahme“ spricht, nicht zu überzeugen, vgl. Franzen , Streinz EUV/AEUV, Art. 45 AEUV Rn. 4.
14 Kadelbach , Wollenschläger, S. 200.
15 Wienbracke , EuR 2012, S. 495.
16 Vgl. EuGH, Urteil vom 11.01.2007, C-208/05, juris, Rn. 1 f. – ITC .
17 Wienbracke , EuR 2012, S. 494.
18 Haratsch, Koenig, Pechstein , Rn. 936.
19 Näher dazu: EuGH, Urteil vom 16. März 2010, C-325/08, juris Rn. 1 ff. – Olympique Lyonnais.
20 Haratsch, Koenig, Pechstein , Rn. 936.
21 EuGH, Rs. C-19/92, Slg. 1993, S. I-1663, Rn. 16, 32 - Kraus .
22 Siehe auch Art. 1 Abs. 1 VO 492/2011.
23 Rebhahn , EuZA 2012, S. 4.
24 Vgl. Wank , EuZA 2018, S. 340.
25 Vgl. bereits zu Art. 39 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG): EuGH, Urteil vom 19.3.1964, C-75/63, juris – Unger .
26 Becker, Ehlers, § 9 Rn. 5.
27 Haratsch/ Koenig/ Pechstein , Rn. 933 m.w.N.
28 Wienbracke , EuR 2012, S. 491.
29 Wienbracke , a.a.O.
30 Kocher, Frankfurter Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 10.