Ist die mediale Darstellung von Kriminalität im Fernsehen zur Aufklärung von echten Kriminalfällen gerechtfertigt?
Eingehens werden die für das Gesamtverständnis benötigten Begriffe geklärt. Begonnen wird mit der (Gewalt-)Kriminalität und der hintergründigen Problematik bei einer Definition derer. Darauf folgt eine Betrachtung des Medienbegriffs. Anschließend wird sich dem Beispiel „Aktenzeichen XY … ungelöst“ gewidmet. Nach der deskriptiven Beschreibung des Prinzips der TV-Sendung werden die zentralen Aspekte der Vertretbarkeit des Formats geschildert. Grundlegendes Werk und Ideengeber ist die Arbeit von Tobias Seewald, welcher sich ebenfalls mit der Fernsehsendung Aktenzeichen XY … ungelöst beschäftigte. In Begleitung von zahlreicher Sekundärliteratur unterschiedlichster Autoren wird nun mit der Definition von (Gewalt-)Kriminalität eingeleitet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitende Gedanken
2. Zum Begriff der (Gewalt-)Kriminalität
2.1 Zur Problematik einer Definition der Kriminalität
2.2 Begriffliche Genese
2.3 Zum Begriff der Gewaltkriminalität
3. Der Begriff der Mediengewalt
3.1 Zum Begriff der Medien
3.2 Gewaltdarstellung in den Medien
4. Darstellung von (Gewalt-)Kriminalität in den Medien anhand des Beispiels „Aktenzeichen XY ... ungelöst“
4.1 Ablauf der TV-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“
4.1.1 Gezielte Auswahl der Fälle
4.1.2 Darstellungsform „Filmfall“
4.2 Diskussion um die Darstellung medialer (Gewalt-)Kriminalität im Fernsehen am „Beispiel Aktenzeichen XY... ungelöst“
4.2.1 „Aktenzeichen XY . ungelöst“ als Menschenjagt
4.2.2 Problem der Nachahmung
4.2.3 Anstieg der Kriminalitätsfurcht
4.2.4 Wirkung von medial dargestellter Gewalt auf Individuen
4.2.5 Aufklärungsquote
5. Fazit
6. Abschließende Gedanken
7. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Straftaten insgesamt in Deutschland = 5.436.401 Fälle (vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 2019, S. 24)
Abbildung 2: Aufklärungsquoten der jeweiligen Delikte (vgl. Aktenzeichen XY... ungelöst 2022)
1. Einleitende Gedanken
„Alles, was Fernsehsender in ihrer aktuellen Berichterstattung im Bild zeigen, sollte tatsächlich geschehen sein. Aber nicht alles, was tatsächlich geschehen ist, sollte im Bild gezeigt werden“ (Kepplinger 1991, S. 204).
Diese Aussage traf der emeritierte Kommunikationswissenschaftler Kepplinger schon 1991 auf den Medientagen in München. Der erste Satz des Zitats bezieht sich auf den Wahrheitsgehalt von Berichterstattung. Vor allem Nachrichtensendungen wie die Tagesschau müssen darauf achten, dass ihre Informationen stets fundiert und richtig sind. Dieses normative Paradigma sollte unumstritten sein. Der zweite Teil des Zitats bietet hier mehr Diskussionspotenzial. Dieser Satz hat in den vergangenen rund 30 Jahren weder an Aktualität verloren, noch ist die hinter ihm stehende Frage geklärt. Die Grenze zwischen „vollumfänglichen Informieren“ und dem Brechen von moralischen Grenzen durch das Zeigen von unangemessenen Bildern wird immer wieder neu verhandelt. Das Internet trägt durch seine Unmittelbarkeit dazu bei, dass diese Grenze oft hin zur „vollumfänglichen Information“ verschoben wird, und so Bilder von Kriegs- oder Gewalthandlungen an die Öffentlichkeit gelangen. Das Darstellen von realer Gewalt in den Medien aus Informationsgründen hat jedoch eine weitere Fassette, welche in diesem Bericht betrachtet werden soll. Informieren steht in einem schwierigen Verhältnis zu Unterhalten. Bis zu welchem Grad darf eine Informationssendung auch dem Unterhaltungszweck dienen? Eine TV-Sendung, welche diese beiden Ebenen verschwimmen lässt, ist Aktenzeichen XY ... ungelöst. Die Rechtfertigung reale Gewalttaten in fiktionalen Filmen nachzustellen, besteht bei dieser Sendung jedoch nicht nur im Unterhaltungsfaktor, sondern ebenso in der Aufklärung der dargestellten Kriminalfälle. Das Zeigen von nachgestellten Gewalttaten zu Klärungszwecken kollidiert also mit dem Entertainmentfaktor. Ist die mediale Darstellung von Kriminalität im Fernsehen zur Aufklärung von echten Kriminalfällen gerechtfertigt? Diese Frage soll dieser Bericht durch die Überprüfung der folgenden Hypothese beantworten:
„Die mediale Darstellung von fiktiv nachgestellter (Gewalt-)Kriminalität in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“, ist durch die Intention der Aufklärung dieser gerechtfertigt“.
Eingehens werden die für das Gesamtverständnis benötigten Begriffe geklärt. Begonnen wird mit der (Gewalt-)Kriminalität und der hintergründigen Problematik bei einer Definition derer. Darauf folgt eine Betrachtung des Medienbegriffs. Anschließend wird sich dem Beispiel „Aktenzeichen XY . ungelöst“ gewidmet. Nach der deskriptiven Beschreibung des Prinzips der TV-Sendung werden die zentralen Aspekte der Vertretbarkeit des Formats geschildert. Grundlegendes Werk und Ideengeber ist die Arbeit von Tobias Seewald, welcher sich ebenfalls mit der Fernsehsendung Aktenzeichen XY . ungelöst beschäftigte. In Begleitung von zahlreicher Sekundärliteratur unterschiedlichster Autoren wird nun mit der Definition von (Gewalt-)Kriminalität eingeleitet.
2. Zum Begriff der (Gewalt-)Kriminalität
Eine genauere Analyse über die Darstellung der (Gewalt-)Kriminalität in der soeben beschriebenen Sendung kann nur vollzogen werden, wenn im Gebiet derer begriffliche Klarheit herrscht. Bevor sich an einen Versuch der theoretischen Subsumierung herangewagt werden soll, muss vorher kurz betrachtet werden, worin die Problematik bei der Aufstellung einer allgemeinen Kriminalitätstheorie liegt.
2.1 Zur Problematik einer Definition der Kriminalität
Die Kriminologie ist/sind „die Wissenschaft(en) zur Erklärung der Kriminalität“ (Klimke et. al. 2020, S. 430). Es gibt also eine eigene Wissenschaft, mit eigener Forschungsfrage, welche es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Phänomen der Kriminalität zu erklären. Die durch das eingeklammerte „en“, in der Definition des Lexikons offen gehaltene Tür, das Wort Wissenschaft in den Plural zu setzten, beschreibt sehr gut die zugrundeliegende Problematik. Das in der Erziehungswissenswissenschaft verpönte in den Plural setzen des Worts Wissenschaft hat den einfachen Grund, dass die Kriminologie sich dem Begriff über unterschiedlichste Zugänge widmet. Hierbei wird sich beispielsweise an psychologischen, philosophischen oder soziologischen Zugängen bedient. Kriminalität lässt sich also interdisziplinär aus sehr vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Oberwittler und Reinecke betonen diesbezüglich, dass die theoretische Überhöhung des eigenen Standpunkts eine Problematik ist, welche sich im Feld der Kriminologie aufdrängt. Widmet man sich einer ökologischen Theorie, liegt die Vermutung nahe, dass Kriminalität „als Ergebnis (rationaler) Nutzungserwägungen“ (Oberwittler; Reinecker 2008, S. 50) betrachtet wird. Aus der Perspektive eines eher soziologischen Ansatzes, wie des „Labeling Approachs“, würde sich hiergegen eher auf eine Betrachtung der Stigmatisierung bezogen werden. Hierbei läge die Betonung darauf, dass nur diejenige Handlung als kriminell gelten kann, welche aufseiten des Gesetzes und der Gesellschaft als kriminell sanktioniert beziehungsweise angesehen wird. Diese Gegenüberstellung ist Beispiel für eine Problematik, welche um viele weitere Punkte ergänzt werden könnte. Deshalb wird in diesem Bericht von einer kriminologischen Betrachtung abgesehen und es soll sich der Kriminalsoziologie und deren Begriffsdefinitionen gewidmet werden.
Doch auch intradisziplinär in der Kriminalsoziologie selbst lassen sich unterschiedliche Blickwinkel auf die Kriminalität einnehmen. Es besteht die Möglichkeit, Kriminalität auf einer mikrosoziologischen Ebene zu belichten. Hierbei stehen vor allem die Auswirkungen und Ursachen auf individueller Ebene, also die Medienrezeption von Gewaltinhalten, im Fokus. Die zweite Sichtweise ist die Makrosoziologie. Diese betrachtet vor allem die gesellschaftlichen Einflussfaktoren und Kriminalitätsniveaus in der Gesellschaft im Allgemeinen. Unter bewusster Berücksichtigung dieser Dualität wird sich in diesem Bericht um einen klassisch soziologischen Zugang unter Berücksichtigung makrosoziologischer und mikrosoziologischer Perspektive bemüht werden.
Als konkrete soziologische Erklärungsperspektive wird in diesem Beitrag die Kriminalität über ihrer Entstehung definiert werden. Abweichendes Verhalten über die Ursachen und Entstehungskontexte zu erläutern ist ebenfalls keine neue Idee. Es gibt mehrere soziologische Erklärungsansätze für die Entstehung des Phänomens der Kriminalität. Einen sehr frühen Versuch vollzog hierbei die Chicago School in den 1920er Jahre. Diese versuchte Kriminalität mit sozialer Desorganisation zu erklären (vgl. Eifler 2002, S. 24ff). Ein weiterer Ansatz sind die Theorien des Kulturkonflikts, die vor allem abweichendes Verhalten in unteren Schichten erklären zu versucht (vgl. Eifler 2002, S. 30ff). Die Erklärungsperspektive, welcher sich in dieser Ausarbeitung gewidmet werden soll, ist die Anomietheorie. Diese Sichtweise wird ausgewählt, da sie einen soziologischen Klassiker bedient und sich gut in die Klärung der Haupthese einfügen lässt. Außerdem lässt sich die Anomietheorie durch ihre Weiterentwicklungen gut in eine makrosoziologische wie mikrosoziologische Betrachtung implementieren.
2.2 Begriffliche Genese
Betrachtet man die Kriminalität aus diesem Blickwinkel kommt man bei einer begrifflichen Bestimmung fast nicht um einen der bedeutendsten Soziologen, Emil Durkheim herum. Die Kriminalität lässt sich bei ihm sogar als Hauptuntersuchungsgegenstands seines soziologischen Ansatzes verstehen. Ohne den sehr ausführlichen Gesamtansatz vertiefen zu wollen, versteht Durkheim die Soziologie als Wissenschaft von Moral und Zusammenhalt einer Gesellschaft, welche von Anomien gefährdet ist. Hier findet der Begriff der Anomie seinen soziologischen Ursprung. Die im rapiden Wandel einer Gesellschaft entstehenden Anomien lassen sich als Regelunklarheiten darüber verstehen, welche Normen Gültigkeit haben. Mit diesem Ansatz lassen sich überhöhte Kriminalitätsraten oder das Phänomen des Selbstmordes erklären (vgl. Müller 2003, S. 157ff)1.
Diese frühe Betrachtung des Phänomens der Anomie wurde von Robert Merton zu einer reinen Kriminalitätstheorie weitergedacht. Merton, welcher ab dem Jahr 1941 Professor für Soziologie in New York City an der Columbia University war, veröffentlichte im Alter von 28 Jahren sein wichtigstes Werk: „Social Structure and Anomie“. In diesem Aufsatz schilderte er, dass der Mensch nach kulturellen Zielen strebt und versteht darunter die Grundursache zur Entstehung von Kriminalität. Wird einem Menschen die Möglichkeit versperrt diese Ambitionen zu erreichen, bleibt den Individuen nur noch abweichendes Verhalten (vgl. Jacobsen 2008, S. 19). Dieses kann sich auf unterschiedliche Art und Weise äußern. Neben Rückzug oder Ritualismus bleibt unter anderem auch die Möglichkeit der Innovation:
“Innovation is the application of illegitimate means to the achievement of socially approved and legitimate ends” (Newborn 2017, S. 187).
Ein kriminell handelndes Individuum erkennt also nicht legitime Mittel als möglichen Weg an, die gesellschaftlich anerkannten Ziele zu erreichen. Die genauen Belastungsursachen, welche zu einem abweichenden Verhalten führen, betrachtet Robert Agnew, an die Betrachtung Mertons anschließend, genauer. Er stellt drei Formen sozialer Belastungen als Hauptgrunde für Kriminalität heraus (vgl. Eifler 2002, S. 30). Diese sind das individuelle Scheitern, das Wegbrechen von positiven Impulsen oder das Auftreten von schädlichen Impulsen (vgl. Newborn 2017, S. 193). An diesem Punkt lässt sich gut an die Hauptthematik anschließen. Betrachtet man den medialen Konsum von Gewalt als „negative Stimuli“ (Eifler 2002, S. 30) so können diese zu Emotionen wie Ärger, Enttäuschung oder Aggression führen. Die Auswirkung des Konsums von Medien mit Gewaltinhalten soll hier nicht weiter vertieft werden. Es ist jedoch für die restliche Betrachtung von Bedeutung, zu verstehen, dass der Konsum
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1 Durkheim verstand unter dem Selbstmord ein zu erklärendes Phänomen und tat dies vornehmlich durch seine Anomietheorie. In der Erstausgabe von 1897 beschäftigte sich Durkheim mit dem Selbstmord als soziologischer Tatbestand und legte so die ersten Meilensteine in der Kriminalsoziologie (Durkheim 2019).