Die wachsenden Stimmenanteile bei Kommunal- und Landtagswahlen und neue Forschungsergebnisse sind Anlass genug, das Phänomen der Wählergemeinschaft im Allgemeinen und die Freien Wähler im Besonderen in den Blick zu nehmen. Dafür soll sowohl die rechtliche Stellung als auch ein Definitionsversuch herausgearbeitet werden, der über eine bloße negative Abgrenzung gegenüber den politischen Parteien hinausgeht. Was unterscheidet die Wählergemeinschaft vom lokalen Ortsverband einer politischen Partei?
In der Folge soll sich eine eingehende Analyse der Freien Wähler anschließen: Die wohl prominenteste Wählergemeinschaft hat sich schon früh vom kommunalen Parkett auf die Landesebene gewagt, partizipiert flächendeckend an Landtagswahlen, ist Teil der Regierungskoalition in Bayern und stellt zwei Abgeordnete im Europäischen Parlament. Die Anti-Parteien-Rhetorik ist zwar Teil ihrer DNS, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freien Wähler mittlerweile eine Stellung eingenommen haben, die vieler Parteien nicht unähnlich scheint. Kann das Etikett der Wählergemeinschaft für die Freien Wähler noch gelten oder zählen sie schon zu den politischen Parteien? Die vorliegende Arbeit soll diese Frage umfassend beantworten und dabei zugleich den aktuellen Stand der politikwissenschaftlichen Forschung darstellen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Rechtliche Stellung von Parteien und Wählergemeinschaften
3. Abgrenzung und Begriffsdefinitionen
4. Typologie lokalpolitischer Gruppen
5. Die Freien Wähler – im Niemandsland zwischen Wählergemeinschaft und Partei?
5.1 Entstehung und Entwicklung
5.2 Die Freien Wähle r bei überregionalen Wahlen
6. Die Parteiwerdung der Freien Wähler : zwischen Selbstbildnis und Realität
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Einführung
„Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung und keine sozialistischen Bedürfnisanstalten“ schreibt der deutsche Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg 1959 in einem Beitrag für DIE ZEIT.0F0F1 Bis heute hält sich die Idealvorstellung von einer ideologiefreien Kommunalpolitik, innerhalb derer die lokalen Ableger der Parteien aber ihre ideologischen Grabenkämpfe ausfechten und so eine effiziente Politik im Sinne der Bürger untergraben. Die Lösung der „Problematik“ haben Verfechter dieser These schnell zur Hand: Wählergemeinschaften und „Parteifreie“ wie die Freien Wähler. In Abgrenzung zu den etablierten Parteien sollen sie für eine rein „sachbezogene“ und „bürgernahe“ Arbeit im örtlichen Stadt- oder Gemeinderat sorgen. Örtlich auftretende Probleme sollten am besten „sachlich“ von ehrenamtlich Engagierten, in der Kommune verwurzelten und bekannten Persönlichkeiten gelöst werden.1F1F2
Unabhängig davon, ob diese These der Realität entsprechen mag oder nicht, lassen sich zumindest die Erfolge der Wählergemeinschaften nicht leugnen: Mittlerweile sind sie in mehr als 80 Prozent aller deutschen Kommunen präsent, teils mit hohen Stimmenanteilen.2F2F3 Getreu der Devise „Großes entsteht immer im Kleinen“ gelang es den Freien Wählern in der jüngeren Vergangenheit auch bei überregionalen Wahlen zu reüssieren und einen beachtlichen Stimmenzuwachs zu verzeichnen. Allen Wählergemeinschaften gemein ist in aller Regel der Verweis auf eine Unabhängigkeit von der gängigen Parteienlandschaft, sie präsentieren sich im demokratischen Wettbewerb als Alternative zu den Parteien.3F3F4
Zwar spielen in der Bundesrepublik Deutschland die politischen Parteien eine zentrale Rolle im Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Nicht umsonst bezeichnet man demokratische Regierungssysteme wie das der Bundesrepublik auch als Parteiendemokratie.4F4F5 Allerdings stehen die Parteien schon seit Gründung der Bundesrepublik in einem Wettbewerb mit Wählergemeinschaften, einer anderen Organisationsform bürgerlichen Engagements, die sich bewusst von politischen Parteien abgrenzen möchte. Vor allem auf kommunaler Ebene konkurrieren Wählergemeinschaften um die politische Macht und gehören seit Jahrzehnten zum politischen Inventar der Bundesrepublik Deutschland.5F5F6 Mit den Freien Wählern haben sie es geschafft, in mittlerweile drei Landtage einzuziehen, in Bayern sind sie zusätzlich an der Landesregierung beteiligt. Auch in den neuen Bundesländern konnten sie sich schnell etablieren und nicht unerhebliche Erfolge erzielen.6F6F7
Die wachsenden Stimmenanteile bei Kommunal- und Landtagswahlen und neue Forschungsergebnisse sind Anlass genug, das Phänomen der Wählergemeinschaft im Allgemeinen und die Freien Wähler im Besonderen in den Blick zu nehmen. Dafür soll sowohl die rechtliche Stellung als auch ein Definitionsversuch herausgearbeitet werden, der über eine bloße negative Abgrenzung gegenüber den politischen Parteien hinausgeht. Was unterscheidet die Wählergemeinschaft vom lokalen Ortsverband einer politischen Partei?
In der Folge soll sich eine eingehende Analyse der Freien Wähler anschließen: Die wohl prominenteste Wählergemeinschaft hat sich schon früh vom kommunalen Parkett auf die Landesebene gewagt, partizipiert flächendeckend an Landtagswahlen, ist Teil der Regierungskoalition in Bayern und stellt zwei Abgeordnete im europäischen Parlament. Die Anti-Parteien-Rhetorik ist zwar Teil ihrer DNS, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freien Wähler mittlerweile eine Stellung eingenommen haben, die vieler Parteien nicht unähnlich scheint. Kann das Etikett der Wählergemeinschaft für die Freien Wähler noch gelten oder zählen sie schon zu den politischen Parteien? Die vorliegende Arbeit soll diese Frage umfassend beantworten und dabei zugleich den aktuellen Stand der politikwissenschaftlichen Forschung darstellen.
2. Rechtliche Stellung von Parteien und Wählergemeinschaften
Für die deutsche Parteienlandschaft existieren eindeutige gesetzliche Grundlagen. Schon bei Staatsgründung 1949 heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft ablegen.“7F7F8 In Artikel 21, Abs. 5 GG wird auf Bundesgesetze verwiesen, die „Näheres regeln“ sollen8F8F9 – seit 1967 gibt es das „Gesetz über die politischen Parteien“, welches die genauen Abläufe innerhalb der Parteien festlegen soll. Für Wählergemeinschaften fehlt eine solch eindeutige Beschreibung und Legaldefinition.
Eine rudimentäre rechtliche Einordnung ist aber über einen Blick in das Grund- und Vereinsgesetz möglich. In Art. 9, Abs. 1 GG heißt es: „(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“9F9F10 Im Vereinsgesetz § 2, Abs. 1 ist die Rede von Vereinen als „[…] jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“10F10F11 Daraus lässt sich ableiten, dass „abgesehen von politischen Parteien im Sinne des Artikel 21 des Grundgesetzes“ und „Fraktionen des deutschen Bundestages und der Parlamente der Länder“ […] somit „Artikel 9 des Grundgesetzes in Verbindung mit Paragraph 2 des Vereinsgesetzes für alle Menschen [gilt], die sich, unabhängig des Zweckes, zusammenschließen und demzufolge eine Vereinigung bilden.“11F11F12
Offen bleibt, wie der „Zweck“ der Vereinigung genau auszusehen hat. Gramm und Pieper schreiben in ihrem Bürgerkommentar zum Grundgesetz: „Auf die Zwecke, die eine Vereinigung erfolgt, kommt es aus der Sicht des Art. 9 Abs. 1 GG dagegen nicht an. Die Verfolgung politischer […] oder sonstiger Zwecke ist gleichermaßen zulässig.“12F12F13 Ergo sind auch alle Wählergemeinschaften vom Grundgesetz erfasst, solange ihr Zweck es ist, durch Bildung einer Vereinigung politische Ziele zu verfolgen.13F13F14
3. Abgrenzung und Begriffsdefinitionen
Dieser grundlegenden rechtlichen Einordnung soll nun der Versuch folgen, eine allgemeingültige Definition für den Begriff der Wählergemeinschaf t aufzustellen. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass im weiten Feld der bürgerlichen Organisationsformen abseits des Parteienspektrums nicht nur Wählergemeinschaften existieren. Neben diesen gehören die Bürgerinitiativen und die Wählergruppen zu den verbreitetsten Organisationsformen.
Unter einer Bürgerinitiative versteht man „spezielle Ausdrucksform[en] der unmittelbaren und selbstorganisierten bürgerschaftlichen Einmischung in den repräsentativ-demokratisch verfassten politischen Prozess.“14F14F15 In Abgrenzung zu Parteien oder auch Wählergemeinschaften „verkörpern sie spontan ins Leben gerufene, relativ kurzlebige, thematisch punktuelle, räumlich begrenzte und locker organisierte Zusammenschlüsse Betroffener.“15F15F16 Der wesentliche Unterschied zu Wählergemeinschaften liegt jedoch darin, dass Bürgerinitiativen von außen auf den politischen Prozess einwirken, nicht an (Kommunal-)Wahlen teilnehmen und keine eigenen Mandatsträger in die politischen Gremien entsenden.16F16F17
Für die Wählergruppe existiert eine Legaldefinition. So heißt es in § 15 Abs. 1 Satz 2 KWahlG NW: „Wahlvorschläge können […] von mitgliedschaftlich organisierten Gruppen von Wahlberechtigten (Wählergruppen) […] eingereicht werden.“17F17F18 Diese Legaldefinition eignet sich allerdings kaum zur Abgrenzung von Wählergemeinschaften, denn auch diese sind sicherlich „mitgliedschaftlich organisierte Gruppen von Wahlberechtigten“. Thomas Möller definiert Wählergruppen deutlich spezifischer: „Unter Wählergruppen könnte man auch Unterschriftengemeinden verstehen, Personenkreise also, die sich anläßlich einer bevorstehenden Kommunalwahl zusammenfinden, um Wahlvorschläge aufzustellen, und die sich nach der Wahl – einerlei, ob mit dem eingereichten Wahlvorschlag erfolgreich oder nicht – wieder auflösen.“18F18F19
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1 Theodor Eschenburg, Eine Lanze für die "Rathausparteien". Ist ihr Verbot gerechtfertigt? – Das Zunftmonopol der "Politiker" (Abruf am 14. Januar 2022).
2 Vgl. Everhard Holtmann, Der Parteienstaat in Deutschland. Erklärungen, Entwicklungen, Erscheinungsbilder, Bonn 2017, S. 252.
3 Michael Angenendt, Politik abseits der Parteien. Wählergemeinschaften in Deutschland, Wiesbaden 2021, S. 2.
4 Michael Angenendt, Politik abseits der Parteien, a.a.O. (Fn. 3), S. 290.
5 Ludwig Watzal, Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, in: APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte (2007), 35-36, S. 2.
6 Vgl. Martin Morlok / Thomas Poguntke / Jens Walther (Hrsg.), Politik an den Parteien vorbei. Freie Wähler und kommunale Wählergemeinschaften als Alternative, Baden-Baden 2012, S. 9.
7 Vgl. Martin Morlok / Thomas Poguntke / Jens Walther (Hrsg.), Politik an den Parteien vorbei, a.a.O. (Fn. 6), S. 17.
8 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Vom 23.05.1949 (BGBl. I S. 1) in der Neufassung vom 29.09.2020 (BGBl. I S. 2048), Art. 21 Abs. 1
9 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Vom 23.05.1949 (BGBl. I S. 1) in der Neufassung vom 29.09.2020 (BGBl. I S. 2048), Art. 21 Abs. 5
10 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Vom 23.05.1949 (BGBl. I S. 1) in der Neufassung vom 29.09.2020 (BGBl. I S. 2048), Art. 9 Abs. 1
11 Vereinsgesetz (Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts): Vom 05.08.1964 (BGBl. I S.593) in der Neufassung vom 10.03.2017 (BGBl I S. 419)
12 Ingo Naumann, Wählergemeinschaften in einer Parteiendemokratie. Ihre Stellung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2012, S. 21.
13 Christof Gramm / Stefan Ulrich Pieper, Grundgesetz. Bürgerkommentar, Baden-Baden 2015, S. 135.
14 Ingo Naumann, Wählergemeinschaften in einer Parteiendemokratie, a.a.O. (Fn. 12), S. 21.
15 Elmar Wiesendahl, Bürgerinitiativen, in: Dieter Nohlen / Florian Grotz (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, München 2015, S. 70–71, S. 70.
16 Elmar Wiesendahl, Bürgerinitiativen, a.a.O. (Fn. 15), S. 70.
17 Ingo Naumann, Wählergemeinschaften in einer Parteiendemokratie, a.a.O. (Fn. 12), S. 45.
18 Gesetz über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen (Kommunalwahlgesetz) vom 15. August 1993 (GV. NW. S. 521) in der Neufassung vom 08.09.2015 (GV. NRW. S. 666)
19 Thomas Möller, Die kommunalen Wählergemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, München 1985, S. 42.