Wozu noch Philosophie. Adorno und die Notwendigkeit der Kritischen Theorie
Philosophie als Negation des Bestehenden
Zusammenfassung
Naiven Optimismus wie den Leibniz’ lehnt die Kritische Theorie zwar ab, räumt jedoch gleichzeitig die virtuelle Möglichkeit einer anderen, besseren Welt ein. Das philosophische Programm der Kritischen Theorie ist die Aufklärung, die nicht etwa abgelehnt, sondern immanent kritisiert wird: Das Sein wird am Schein gemessen; es soll gezeigt werden, dass die vermeintlich aufgeklärte, vernünftige Gesellschaft ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, dass die Versprechen der Aufklärung bislang nicht eingelöst wurden: Die Aufklärung wird zur Selbstreflexion ermahnt. Vertreter*innen der marxistisch geprägten Kritischen Theorie, die Anfang des 20. Jahrhunderts größtenteils, wie Adorno selbst, aus gut situierten, großbürgerlichen Bildungshaushalten stammten, vertraten dabei einen reflektierten Klassenstandpunkt, der sich seiner bürgerlichen Privilegien bewusst war.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Adorno und die Kritische Theorie
2. Philosophie als (Gesellschafts-)Kritik
3. Marx, die Praxis und die Enttauschung uber die ausgebliebene Revolution
4. Adornos Negativismus und die Moglichkeit einer Utopie
5. Fazit: Wozu noch Philosophie heute
Quellen
1. Einleitung: Adorno und die Kritische Theorie
Ihrem „amateurhaften Klang“1 zum Trotz hielt Theodor W. Adorno es Anfang der 1960er Jahre, zu einer Zeit, in der er es bereits nicht nur zu einem angesehenen Philosophen sondern zu einem der wichtigsten kritischen Intellektuellen der jungen Bundesrepublik uberhaupt gebrachte hatte,2 fur notwendig, eine Frage zu formulieren, die da lautet: Wozu noch Philosophie. Die allgemeine Erwartungshaltung an den Autor, „das rhetorisch Bezweifelte“3 allein schon von Berufswegen und personlichem Interesse an der Aufrechterhaltung der eigenen burgerlichen Existenz als Philosophieprofessor her zu bejahen, entspricht fur Adorno, bezeichnend fur dessen Idiosynkrasie gegen „konformistische Identitat“,4 „konformistischer und apologetischer Haltung“5 und wird bereits zu Beginn des Textes enttauscht: der Autor sei sich der Antwort auf die von ihm, wenn auch sicher nicht ganz unabsichtlich ohne Fragezeichen formulierte Frage, „keineswegs gewiG>“.6
Der konkrete Gegenstand, den Adornos Philosophie und die Kritische Theorie, als deren prominentester Vertreter Adorno im Nachkriegsdeutschland galt, negativ behandeln, ist die Gesellschaft. Eine radikale Gesellschaftskritik, quasi die Negation des Leibnizschen Postulats, nach dem wir in der besten aller moglichen Welten leben, ist das Programm Adornos und der Kritischen Theorie uberhaupt. Ihre Pramisse ist, dass die gegenwartige Welt weit hinter der objektiven Moglichkeit, vernunftig und menschlich eingerichtet zu sein, zuruckbleibt. Es ist kennzeichnend fur die Kritische Theorie, dass ihre Kritik als negatives Verfahren nicht transzendent, sondern aus dem Inneren ihres Objekts heraus erfolgt. Naiven Optimismus wie den Leibniz' lehnt die Kritische Theorie zwar ab, raumt jedoch gleichzeitig die virtuelle Moglichkeit einer anderen, besseren Welt ein. Das philosophische Programm der Kritischen Theorie ist die Aufklarung, die nicht etwa abgelehnt, sondern immanent kritisiert wird: Das Sein wird am Schein gemessen; es soll gezeigt werden, dass die vermeintlich aufgeklarte, vernunftige Gesellschaft ihren eigenen Anspruchen nicht gerecht wird, dass die Versprechen der Aufklarung bislang nicht eingelost wurden: Die Aufklarung wird zur Selbstreflexion ermahnt. Vertreter*innen der marxistisch gepragten Kritischen Theorie, die Anfang des 20. Jahrhunderts grofttenteils, wie Adorno selbst, aus gut situierten, groftburgerlichen Bildungshaushalten stammten, vertraten dabei einen reflektierten Klassenstandpunkt, der sich seiner burgerlichen Privilegien bewusst war.
Der Kapitalismus, der das Ganze, in dem sich die Kritische Theorie befindet konstituiert, hat zuerst den Anspruch und im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung auch die notigen Produktivkrafte entfaltet, um Gleichheit, Freiheit und ein Dasein ohne Mangel fur alle Menschen zu gewahrleisten. Eine notwendige Vorbedingung der Kritischen Theorie ist hierbei, dass eine vernunftige Verwaltung der Produktivkrafte durchaus moglich ist. Anthropologische Argumente werden nicht bemuht; das Individuum wird in der Kritischen Theorie als historische Kategorie verstanden.7 Dass Menschen unter den richtigen Verhaltnissen, in einer vernunftig eingerichteten Gesellschaft zu einem solidarischen und humanen Zusammenleben fahig waren, macht den Moglichkeitshorizont der Kritischen Theorie aus. Die grundlegende Frage, die Adorno und die Kritische Theorie stellen lautet hierbei nicht etwa: Wie hat eine vernunftig eingerichtete Gesellschaft auszusehen? Stattdessen lautet die Frage: Warum haben wir diese vernunftige Gesellschaft, ihrer virtuellen Moglichkeit zum Trotz, noch nicht erreicht? Philosophie verfolgte im Institut fur Sozialforschung, in dem sich die Kritische Theorie unter der Leitung von Adornos langjahrigem Freund Max Horkheimer akademisch manifestierte, die Aufgabe „zu begreifen, warum die beherrschten Menschen sich gegen ihr eigenes Interesse der Herrschaft unterwarfen und sich mit ihr identifizierten“ und „die auf diesen Sachverhalt gerichteten interdisziplinaren, zu einem guten Teil empirischen, Forschungen systematisch zu einer materialistischen Theorie der ausgebliebenen gesellschaftlichen Umwalzung zusammenzubringen, um doch noch zu ihr beitragen zu konnen, soweit es eben moglich war.“8
Die Kritische Theorie ist zwar von Grund auf negativ, halt aber an der Moglichkeit einer vernunftigen Gesellschaft fest. Der Vorwurf, den Adorno in Wozu noch Philosophie der zeitgenossischen Philosophie macht, ist, dass sie „durch Abstinenz von bestimmtem Inhalt [...] ihren Bankrott den realen gesellschaftlichen Zwecken gegenuber erklart."9 Wenn Philosophie also noch notig sei, „dann wie von je als Kritik [...]. An ihr ware es, [...] der Freiheit Zuflucht zu verschaffen."10
2. Philosophie als (Gesellschafts-)Kritik
Das Motiv der Kritik zieht sich als eine Art programmatischer roter Faden uber die Jahrzehnte hinweg durch das Adorno'sche Denken; schon in seiner Habilitationsschrift uber S0ren Kierkegaard stellte er „den gesellschaftlichen und den potentiell kritischen Gehalt von Philosophie heraus."11 Adorno meint in Wozu noch Philosophie, „die uberlieferten Philosophen" seien seit den Vorsokratikern Kritiker gewesen.12 In der Folge konzipiert er Philosophiegeschichte als die standige Kritik an denen, die zuvor gedacht haben: Leibniz ubte Kritik am Empirismus, Kant wiederum an Leibniz und Hume, Hegel an Kant, Marx an Hegel, Adorno selbst am Positivismus und der Fundamentalontologie seiner Zeit. „Jene Denker hatten in Kritik die eigene Wahrheit. Sie allein, als Einheit des Problems und der Argumente, nicht die Ubernahme von Thesen, hat gestiftet, was als produktive Einheit der Geschichte der Philosophie gelten mag."13 Der traditionellen Philosophie macht Adorno ihren Totalitatsanspruch zum Vorwurf, „kulminierend in der These von der Vernunftigkeit des Wirklichen";14 eine Apologetik, wie sie dem fur Adornos Denken essenziell wichtigen Idealisten Hegel notorisch haufig unterstellt wird. In ihrem Anspruch der Totalitat, stellt Adorno ausgehend von seinem Verstandnis von Philosophie als Kritik fest, gerat Philosophie „in Konflikt mit ihrer gesamten Uberlieferung."15 In dem Aphorismus Fur Nach-Sokratiker aus Adornos Aphorismensammlung Minima Moralia mahnt er eindrucklich zur Selbstkritik:
„Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was fruher Philosophie hieB, unangemessener, als in der Diskussion, und fast mochte man sagen in der Beweisfuhrung, recht behalten zu wollen. Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von Selbsterhaltung, den aufzulosen das Anliegen von Philosophie gerade ausmacht.“16
Adorno und die Kritische Theorie sind sich der Rolle, die Wissenschaft und Philosophie im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zukommt, bewusst; deswegen ist Kritik an dem zeitgenossischen Wissenschaftsbetrieb unumganglich. Die philosophische Kritik der Gegenwart sieht Adorno mit zwei Schulen konfrontiert, die „als Geist der Zeit, gewollt oder ungewollt, uber akademische Gehege hinaus wirken“: Der logische Positivismus, der vor allem in den angelsachsischen Landern eine Monopolstellung innehat, sowie die ontologischen Richtungen, die von Martin Heidegger ausgehend insbesondere im deutschsprachigen Raum vertreten sind.17 Zeitgeist, stellt Adorno fest, „sind beide Richtungen hochstens als der von Regression [...]. Ihnen gegenuber muBte Philosophie als fortgeschrittenes BewuBtsein sich bewahren, durchdrungen vom Potential dessen, was anders ware“.18 Beide Schulen, beim Positivismus, dessen Programm jegliche Metaphysik ohnehin ablehnt weniger verwunderlich als bei der vom in der Metaphysik geschulten Heidegger ausgehenden Fundamentalontologie, „haben Metaphysik als gemeinsamen Feind erkoren.“19 Adorno wirft dem Positivismus wie der Fundamentalontologie vor, dass Denken bei ihnen „zum notwendigen Ubel“ werde: „Es verliert das Moment von Selbststandigkeit. Die Autonomie der Vernunft entschwindet“, mit ihr „aber auch die Konzeption der Freiheit und virtuell die der Selbstbestimmung der menschlichen Gesellschaft.“20 In diesen Uberlegungen zeigt sich der Einfluss Immanuel Kants und der Aufklarung auf das Adorno'sche Denken. Nicht umsonst fuhrt Adorno in Wozu noch Philosophie affirmativ „Kants beruhmtes Diktum, der kritische Weg sei allein noch offen“ an.21
Die Philosophie Kants blieb Adorno uber seine akademische Laufbahn hinweg als wichtiger Referenzpunkt erhalten. Noch 1969, im Jahr seines Todes, betonte Adorno in einem Gesprach mit Hellmut Becker im Hessischen Rundfunk, dass ihm das Programm Kants, Aufklarung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmundigkeit, „heute noch aufterordentlich aktuell“ erscheine.22 Mit Kant hat Adorno in der Heteronomie des Denkens ein groftes und nicht zu unterschatzendes Ubel erkannt. Heteronomie, „das Autoritare, von auften willkurlich Gesetzte“, stehe „im Widerspruch zur Idee eines autonomen, mundigen Menschen, wie Kant sie unubertroffen formuliert in der Forderung, die Menschheit habe sich von ihrer selbstverschuldeten Unmundigkeit zu befreien.“23 Autonomie bedeutet fur Adorno das „Urteil nach eigener Einsicht im Gegensatz zur Heteronomie, [dem] Gehorsam gegen fremd Anbefohlenes“.24 In dem Kantschen Ausdruck der Autonomie, der „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ sieht Adorno nicht zuletzt auch die „einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz“.25 Dort, wo die Heteronomie uberhand nimmt, so Adornos Erkenntnis, lauert das Aufterste, der Ruckfall in die Barbarei.
Der Begriff der Wissenschaft meinte einmal, „als Forderung, nichts unbesehen und ungepruft zu akzeptieren, Freiheit, die Emanzipation von der Bevormundung durch heteronome Dogmen. Heute ist Wissenschaftlichkeit in einem Maft, vor dem einen schaudert, ihren Jungern zu einer neuen Gestalt der Heteronomie geworden.“26
In Wozu noch Philosophie beklagt Adorno, dass Philosophie durch ihre trendkonforme Etablierung als Spezialfach „verleugnet, woran sie ihren eigenen Begriff besaft: Freiheit des Geistes, der dem Diktat des Fachwissens nicht pariert.“27 In der fortschreitenden Entwicklung ihres Missverhaltnisses zu den positiven Wissenschaften, die nach Adorno ungefahr seit Kants Tod zu beobachten ist,28 hat
1 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.172).
2 Schweppenhauser, Gerhard: Theodor WAdorno zur Einjiihrung (S.14).
3 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.172).
4 Schweppenhauser, Gerhard: Theodor W. Adorno zur Einfuhrung (S.8).
5 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.172).
6 Ebd. (S.172).
7 Schweppenhauser, Gerhard: Theodor WAdorno zur Einjiihrung (S.81).
8 Ebd. (S.9). Die Uberlegungen der Kritischen Theorie zu Zeiten Adornos und Horkheimers beschrankten sich jedoch nicht nur auf die kapitalistische Gesellschaft, sondern schloBen auch „die Kritik der sowjetischen Verfalschung der Marxschen Theorie zur Legitimationsideologie autoritarer Herrschaft ein.“ (Ebd., S.24).
9 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.173).
10 Ebd. (S.176).
11 Schweppenhauser, Gerhard: Theodor WAdorno zur Einfuhrung (S.10).
12 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.174).
13 Ebd.
14 Ebd. (S.173).
15 Ebd. (S.174).
16 Adorno, Theodor W: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschadigten Leben (S.78).
17 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.175).
18 Ebd. (S.183).
19 Ebd. (S.175).
20 Ebd. (S.176).
21 Ebd. (S.174).
22 Adorno, Theodor W: Erziehung zurMundigkeit. In: Ders. (Hg.: Gerd Kadelbach): Erziehung zurMundigkeit. Vortrage und Gesprache mit Hellmut Becker 1959-1969 (S.133).
23 Adorno, Theodor W.: Erziehung — wozu?. In: Ders. (Hg.: Gerd Kadelbach): Erziehung zur Mundigkeit. Vortrage und Gesprache mit Hellmut Becker 1959-1969 (S.107).
24 Schweppenhauser, Gerhard: Theodor W. Adorno zur Einfuhrung (S.20).
25 Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz. In: Ders. (Hg.: Gerd Kadelbach): Erziehung zur Mundigkeit. Vortrage und Gesprache mit Hellmut Becker 1959-1969 (S.93).
26 Adorno, Theodor W.: Philosophie und Lehrer. In: Ders. (Hg.: Gerd Kadelbach): Erziehung zur Mundigkeit. Vortrage und Gesprache mit Hellmut Becker 1959-1969 (S.45).
27 Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Eingriffe: Neun kritische Modelle (S.172-3).
28 Ebd. (S.172).