Die immer rasanter werdende biotechnologische Entwicklung und die daraus folgenden neuen Methoden erwecken den Anschein, dass gentechnisch bald alles möglich sei – Szenarien von Dystopien bzw. Utopien, die bei vielen Angst, und bei einigen Hoffnung auslöst. Speziell die Transhumanist*innen könnten solch einen Fortschritt propagieren, da erst damit – zukünftig – ein gutes Leben möglich sei. Aber können diese Utopien überhaupt einen Beitrag zu einem guten Leben leisten?
Diesem möglichen Horizont der Transhumanist*innen soll hier nachgegangen werden. Hierfür wird zunächst in Kapitel zwei der eigentliche in Raum, aus dem die Utopien stammen, also die sogenannte liberale Eugenik, näher betrachtet. Daraufhin soll eine spezielle Utopie – die auf Eingriffen in die Keimbahn basiert – in ihren Risiken und ihrem Potenzial in Kapitel drei analysiert werden. Den Abschluss bilden dann eine Reflexion in Kapitel vier und die Beantwortung der Ausgangsfrage in Kapitel fünf.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Eugenik und Transhumanismus
2.1 Die klassischen Grundzüge der Eugenik
2.2 Eugenik im Kontext der heutigen Humangenetik
2.3 Das transhumanistische Verständnis von Eugenik
3 Eingriffe in die Keimbahn
3.1 Das Eingreifen in die Keimbahn: an Embryonen
3.2 Das Eingreifen in die Keimbahn: an Keimzellen
3.3 Das Eingreifen in die Keimbahn: an Stammzellen
4 Die Bewertung der liberal-eugenischen Eingriffe in die Keimbahn
4.1 Das Prinzip der „Verbesserung“ im Verständnis des Transhumanismus
4.2 Der gesellschaftliche Nutzen
4.3 Der Utilitarismus
5 Fazit: Kann die liberale Eugenik zu einem guten Leben beitragen?
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Die immer rasanter werdende biotechnologische Entwicklung und die daraus folgenden neuen Methoden erwecken den Anschein, dass gentechnisch bald alles möglich sei – Szenarien von Dystopien bzw. Utopien, die bei vielen Angst und bei einigen Hoffnung auslöst. Speziell die Transhumanist*innen könnten solch einen Fortschritt propagieren, da erst damit – zukünftig – ein gutes Leben möglich sei. Aber können diese Utopien überhaupt einen Beitrag zu einem guten Leben leisten?
Diesem möglichen Horizont der Transhumanist*innen soll hier nachgegangen werden. Hierfür wird zunächst der eigentliche Raum (Kap. 2), aus dem die Utopien stammen, also die sog. liberale Eugenik, näher betrachtet. Daraufhin soll eine spezielle Utopie – die auf Eingriffen in die Keimbahn basiert (Kap. 3) – in ihren Risiken und ihrem Potenzial analysiert werden. Den Abschluss bilden dann eine Reflexion und die Beantwortung der Ausgangsfrage (Kap. 4 und Kap. 5).
2 Eugenik und Transhumanismus
Was ist Eugenik und was kann überhaupt unter Eugenik im Kontext des Transhumanismus verstanden werden? Um diese Frage zu klären, erfordert es einen kleinen Rückblick in die Grundzüge der klassischen Eugenik, ergänzt durch einen Ausblick in die Humangenetik.
2.1 Die klassischen Grundzüge der Eugenik
Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff der „Eugenik“ geht in seinem klassischen Verständnis auf den britischen Naturforscher und Literaten Francis Galton zurück, der diesen um 1883 bedeutend geprägt hat.1 Dabei definiert Galton die Bedeutung von Eugenik als „die Lehre von der ‚Verbesserung der Rassen‘“2.3 Hierbei hat er weniger eine wirkliche Wissenschaft im Blick als eine politische und gesellschaftliche Bewegung zur „Verbesserung der Rassen“. Die Idee zu solchen Verbesserungen des (menschlichen) Erbgutes durch Selektion taucht keineswegs erst in der Moderne auf, schon Platon beschreibt sie in seiner Politea. Demnach setzt sich der Begriff aus der griech. Vorsilbe „eu“ (ευ) für „gut“ sowie der Silbe „genea“ (γενεα) für „Abstammung“ zusammen. „Eugenik“ drückt damit das Streben nach einer „guten Abstammung“ aus. Mithilfe humangenetischer Erkenntnisse und der daraus gewonnenen Methodiken bzw. Techniken soll innerhalb einer bestimmten (menschlichen) Population zum einen die Weitergabe von negativ bewerteten Erbanlagen in Form einer „negativen Eugenik“ verhindert und zum anderen die Weitergabe von positiv bewerteten Erbanlagen („positive Eugenik“) gefördert werden.4
Ein prägnantes Beispiel dafür ist im Verständnis der „deutschen Eugenik“ und der Rassenhygiene der Nationalsozialisten zu finden. Diese „deutsche Eugenik“ hat sich aber nicht allein aus den Ansätzen Galtons entwickelt, sondern ist in ein damals weltweit verbreitetes Eugenik-Verständnis einzuordnen. Die Grundzüge dieses Verständnisses waren folgende:
1. Das eugenische Ziel wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts meist als ein kollektivistisches verstanden, indem eine Verbesserung des Erbgutes in der gesamten Population angestrebt wurde. Das führte dazu, dass die individuellen Interessen denen einer (imaginierten) Gemeinschaft untergeordnet wurden. Dies wurde insbesondere durch eine damals verbreitete Verfallstheorie motiviert, welche die Angst vor der Degeneration der Bevölkerung und damit der Nation widerspiegelte. Diesem Verfall wurde dann versucht im Sinne einer positiven Eugenik entgegenzuwirken. Der Fokus der auf Selektionsmaßnahmen basierenden Eugenik bestand darin, vererbliche Krankheiten aus der gesamten Population „auszumerzen“.5
2. Für die Umsetzung des im ersten Punkt genannten Ziels fand man vor allem in der Fortpflanzung die passende Lösung, welche als der eigentliche Steuerpunkt der Vererbung angesehen wurde. Hierbei besteht die Grundintention darin, entweder die Reproduktionsrate von Menschen mit einer vererbbaren Krankheit zu reduzieren oder aber die Fortpflanzungsrate derjenigen zu fördern, die als genetisch „hochwertig“ angesehen wurden.6
3. Solch eine Förderung wurde zumeist durch staatliche Maßnahmen und Gesetze umgesetzt. Sinnbildhaft ist hierfür – im Kontext des genannten Beispiels des Nationalsozialismus – die Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (Sterilisationsgesetz), das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Nach diesem Gesetz soll zum Zwecke der „Rassenhygiene“ die Zwangssterilisation von vermeintlich „Erbkranken“ (aber auch Alkoholiker*innen) zum Schutze des Volkes durchgeführt werden.7
4. Damit ist – auch schon zur NS-Zeit – vor allem ein biologisch-technokratisches Verständnis verbunden, das sich durch ein großes Vertrauen in Wissenschaften, Technologien und Techniken ausdrückt. Damit stellt sich ein biologistisches Gesellschaftsverständnis ein, wonach gerade mit Punkt 1 das soziale Selbstverständnis auf die Qualität der Erbanlagen bzw. der Vererbung zurückzuführen sei.8
5. Zudem ist in den Grundzügen dieses Eugenik-Verständnisses eine Form des klassischen Utilitarismus wiederzufinden. Demnach sind die Fortpflanzung und die individuelle Freiheit zur Reproduktion an einem höheren Ziel orientiert, das vor allem auf eine langfristige genetische „Verbesserung“ der Bevölkerung ausgerichtet ist. Dies aber geht mit der Missachtung individualethischer Bedürfnisse – u. a. des Schutzes von Schwächeren und der Förderung individuellen Glücks – einher und wird durch eine kollektive Betrachtung zur Förderung der „Rasse“ ersetzt.9
Die genannten Grundzüge sind es, die dazu führten, dass der in heutigen (nicht dezidiert historischen) Debatten verwendete Begriff der „Eugenik“ deutlich von dem den NS-Verbrechen zugrunde liegenden zu unterscheiden ist. Dennoch ist das hier skizzierte historische Eugenik-Konstrukt keines allein der Vergangenheit.
2.2 Eugenik im Kontext der heutigen Humangenetik
Die NS-Verbrechen führten dazu, dass die Forschung im Bereich der Humangenetik zunächst gedämpft wurde, erst mit der beginnenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms erhielt die genetische Forschung neuen Aufschwung und damit der „Begriff“ der Eugenik eine neue Ausrichtung.10 Dennoch bestehen einige der in Kap. 2.1 ausgeführten Aspekte auch in diesem neuen Ansatz fort.
Die grundlegende Neuausrichtung des eugenischen Denkens wurde erstmals im Jahr 1962 durch das CIBA11 -Symposium begründet. Diese fand unter der Bezeichnung „Man and his Future“ in London unter internationaler Beteiligung statt. In ihr finden sich wiederum einige der typischen („klassischen“) eugenischen Bestrebungen wieder. So bestanden die Ambitionen u. a. darin, die Evolution zu steuern und damit vor allem die Menschheit genetisch zu verbessern. Deshalb wurde mit diesem Symposium zugleich das Fundament für ein neues Verständnis von Eugenik gelegt.12 Auch hierbei ist zu erkennen, dass es in den neuen Ansätzen der Eugenik zunächst einmal allgemein um eine Verbesserung des Genpools geht. Diese wird nun aber nicht mehr von „Rasse“-Zielen motiviert, sondern von Humangenetiker*innen mit der Zielsetzung verfolgt, die Bevölkerung mit einem verbesserten Genpool auszustatten, um dadurch wiederum das Gemeinwohl zu fördern. Dabei werden vor allem Ziele aus dem Gesundheitssektor angestrebt, wie etwa das Immunisieren gegenüber einer HIV-Infektion (vgl. Kap. 3.1) oder die Verhinderung schwerster Behinderungen, wie sie seit Längerem im Zusammenhang mit § 218, dem sog. Abtreibungsparagrafen, diskutiert wird.13 Dabei liegt – unabhängig von der eigentlichen Thematik – der Fokus immer mehr auf den Genen, denn genau hier können eugenische Methoden und Techniken aktiv eingesetzt werden. So können die eugenischen Maßnahmen, wie ich sie im Nachfolgenden genauer betrachten werde, auch in den verschiedenen Phasen der Reproduktionsmedizin Anwendung finden.
Hierbei ist aber zu beachten, dass diese Praktiken nicht allein deshalb „eugenisch“ sind, weil gentechnische Methoden angewendet werden. Das „Neue“ im Vergleich zur klassischen Eugenik ist so zu verstehen, dass die Methoden und Techniken der Einflussnahme auf das Genom vor allem die individuelle Freiheit fördern sollen. Damit wird ein Gefühl von Autonomie vermittelt, in die einzugreifen kein Staat bzw. keine Gesellschaft die Befugnis besitzt (vgl. Kap. 2.1). Die daraus abgeleiteten Entscheidungen sind nicht unbedingt rein eugenisch motiviert, sondern vor allem einer transhumanistischen Position zuzuordnen.
2.3 Das transhumanistische Verständnis von Eugenik
Das gerade dargestellte „neue“ Eugenik-Verständnis sehen gerade die Vertreter*innen des Transhumanismus als förderlich zur Umsetzung transhumanistischer Ziele an, weshalb sich in diesem Kontext auch der Begriff der sog. liberalen Eugenik etablieren konnte. Hierbei betont der Begriff der Liberalität, dass eugenische Maßnahmen nicht durch den Staat vorgegeben werden dürfen, sondern dass die Menschen selbst das Recht haben sollten, ob sie sich oder ihre Kinder durch gentechnologische Maßnahmen, beispielsweise durch eine Keimbahntherapie, verändern wollen oder nicht. Denn die durch den Liberalitätsgedanken implizierte Freiheit fordert geradezu dazu auf, die Gentechnik als „Technik der Selbstgestaltung“14 anzusehen, und dies in einem Maße, dass in den heutigen Debatten statt von Eugenik häufig von einer „Verbesserung der Erbanlagen“15 gesprochen wird. Manche, wie Stefan L. Sorgner, gehen noch weiter und weisen auf eine stärkere Differenzierung zur klassischen Eugenik der NS-Zeit hin, indem sie sagen, dass „heute eher von der genetischen Verbesserung statt von der liberalen Eugenik“16 gesprochen wird. Wichtig ist hierbei aber anzumerken, dass eine „genetische Verbesserung“ nicht direkt das übergreifende Ziel, d. h. die Verbesserung des Erbgutes durch anschließende Vererbung, bedeutet. Auch andere Therapieformen, wie etwa die somatische Gentherapie, führen zu Veränderungen des Genoms, die aber nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.
Deshalb wäre es irreführend, wenn jede vorgenommene gentechnische Verbesserung als eugenische Maßnahme bezeichnet würde. Das würde nämlich dazu führen, dass die Dynamik, die aus dem Transhumanismus kommt und letztlich die Verbesserung des Menschen überhaupt bzw. die Verbesserung seiner menschlichen Natur erreichen möchte, verloren ginge. Das würde u. a. auch zur Folge haben, dass eine Differenzierung zum Eugenik-Begriff aus Kap. 2.1 geglättet würde und dass es schließlich darüber hinaus nur noch um die mögliche Begründung der Anwendung der Gentechnik ginge. Deshalb werde ich in meiner nachfolgenden Betrachtung die Bezeichnung der liberalen Eugenik mit dem Zusatz „im Sinne des transhumanistischen Denkens“ o. ä. ergänzen. Denn dadurch wird deutlich gemacht, dass die beschriebenen Methoden sich in ihrer Zielperspektive an der Verbesserung der Menschheit orientieren.
[...]
1 Vgl. Ranisch 2021, S. 36.
2 Ranisch 2021, S. 37.
3 Genauer wurde Eugenik durch Galton beschrieben als „the science of improving stock, which is by no means confined to questions of judicious mating, but which, especially in the case of man, takes cognisance of all influences that tend in however remote a degree to give to the more suitable races or strains of blood a better chance of prevailing speedily over the less suitable than they otherwise would have had“ (Dent 1907, S. 17).
4 Vgl. Ranisch 2021, S. 36–38.
5 Vgl. Ekberg 2013, S. 90–91; Kröner 1998, S. 695–699.
6 Ebd.
7 Vgl. Ekberg 2013, S. 90 f.; Kröner 1998, S. 695–699; Ranisch 2021, S. 38–49. Ergänzend vgl. Braun 2012, S. 301.
8 Vgl. Ekberg 2013, S. 90 f.; Kröner 1998, S. 695–699.
9 Ebd.
10 Das menschliche Genom wurde dabei allererst 1952/53 von James D. Watson und Francis H. Crick entschlüsselt (vgl. Watson/Crick 1953). Ihre Erkenntnisse haben die Humangenetik von Grund auf revolutioniert.
11 CIBA steht für die Chemische-Industrie-Basel AG.
12 Vgl. Petermann 2009, S. 393–414.
13 Vgl. dazu die aktuelle Position des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ 2020.
14 Sorgner 2016b, S. 130.
15 Sorgner 2016b, S. 129.
16 Sorgner 2016b, S. 130.