Diese Arbeit hat danach gefragt, welcher Zusammenhang zwischen Literarität und den Todesfällen im Roman „Die Wahlverwandtschaften“ von Johann Wolfgang von Goethe besteht. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf Ottilie gelegt, deren Individuierung im Prozess des Schreibens von Todesbezügen unterwandert und negiert wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Verbindung von Schrift und Tod
3. Lesen und Schreiben als Praxis der Innerlichkeit
4. Schrift und Tod in den Wahlverwandtschaften
4.1. Lesen und die Gefahr der Illusion
4.2. Der Identitätswechsel in der ,Abschreibeszene‘
4.3. Formale und inhaltliche Todesbezüge im Tagebuch
4.4. Der Brief als Trennendes in der ,Wirtshausszene‘
4.5. Die Gefährlichkeit der Schrift im Brief an die Freunde
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Die Natur ist doch das einzige Buch, das auf allen Blättern großen Gehalt bietet.“1 Es scheint, als wäre gerade diese Gewissheit der Grund dafür, dass Goethes ,bestes Buch‘, als das die Wahlverwandtschaften häufig bezeichnet werden2, nicht nur ein chemisches Experiment zum Gegenstand hat, sondern zugleich mit „allen der Schreibkultur zur Verfügung stehenden Rede- und Schreibformen“3 experimentiert. So ist der Roman durchkreuzt von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, einer Novelle sowie diversen Lese- und Schreibszenen, die ein großes Netz aus verschiedenen Textelementen bilden.4 Indem die Schrift das Figurenquartett zusammenbringt und dazu beiträgt, dass sich die jeweiligen Beziehungen knüpfen, wird sie zum Initiator der Romanhandlung.
Auf den zweiten Blick ist der Roman aber keine „Feier lebendiger Reden, produktiver Schreibakte und beglückender Lektüren“5, sondern nimmt, wie in der Forschung oft herausgestellt wurde, durch einen sprachskeptischen Verweis auf die Artifizialität von Sprache6, das „Scheitern des Zeichenlesens"7 und die Betonung medialer Unzuverlässigkeiten8 einen destruktiven Standpunkt ein, der auch schon im einleitenden Zitat mit Verweis auf die Sinnentleerung von Büchern anklang. Nicht zuletzt stehen sämtliche Todesfälle im Roman, die aufgrund ihrer Omniprä- senz schon unter verschiedensten Aspekten von der Forschung betrachtet wurden9, im Zusammenhang mit Schrift. In dieser Hausarbeit soll anhand von Ottilie dargelegt werden, dass Tod und Schrift nicht zufällig miteinander verbunden sind, sondern die „destruktiven“10 Züge der Schrift die „Unglückszusammenhänge“11 hervortreiben. Zum einen ist Ottilie die Figur mit dem größten Bezug zur Schrift. Zum anderen ergibt sich aus der vorangehenden Feststellung die Konsequenz, dass der „Individualausdruck“12, den sie im Schriftkontex zu finden scheint, bereits von Todesvorausdeutungen unterwandert ist.
Um diese These zu begründen, soll unter theoretisch-historischen Gesichtspunkten zunächst die Doppelrolle von Schrift und Schreiben erörtert werden: Während die Schrift in Verbindung mit dem Tod steht (2.), wird das Schreiben selbst, besonders zur Goethezeit, als Praxis der Innerlichkeit angesehen (3.). Anschließend werden die zentralen Lese- und Schreibszenen, die in Verbindung zu Ottilie stehen, analysiert (4.). Ein Fazit mit Ausblick auf weiterführende Fragestellungen beschließt die Arbeit (5.).
2. Die Verbindung von Schrift und Tod
Eine erste Verbindung von Schrift und Tod lässt sich bereits im Moment ihrer Entstehung aus dem Totenkult und der Grabkunst vergangener Hochkulturen, wie zum Beispiel dem alten Ägypten, feststellen.13 Die Schrift hatte in diesem Kontext die ambivalente Eigenschaft, einerseits das eigene Selbst für die Nachwelt zu bewahren und memorierbar zu machen14, andererseits untrennbar mit dem Tod kon- notiert zu sein. Die Lebendigkeit, die die Schrift vortäuscht, wurde in der Antike kritisch betrachtet und begründete eine jahrtausendelange Abwertung der Schrift gegenüber der mündlichen Rede.15 Denn das Problem der Schrift sei - so bringt es Sokrates als Schriftkritik im platonischen Dialog „Phaidros“16 vor - , dass ihre „Werke [...] wie lebendig“17 dastehen, „wenn du sie aber etwas fragst, [...] schweigen sie recht würdevoll“18. Auch Aristoteles gab der gesprochen Sprache aufgrund ihrer Nähe zur unmittelbaren Intention des Sprechenden den Vorzug gegenüber der Schrift, die lediglich als sekundäres Hilfsmittel zur Fixierung und Repräsentation der gesprochenen Sprache angesehen werden könne.19
Durch die Trennung der Schrift von ihrem Urheber sei die Schrift als „vaterlose Rede“20 Missverständnissen ausgesetzt. Der Leser könne durch fehlende Rückfragemöglichkeiten die Intention des Urhebers verfehlen21, sie bewusst verfälschen und in jedem Fall der Auffassung sein, dass seine Interpretation schlüssig sei (eben weil es kein Veto seitens des Urhebers geben kann). In der Neuzeit entwickelte sich daraus die Debatte um die Lesesucht, die die Gefahr von Wirklichkeitsverlust und falschem Bewusstsein22 bei der Lektüre anmahnte.23
In der poststrukturalistischen Debatte wurde daran angeknüpft. Derrida ging sogar so weit zu sagen, dass sich Schrift erst in der wechselseitigen Abwesenheit von Sender und Empfänger richtig entfalten könne.24 Damit wird die Schrift für Derrida zu einer Spur, deren Ursprung verschwindet.25 Das Subjekt des Schreibens wird dadurch sozusagen mit der Erfahrung seines eigenen Todes in der Schrift konfrontiert, weil die Schrift das Autorsubjekt ersetzt.26
3. Lesen und Schreiben als Praxis der Innerlichkeit
Während der Schrift eine Todesbezüglichkeit inhärent ist, die sich durch das abwesenheitsbedingt zur Auflösung gebrachte Subjekt definiert, ist das Schreiben selbst ein „Prozess der Selbstvergewisserung“27 und Identitätsstiftung. Diese Vorstellung hatte Konjunktur, als die Seele im Zuge eines Paradigmenwechsels der Aufklärung nicht mehr als „Gefäß Gottes“28 angesehen wurde, sondern sich zum „selbstreferentiellen Projektionsraum“29 emanzipierte.
Angeregt durch gesellschaftliche und historische Umbrüche im 18. Jahrhundert, trat die literale Kommunikation in wachsendem Maß in Konkurrenz zur Rede und übernahm, dank „der geheime[n] Kraft [ihrer] toten Züge“30, wie Schlegel es formulierte, für die Individuierung eine herausragende Rolle ein.31 Schriftlichkeit wurde im 18. Jahrhundert erstmals für breitere Gesellschaftsschichten als lebensweltliche Dimension relevant.32 Die Aufklärung brachte umfassende Alphabetisierungskampagnen sowie eine Erleichterung der Bildungszugänglichkeit mit sich und bewirkte, dass Schreiben immer weniger auf bestimmte Professionen beschränkt war.33 Auch wenn nicht alle Schichten gleichermaßen profitierten, sondern hauptsächlich das gehobene Bürgertum, wurde Schreiben zu einem Alltags- phänomen.34 Auch der Wandel des Leseverhaltens hin zu einer stillen und singula- risierten Tätigkeit spiegelt den Prozess eines „habituell werdenden Privatge- brauchs“35 von Literarität sowie die Entstehung einer Privatsphäre in der Aufklärungszeit wider.
Die Veränderung der Medienlandschaft hatte Befürworter und Kritiker. Befürchtet wurde von religiöser Seite, dass die Heilige Schrift durch die Fülle der Erzeugnisse an Bedeutung und Autorität verlieren könnte.36 Zudem wurden Bücher als Ver- führer und Anstifter zur Zuchtlosigkeit gesehen.37 Skepsis wurde auch aus ökonomischen Gründen vorgebracht, weil die unproduktive Beschäftigung mit Büchern das Arbeitsgebot gefährdete.38 Zudem wurde das Bild der lesenden Frau als Gefahr für die bürgerlich-patriarchalische Vorstellung von Arbeit warnend be- schworen.39 Demgegenüber stand eine ,aufgeklärte' Pädagogik, die Lesen und Schreibenlernen als Chance auf Volksbildung, politische Emanzipation und Wissensvermehrung befürwortete.40 Lesen und Schreiben standen sinnbildlich für die freie Entfaltung des Individuums.
Der Rückzug in die Innerlichkeit förderte das Schreiben von Briefen und Tagebüchern, die als Ausdruck der „beiden großen Entwicklungsschübe“41 in Europa - der „Liberalisierung und Individualisierung"42 - an Bedeutung gewannen und schließlich auch Einzug in die Literatur erhielten. In Ergänzung zum standardisierten, offiziellen Brief, entstand der Privatbrief.43 Dieser diente zwecks der Überbrückung von Distanzen und des Gesprächsersatzes im privaten Umfeld vor allem als Beziehungsträger.44 Unter der Prägung der Empfindsamkeit bildete sich schnell „der Topos vom Brief als Spiegel des inneren Menschen“45. Entsprechend entwickelte sich die Briefsprache weg von ihrem offiziellen Charakter hin zur selbstreflektierenden, individuellen Sprache des Herzens46 und wurde insbesondere zu einer „weiblichen Paradegattung“47.
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1 Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise (hrsg. von Karl-Maria Guth). Berlin 2016. S. 169.
2 Vgl. Manfred Osten et al.: Die Wahlverwandtschaften Goethes,bestes Buch‘? Ein Gespräch, in: Hannah Dingeldein et al. (Hrsg.): Schwellenprosa. (Re)Lektüren zu Goethes Wahlverwandtschaften. Paderborn 2018. S. 121-132.
3 Gerhard Neumann: Wunderliche Nachbarskinder. zur Installierung von Wissen und Erzählen in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Gabriele Brandstetter (Hrsg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes „Wahlverwandtschaften“ (Rombach Wissenschaften Reihe Litterae Bd. 96). Freiburg im Breisgau 2003. S. 15-40, hier S. 18.
4 Vgl. Raimar Zons: Faltungen. Der Chronotop der Wahlverwandtschaften, in: Dingeldein, Schwellenprosa. S. 51-72, hier S. 68.
5 Jochen Hörisch: Die Dekonstruktion der Sprache und der Advent neuer Medien in Goethes „Wahlverwandtschaften“, in: Merkur 9 (1998). S. 826-839, hier S. 826.
6 Vgl. Jochen Schmidt: Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, besonders in den „Wahlverwandtschaften“, in: Goethe-Jahrbuch Bd. 121 (2004). S. 165-175, hier S. 172. Gemeint ist zum Beispiel das Kunstwort der Wahlverwandtschaften selbst, das Freiheit und Naturgegebenheit widersprüchlich vereint.
7 Jan Urbich: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Über die Funktion des dekonstruktivistischen Schriftbegriffes für Goethes Wahlverwandtschaften, in: Helmut Hühn / Stefan Blechschmidt (Hrsg.): Goethes „Wahlverwandtschaften“. Werk und Forschung. Berlin, 2010. S. 193-218, hier S. 197.
8 Vgl. Gabriele Brandstetter: Gesten des Verfehlens. Epistolograhische Aporien in Goethes Wv, in: dies., Erzählen und Wissen, S. 41-63, hier S. 49.
9 Vgl. zu den Erscheinungsformen des Todes im Leben z.B.: Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ (Philologische Studien und Quellen Bd. 147). Berlin 1998. Vgl. zur religiösen Betrachtung Ottilies z.B.: Uwe C. Steiner.: „Für sich und andre vielleicht“: Ottilies Selbstsakralisierung und die Lessing-Kritik in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Dingeldein, S. 87-104. Vgl. zum Tod von Otto z.B.: Gabriele Dürbeck: Zur Monstrosität des Kindes. Altes und neues Wissen in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Jahrbuch der Jean- Paul-Gesellschaft 45 (2010), S. 151-167.
10 Urbich, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“, S. 199.
11 Ebd.
12 Roland Borgards: Rezension zu Brandstetter, Erzählen und Wissen, in: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 339-340, hier S. 340.
13 Vgl. Jan Assmann: Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten, in: Aleida Assmann (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis (Archäologie der literarischen Kommunikation Bd. 1) München 1983. S. 64-93.
14 Vgl. Ebd., S. 67.
15 Susanne Lüdemann: Jacques Derrida zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg 2017. S. 50.
16 Platon: Phaidros. Hrsg. und übersetzt von Wolfgang Buchwald. München 1964.
17 Ebd., S. 143.
18 Ebd.
19 Vgl. Tomas Hlobil: Aristoteles und das geschriebene Wort, in: jstor.org, 1994. URL: https://ww- w.jstor.org/stable/23466808 (zuletzt abgerufen am 13.10.2021). S. 11. Zwar knüpfte Aristoteles damit an das Misstrauen gegenüber der Schrift an, machte die Philosophie aber trotz dessen „bewusst zu einer literarischen Hermeneutik“.
20 Lüdemann, Jacques Derrida, S. 49.
21 Vgl. Ebd.
22 Gemeint ist die Tatsache, dass der Leser dem Text ohne kritische Zwischeninstanz quasi ausgesetzt sei. Er kann dem Text unhinterfragt Glauben schenken oder ihn einfach frei interpretieren.
23 Vgl. Paul Goetsch: Einleitung: Zur Bewertung von Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert (Script Oralia 65). Tübingen 1994. S. 1-23, hier S. 5.
24 Vgl. Michael Wetzel: Derrida. Eine Einführung. Ditzingen 2019. S. 36.
25 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt/Main 1974, S. 35.
26 Vgl. Wetzel, Derrida, S. 33. Vgl. bei Derrida, Grammatologie, S. 33.
27 Marcel Beyer: Schrift und Schnitzer, in: Von Sprache sprechen III. Die Thomas-Kling-Poetikdozentur, hrsg. von der Kunststiftung NRW (Schriftenreihe der Kunststiftung NRW Literatur Bd. 13. Düsseldorf 2019. S. 89-111, hier S. 101.
28 Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 68). Tübingen 1999. S. 12.
29 Ebd.
30 Zitiert nach Barbara Hahn: „Weiber verstehen alles a la lettre“. Briefkultur im beginnenden 19. Jahrhundert, in: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen. Zweiter Band 19. und 20. Jahrhundert. München 1988. S. 13-27, hier S. 24.
31 Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003. S. 171.
32 Vgl. Ebd., S. 163.
33 Vgl. Goetsch, Zur Bewertung von Lesen und Schreiben, S. 4.
34 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 169.
35 Ebd., S. 170.
36 Vgl. Goetsch, Zur Bewertung von Lesen und Schreiben, S. 5.
37 Vgl. Hans-Martin Gauger: Die sechs Kulturen in der Geschichte des Lesens, in: Goetsch, Lesen und Schreiben. S. 27-43, hier S. 39f.
38 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 174.
39 Vgl. Goetsch, Zur Bewertung von Lesen und Schreiben, S. 12.
40 Vgl. Ebd., S. 5.
41 Schönborn, Das Buch der Seele, S. 3.
42 Ebd.
43 Vgl. Brandstetter, Gesten des Verfehlens, S. 50. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im Briefroman, der zur dominierenden Form der Romanproduktion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird.
44 Vgl. Peter Bürgel: Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 281-297, hier S. 287.
45 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 224.
46 Vgl. Brandstetter, Gesten des Verfehlens, S. 57.
47 Reinhard M. G. Nickisch: Briefkultur: Entwicklung und sozialgeschichtliche Bedeutung des Frauenbriefs im 18. Jahrhundert, in: Brinker-Gabler, Deutsche Literatur von Frauen. Erster Band vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1988. S. 389-409, hier S. 391. Briefeschreiben war die einzige schriftliche Aktivität, die den Frauen von der Gesellschaft zugebilligt wurde, damit sie keine Konkurrenz für Männer wurden. Trotzdem wurde das Schreiben von Briefen zu einem wichtigen Impulsgeber der weiblichen Emanzipation.