Diese Arbeit kann nur einen kleinen Beitrag leisten, indem sie auf die grausamen Taten aufmerksam macht, die geschichtlichen Rahmenbedingungen beleuchtet, den wahren Grund des Tötens erläutert und die Taten hinter den verschlossenen Türen der „Kinderfachabteilungen“ schildert. In Gedenken an die zahlreiche, meist namentlich nicht bekannten, Opfer wurden beispielhaft Kinder ausgewählt, die alle im Zuge der sogenannte „Kindereuthanasie“ ihr Leben lassen mussten.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Eugenik und Euthanasie
2.1 Eugenik, Euthanasie und Darwinismus
2.2 Geschichtliche Entwicklung bis zum zweiten Weltkrieg
2.3 Eugenik und Euthanasie im Nationalsozialismus
3. Die systematische Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens
3.1 Bestimmungsmerkmale für die Entscheidung über Leben und Tod
3.1.1 Das Kind als zukünftige „Arbeitsmaschine“ und Genanlage
3.1.2 Der behinderte Mensch, eine Belastung für das Volk
3.2 „NS-Kinder- und Jugendlicheneuthanasie“
3.3 „Reichsausschusskinder“ und das Reichsausschussverfahren
3.3.1 Reichsausschussverfahren
3.3.2 Kinderfachabteilungen
4. Gedenken an die Kinder und Opfer
4.1 Stimmen der Eltern und Angehörigen
4.2 Anna, Ernst, Josef und Klärchen
4.3 Gedenken
5. Schluss
Literaturverzeichnis:
1. Einleitung
„Geschichte bestimmt das Selbstverständnis und die menschliche Identität, sie dient der Vergangenheitsbewältigung und sie liefert Beurteilungskriterien für aktuelles und zukünftiges Handeln“ (Mußmann 2014, S. 14).
Demnach ist die menschliche Identität nicht losgelöst von der Vergangenheit und der gesamten geschichtlichen Entwicklung zu betrachten, um hieraus ethisch und moralisch handlungsfähig für die Zukunft zu sein und zu bleiben. Das Vergessen oder Verdrängen, der schlimmsten und dunkelsten Ecken der geschichtlichen Vergangenheit, wie die Zeit des Dritten Reiches und der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter dem Diktator Adolf Hitler, stellt die schlimmste Art der Geschichtsbewältigung dar. Die schrecklichen Taten, die in dieser Zeit an Menschen begangen worden sind, wie die Zwangssterilisierungen, die Vergasung und Tötung von Juden, behinderten Menschen und Kinder, findet in der Geschichte der Menschheit nur kaum Vergleich. Als mit Beginn des zweiten Weltkrieges die systematische Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ ihren Anfang nahm, waren Kinder mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten zuerst betroffen. In Deutschland wurden unter der nationalsozialistischen Herrschaft in der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen den Jahren 1939 und 1945 bis zu 5.000 Kinder im Rahmen des „Reichsausschussverfahren“ getötet (vgl. Schmuhl 1987), weitaus mehr im Rahmen der „Kindereuthanasie“.
Diese Arbeit kann nur einen kleinen Beitrag leisten, indem sie auf die grausamen Taten aufmerksam macht, die geschichtlichen Rahmenbedingungen beleuchtet, den wahren Grund des Tötens erläutert und die Taten hinter den verschlossenen Türen der „Kinderfachabteilungen“ schildert. In Gedenken an die zahlreiche, meist namentlich nicht bekannten, Opfer wurden beispielhaft Kinder ausgewählt, die alle im Zuge der sogenannte „Kindereuthanasie“ ihr Leben lassen mussten.
2. Eugenik und Euthanasie
2.1 Eugenik, Euthanasie und Darwinismus
Der Begriff der Eugenik wird zumeist mit einem schrecklichen Zeitabschnitt in der deutschen Geschichte in Verbindung gebracht, der Zeit des Nationalsozialismus. Die Wurzeln der Eugenik reichen jedoch sehr viel tiefer. Der Anfang eugenischen Gedankenguts und das Streben nach einem genetisch ‚perfektionierten‘ Volk, also der Zucht ‚besserer‘ und ‚arbeitstüchtigeren‘ Menschen sind insbesondere mit Charles Darwin verknüpft, der vielseits als Begründer eugenischen Gedankenguts im Sinne einer sozialdarwinistischen Sichtweise gilt. Dieser stellte in seinem Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese“ die These vor, die Tiere würden sich nach einem grundlegenden Prinzip weiterentwickeln: „Die natürliche Selektion“ (Darwin 1859; Ganssmüller 1987, S. 10). Der Stärkste gewinnt den Kampf, was eine Richtungslose und seiner Meinung nach, eine unnatürliche Vermehrung ‚schwacher‘ Organsimen, auf natürlichem Wege aufhält. Diese „richtungsoffene wertneutrale Selektionsthese“ (ebd.) seitens Darwin wurde vielfältig aufgenommen und mit der bisherigen Evolutionsthese verknüpft, was eine Übertragung auf die menschliche Rasse zur Folge hatte. Bekannte Sozialdarwinisten wie Wilhelm Schallmayer wendeten die von Darwin geschaffenen Begriffe auf die menschliche Gesellschaft an
Den Begriff der Eugenik hatte der Anthropologe Francis Galton im Jahre 1883 in den internationalen Diskurs eingeführt. Unter dem Begriff verstand Galton, „das Studium von Behörden unter gesellschaftlicher Kontrolle, die rassische Qualität zukünftiger Generationen physisch oder geistig verbessern oder beeinflussen (Galton 1883 zitiert nach Moehrle, 2016, S.32) zu wollen. Etwas kompakter liefert Weingart (1996) eine Definition: Eugenik ist die „Wissenschaft vom guten Erbe“ (S. 16). Übergeordnetes Ziel der Eugenik sollte es sein, eine „genetische Verbesserung des Menschen“ (Reyer 1991, S. 6) herbeizuführen.
Die Euthanasie ist nicht nur aus der Sicht der Eugeniker die wohl rigoroseste Form das Leben behinderter Menschen zu beenden. Auch wenn dieses Wort aus dem Griechischen übersetzt „leichter Tod“ (Duden) bedeutet, ist im Zusammenhang mit der Eugenik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem die systematische Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen und Kinder gemeint und sollte nicht in Verbindung mit der Suggestion eines leichten Todes gebracht werden.
2.2 Geschichtliche Entwicklung bis zum zweiten Weltkrieg
Der Staatswissenschaftler Robert von Mohl1 war schon im Jahre 1845 beunruhigt über das „Heranwachsen gar zu vieler unglücklicher Geschöpfe“, wie Kinder von Landstreichern, Säufern oder Strafgefangenen, und die Bedrohung des „Wohls und der Rechte Dritter“ (Trus 2019, S. 18). Für Kinder forderte Mohl die Rettung in „Kinderhäusern“ (ebd., S. 19), die Erwachsenen sollten schlichtweg auswandern. Diese Forderung wirkt harmlos im Vergleich zu den weiteren Entwicklungen und Forderungen von Mediziner, Juristen und weiteren Befürwortern eugenischen Gedankenguts. Der Mediziner Weinhold forderte, die Fortpflanzung zu verhindern, indem man eine sogenannte „Infibulation“ anwenden sollte. Diese bezog sich auf das männliche Glied, welches mittels einer „Verlötung“ (ebd.) zeugungsunfähig gemacht werden sollte. Diese Aussage jedoch stieß auf viel Gegenwehr, so sollte der männliche Körper unversehrt bleiben.
Der Anthropologe Guiseppe Sergi2 sah die Wurzeln der Europäer im Horn von Afrika. Es sollen sich drei verschiedene Rassen gebildet haben: „die Hamiten, die mediterrane und die nordische Rasse“ (Sergi 1895, zitiert nach Moehrle 2016, S. 33). Für ihn stand die kulturelle Überlegenheit der „mediterranen Rasse“ (ebd.) fest, wobei auch innerhalb dieser Rasse ‚unwertes‘ Leben keinen Platz finden sollte (vgl. ebd.). Im gleichen Jahr fordert Rassenhygieniker Alfred Ploetz3 in einer Art „Utopie“: „Stellt es sich [trotz bester Pflege für Mutter und Kind] heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Aerzte-Kollegium [sic!], das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet.“ Alfred Ploetz bedient sich eines Euphemismus, um die schreckliche Tat zu beschönigen.
Eine bekannte Vertreterin der Reformpädagogik machte sich ebenso Gedanken zu diesem Thema:
„Unsere Zeit zeichnet sich zwar durch einen erstaunlichen Fortschritt aus, es fehlt ihr jedoch etwas, was ein wesentlicher Zug von Zivilisation ist, und man könnte dies mit ‚Kultivation des Menschen‘ bezeichnen. Während auf dem Gebiet der Agrikultur so viel Mühe aufgebracht und so großartige Leistung erzielt worden sind bei der Züchtung neuer und besonders schöner Blumen und Fruchtsorten, steht es in auffallendem Widerspruch dazu, daß [sic] kein vergleichbarer Versuch auf dem Gebiet der ‚Homokultur‘ unternommen wird.“ (Montessori, zitiert nach Böhm, 1985, S. 42).
In ihrem Kapitel zur „Sexualmoral in der Erziehung“4 weist sie darauf hin, dass ein „neues verantwortungsbewusstes [Verhalten] gegenüber der eigenen Spezies [entwickelt werden muss, damit keine] durch sexuelle Verfehlung unglücklicher Eltern unglückliche Kinder [entstehen].“ (Montessori, zitiert nach Böhm 1985, S.111). Aufgrund dessen habe die Erziehung nur eine Chance, wenn sie sich für das noch nicht existente Leben einsetzen will: Es müsse sich bereits im Vorfeld des Zeugungsprozesses eingemischt werden. Maria Montessori beschreibt ihre Sichtweise mit der Hilfe eines Bildnisses:
„Nehmen wir einen Alkoholiker, der im Rausch mit einer Frau verkehrt, dann flieht und Mutter und Kind vergisst. Materiell gesehen hat er eine unendlich kleine Zelle hinterlassen, von der Zeit her einen flüchtigen Augenblick; aber das genügt, um ein kriminelles epileptisches Wesen in die Welt zu setzen, an dem die Erziehung wenig oder nichts vermag. Es klingt sicher paradox, aber die Erziehung ist in Wirklichkeit allmächtig, wenn sie sich für jene einsetzt, die noch nicht existieren, und wenn sie sich zum souveränen Gebieter über das biologische Werden der menschlichen Art macht.“ (Montessori 1985; zitiert nach Hofer 2001, S.129).
Welche Maßnahmen man aus Sicht von Maria Montessori in der Praxis hätte ergreifen sollen, um diese Menschen von der Fortpflanzung abzuhalten, bleibt jedoch offen. Der Jurist und Professor für Strafrecht Karl Binding und der Freiburger Psychiater und Arzt Alfred Hoche veröffentlichen im Jahr 1920 ihr Werk „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“. Es wird als eine Art „Liebesdienst“ beschrieben, das Leiden der Kinder, im Werk „Mißgeburten“ [sic!] genannt, früher zu beenden. Es wurde nun ein weiterer grausamer Schritt gemacht, indem nun Kinder miteinbezogen werden. Der Biologe Ernst Mann stellte 1922 „Vier Forderungen der Barmherzigkeit“ an den Deutschen Reichstag. Eine hiervon, war die „schmerzlose Tötung verkrüppelter oder mit unheilbarer Krankheit geborener Kinder, kurz nach der Geburt.“ (Reumschüssel 1968, S. 22). Der letzte Schritt, die Forderung der Tötung behinderten kindlichen Lebens ist nun gemacht, elf Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten.
2.3 Eugenik und Euthanasie im Nationalsozialismus
Wie einleitend bereits erwähnt, erfuhr der Begriff „Euthanasie“ im Kontext der Krankenmorde im dritten Reich eine Entfremdung. Während „Euthanasie“ in der Antike für das leichte, schmerzlose Sterben und einen ‚guten‘ Tod stand, wandelte sich die Bedeutung im Laufe der Zeit und wurde als eine vermeintlich gute Tat deklariert. Kurz nach der Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten mit rassenhygienisch-eugenischen Maßnahmen. Den Anfang machte am 14.07.1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, welches die Zwangssterilisierung von, auch behinderten, Frauen legitimierte. Der Erlass eines Gesetzes zur Legalisierung der „Kindereuthanasie“ wurde erst einmal nicht beschlossen. Als Grund wurde angegeben, dass die NS-Machthaber das Volk für „noch nicht reif“ für eine Maßnahme wie die Euthanasie hielten und deshalb hierauf – vorerst - verzichteten (vgl. Gruchmann 1972, S. 235-237).
Dr. Leonardo Conti5, seit 1939 „Reichsgesundheitsführer“, war der Ansicht, dass die Aufgabe des Staates die sei, das Volk „von Generation zu Generation kraftvoller und schöner [zu] erneuern“ (Conti, zitiert nach Schmuhl 2011, S. 10). Nun, ein paar Jahre später, die Propaganda der Nationalsozialisten hatte mittlerweile gefruchtet, fand im Juli 1939 zwischen Adolf Hitler und einigen ‚wichtigen‘ Persönlichkeiten des NS-Stabs ein Treffen statt. In diesem soll Hitler die „Euthanasiemaßnahmen“ angekündigt haben, mit dem Vermerk, dass zu Zeiten des Krieges das Hauptaugenmerk der Welt auf den Kampfhandlungen läge und nicht auf den Vorgängen innerhalb des Landes (vgl. Trus 2019, S. 131).
[...]
1 Robert von Mohl hat von 1799 bis 1875 in Deutschland gelebt und war unter anderem Reichsjustizminister.
2 Guiseppe Sergi war ein italienischer Anthropologe und lebte von 1841 bis 1936.
3 Alfred Ploetz hat von 1860 bis 1940 gelebt und war ein deutscher Arzt und Rassenforscher. Er gilt als Begründer der Eugenik in Deutschland und prägte den Begriff Rassenhygiene.
4 Original: Montessori, M. (1958). La morale sessuale nell’educazione, Vita dell’Infanzia, 7, 3-7. Rom; aus dem italienischen übersetzt von Gisela Kunert. Es handelt sich um einen Vortrag, der von Maria Montessori beim ersten nationalen italienischen Frauenkongress 1906 in Rom gehalten wurde.
5 Leonardo Ambrogio Giorgio Giovanni Conit lebte von 1900 bis 1945 und war ein schweizerischdeutscher Mediziner, der nach den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt wurde. Als Reichsgesundheitsführer und Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit war er maßgeblich an den Verbrechen des dritten Reiches schriftführend (Ganssmüller 1987; Trus 2019).