Wenn Eltern durch Krankheit, Unfall oder Suizid, plötzlichen Tod (z. B. Säuglingstod) oder unbekannte Todesursache (z. B. Gewaltverbrechen) ihr Kind verlieren, werden sie vor eine außerordentliche Situation gestellt. Der vorgeschriebene, gesellschaftlich genormte Lebensplan droht zu scheitern. In meiner Arbeit als Trauerbegleiterin für betroffene Familienangehörige konnte ich erfahren, dass es an ausreichenden Hilfsangeboten mangelt, um alle Facetten der Bewältigung des Verlustes und der Trauer abzudecken.
Um die Tragweite der Betroffenheit und der daraus entstehenden Bedürftigkeit zu erkennen, gehe ich am Anfang meiner Hausarbeit ausführlich auf den Begriff der Trauer, die Einordnung der Trauerarbeit und die Angebote für die Betroffenen ein.
Daraus erschließt sich, warum in der Trauerarbeit bei Verlust eines Kindes die Selbsthilfe eine wichtige Rolle spielt, um Lücken in den sozialen und gesellschaftlichen Angeboten schließen zu können. Ich will mit meiner Hausarbeit aufzeigen, wo sich die Schnittstellen zwischen den gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Selbsthilfearbeit befinden und sich damit die ehrenamtliche Arbeit in Selbsthilfegruppen als Teil der Trauerarbeit verstehen kann.
Es bedarf eines professionellen Umgangs mit den Betroffenen, um deren Lebenswelt zu verstehen, daraus einen begrenzten Plan der Hilfe zur Selbsthilfe in den Selbsthilfegruppen zu entwickeln, individuelle Hilfsangebote anzubieten und dadurch eine Begleitung in der Trauer darzustellen. Die Aussagen der betroffenen Familienangehörigen, werden abschließend an Beispielen zeigen, wie sie sich in der Betreuung durch Selbsthilfegruppen in ihrer Trauer aufgenommen und mitgenommen fühlen.
Diese Hausarbeit kann jedoch nicht den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen, sondern ein Beitrag zur Diskussion leisten, wie man in der Gesellschaft das Thema Trauer diskutiert und mit Betroffenen umzugehen weiß. Dabei sollte das ehrenamtliche Engagement in der Selbsthilfe eine wichtige und begleitende Funktion ausüben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Trauerarbeit im begrifflichen und historischen Verständnis
1.1 Begriffsbestimmung Trauer
1.2 Trauerarbeit
1.3 Hilfsangebote für Menschen in der Trauer
2 Zur Bedeutung der Selbsthilfe am Beispiel des VEID
2.1 Begriffserklärung Selbsthilfe
2.2 Grundlagen der Trauerbegleitung im VEID
2.3 Anforderungen an eine ehrenamtliche Trauerbegleitung
2.4 Selbsthilfe in der Praxis –Menschen nehmen Hilfe in der Trauer an
3 Schlussbemerkung/Zusammenfassung
Literaturliste
Einleitung
Wenn Eltern durch Krankheit, Unfall oder Suizid, plötzlichen Tod (z. B. Säuglingstod) oder unbekannte Todesursache (z. B. Gewaltverbrechen) ihr Kind verlieren, werden sie vor eine außerordentliche Situation gestellt. Der vorgeschriebene, gesellschaftlich genormte Lebensplan droht zu scheitern. In meiner Arbeit als Trauerbegleiterin für betroffene Familienangehörige konnte ich erfahren, dass es an ausreichenden Hilfsangeboten mangelt, um alle Facetten der Bewältigung des Verlustes und der Trauer abzudecken.
Um die Tragweite der Betroffenheit und der daraus entstehenden Bedürftigkeit zu erkennen, gehe ich am Anfang meiner Hausarbeit ausführlich auf den Begriff der Trauer, die Einordnung der Trauerarbeit und die Angebote für die Betroffenen ein.
Daraus erschließt sich, warum in der Trauerarbeit bei Verlust eines Kindes die Selbsthilfe eine wichtige Rolle spielt, um Lücken in den sozialen und gesellschaftlichen Angeboten schließen zu können. Ich will mit meiner Hausarbeit aufzeigen, wo sich die Schnittstellen zwischen den gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Selbsthilfearbeit befinden und sich damit die ehrenamtliche Arbeit in Selbsthilfegruppen als Teil der Trauerarbeit verstehen kann.
Es bedarf eines professionellen Umgangs mit den Betroffenen, um deren Lebenswelt zu verstehen, daraus einen begrenzten Plan der Hilfe zur Selbsthilfe in den Selbsthilfegruppen zu entwickeln, individuelle Hilfsangebote anzubieten und dadurch eine Begleitung in der Trauer darzustellen. Die Aussagen der betroffenen Familienangehörigen, werden abschließend an Beispielen zeigen, wie sie sich in der Betreuung durch Selbsthilfegruppen in ihrer Trauer aufgenommen und mitgenommen fühlen.
Diese Hausarbeit kann jedoch nicht den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen, sondern ein Beitrag zur Diskussion leisten, wie man in der Gesellschaft das Thema Trauer diskutiert und mit Betroffenen umzugehen weiß. Dabei sollte das ehrenamtliche Engagement in der Selbsthilfe eine wichtige und begleitende Funktion ausüben.
1 Trauerarbeit im begrifflichen und historischen Verständnis
„Bedenkt, den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben. “1
1.1 Begriffsbestimmung Trauer
„Trauer ist eine Verlusterfahrung, im Großen, beim Tod eines mir nahestehenden Menschen oder einer schmerzhaften Trennung, wie im Kleinen, dem Zerbrechen meiner Lieblingstasse.“2
Es gibt verschiedene Ansätze der Begriffsbestimmung für die Trauer. So kann man an die Definition der Trauer aus einer rein medizinischen Sicht herangehen. Und auch hier tauchen verschiedene Definitionen auf. Sigmund Freud beschreibt die Trauer in seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie“ und führt damit 1916 den Begriff in die Psychoanalyse ein: „Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“3 Für Freud ist die Trauer ein „Affektzustand“4. „Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten ablösen.“5 Freud reduziert die Trauer in seinen Schriften auf die Psychoanalyse. Was zu seiner Zeit aber schon einen Fortschritt in der Begriffsbestimmung bedeutete.
Eine weitergehende Betrachtung hat die moderne Wissenschaft herausgearbeitet: „Unter Trauer allgemein werden Reaktionen auf einen schmerzlichen Verlust oder auf Trennung von engen Bindungen verstanden: soziale Bezüge (geliebte Menschen oder auch Tiere), materielle Dinge (Eigenheim, Vermögen, Arbeitsplatz), ideelle Werte (Heimat, Vertrauen) ebenso wie Gesundheit, berufliche Karriere u. a. m. Es geht um Verluste sowohl an das Leben als auch an den Tod. Wobei die Verluste an den Tod in der Regel schwieriger zu bearbeiten sind, da die Endgültigkeit, das Irreversible, oft schwerer zu begreifen ist.“6
Georg A. Bonanno fasst den Begriff Trauer wie folgt zusammen: „Trauer ist ein komplexer, in unterschiedlicher Intensität und Dauer ablaufender Prozess, der das ‚Leibsubjekt‘, d. h. den Menschen als ‚Ganzen‘, in seinen biologisch-physiologischen, psychologisch emotionalen, kognitiv-geistigen und sozial-kulturellen Dimensionen betrifft. Er tritt in der Regel auf Grund von Verlusten von persönlich bedeutungsvollen Menschen und materiellen und ideellen Gütern ein, Werten, mit denen man verbunden war, und die verloren oder beschädigt wurden, so dass eine Trennung erfolgte oder Sinnfolien zerfallen […]. Trauer ist nicht nur ein Gefühl, sondern ein Synergem vielschichtigen Erlebens und Verhaltens. Sie ist maßgeblich bestimmt von Lebensalter, Lebenserfahrung, Gender und sozialen Regeln, ‚kollektiven mentalen Repräsentationen‘ […], z. B. religiöser oder weltanschaulicher Art, die in den ‚subjektiven mentalen Repräsentationen‘ […] Niederschlag finden. In ihrer emotionalen Dimension kann Trauer ein Spektrum von Empfindungen und Gefühlen umfassen (Betroffenheit, Schmerz, Leid, Gram, Verzweiflung, Empörung, Wut, Bitterkeit, Ergebenheit, Trost, Versöhntheit, Gelassenheit, Heiterkeit, Freude); in ihrer kognitiven Dimension eröffnet Trauer ein weites Feld von Gedanken und Überlegungen (Suche nach Zusammenhängen, Erklärungen, Ursachen, Blick auf Folgen, Konsequenzen, Versuche des Verstehens und des Herstellens von Sinnhaftigkeit oder der Absage an Erklärungen und Sinn usw.); in ihrer sozialen Dimension kann Trauer vielfältige Formen zeigen (gemeinsames Trauern, Trösten, Erzählen, Rituale, normative Verpflichtungen, Hilfeleistungen, Unterstützung, gemeinschaftliche Überwindungsarbeit usw.); in der physiologischen Dimension ist Trauer mit spezifischen Erregungs- und Stressreaktionen oder auch mit Beruhigungs- und Entlastungsreaktionen verbunden, abhängig von den aktuellen Kontextbedingungen und den vorgängigen Verlust-, Trauer-, Trost- und Überwindungserfahrungen. […]“7
Das erscheint eine der umfassendsten Definitionen von Trauer zu sein, aber nicht die einzige. Je nach Betrachtungswinkel und historisch gesellschaftlichem Kontext hat sich der Trauerbegriff in der Entwicklung der Menschen sehr gewandelt. So gibt es bis heute kulturelle und geografische Unterschiede. Doch die Trauerforschung gewinnt immer mehr an Bedeutung. So unterscheidet die psychologische Psychotherapeutin Birgit Wagner die Trauer in normale und komplizierte Trauer.8 Die Trauerforschung trägt zudem dazu bei, dass die Trauer als schweres psychisches Ereignis anerkannt und somit als eigenständiges Krankheitsbild aufgenommen wird.
1.2 Trauerarbeit
„Die Trauer lieb es vielmehr, sich mit dem Verstorbenen zu beschäftigen, sein Andenken auszuarbeiten und für möglichst lange Zeit zu erhalten.“9
Wenn, wie Freud schreibt, die Trauer „ein langwieriger, allmählicher Prozess“10 ist, erschließt sich daraus, dass die Betroffenen auf ihrem Weg der Trauer eine Begleitung benötigen. In vielen Lebenssituationen, die eben von langer Dauer sind, reicht häufig nicht die Geduld und die Kraft, diese allein zu bewältigen. „Wenn ein trauriger Mensch niemanden finden sollte, an den er sich wenden kann und der ihm hilft, so wird seine Hoffnung gewiss geringer; sie muss aber nicht unbedingt ganz verschwinden. Sich ganz aus eigener Kraft wieder zu erholen, wird wesentlich schwieriger sein; es ist aber vielleicht nicht unmöglich. Das Gefühl seiner Kompetenz und seines persönlichen Wertes bleibt intakt.“11
Aus der Definition der Trauer heraus und diesem intakten Gefühl, wie es John Bowlby in seinem Buch „Verlust: Trauer und Depression“ beschreibt, haben sich verschiedene Modelle für die Herangehensweise in der Trauerarbeit entwickelt. Vordergründig geht es in der heutigen Gesellschaft darum, den trauernden Menschen einen Weg aufzuzeigen, mit ihrer Trauer umzugehen und eine Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Die Trauerarbeit in Deutschland bezieht sich auf verschiedene Modelle, die die Trauer in ihrer Prozesshaftigkeit betrachten. „Freud hat diesen innerphysischen Trauerprozess in vier Phasen eingeteilt:
1. Realisierung, dass das Objekt nicht mehr existiert;
2. Abziehen aller emotionalen Verknüpfungen und Erinnerungen an das verlorene Objekt;
3. Lösung der Libido von dem Objekt;
4. Wiederaufnahme und Zuwendung zu neuen Bindungen (Freud 1917, S. 198–199).“12
Ein anderes Phasenmodell von Kübler-Ross (1969) geht von fünf Phasen aus. „Dieses Modell wurde weithin später auch auf Trauernde übertragen […].
1. Nicht-wahr-haben-wollen und Isolierung
2. Zorn und Ärger
3. Verhandeln
4. Depression
5. Zustimmung.“13
John Bowlby bringt 1980 wie Freud ebenfalls ein vierstufiges Phasenmodell für die Trauer ein:
1. Phase der Betäubung
2. Sehnsucht und Suche nach der verstorbenen Person
3. Phase der Desorganisation und Verzweiflung
4. Phase der Reorganisation14
[...]
1 Koléko, Mascha: Memento. In Verse für Zeitgenossen. Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2020. S. 9
2 Frankenhäuser, Gerald: Carpe diem – Pflücke den Tag. Gerald Frankenhäuser. Leipzig Mai 2020. S. 136
3 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie. Gesamtausgabe. Band 16. 1917 – 1920. Psychosozial-Verlag, Gießen. 2020. S. 61 f.
4 Freud, Sigmund: Metapsychologische Ergänzung zur Traumalehre. Gesamtausgabe. Band 16. 1917 – 1920. Psychosozial-Verlag, Gießen. 2020. S. 45
5 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. BoD – Books on Demand, Norderstedt. Lunata Berlin 2021. Abschnitt 4
6 M. Thöns, T. Sitte (Hrsg.): Repetitorium Palliativmedizin, DOI 10.1007/978-3-662-49325-0_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016, Seite 196
7 Bonanno, Georg A.: Die andere Seite der Trauer. Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden. Edition Sirius im Aisthesis Verlag GmbH & Co. KG Bielefeld. 2012. S. 236
8 Vgl. Wagner, Birgit: Komplizierte Trauer, Grundlagen, Diagnostik und Therapie. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 2013
9 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. BoD – Books on Demand, Norderstedt. Lunata Berlin 2021. Abschnitt 3 c) Das Tabu der Toten.
10 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie. Gesamtausgabe. Band 16. 1917 – 1920. Psychosozial-Verlag, Gießen. 2020. S. 73
11 Bowlby, John: Verlust: Trauer und Depression John Bowlby. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH. Frankfurt am Main. Juli 1983. S. 318
12 Wagner, Birgit: Komplizierte Trauer, Grundlagen, Diagnostik und Therapie. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 2013. S. 5
13 Ebenda. S. 5 f.
14 Vgl. Ebenda. S. 6