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Philosophie und Praktik der Stoiker. Transformatives Selbst-Coaching in der Antike

©2019 Studienarbeit 28 Seiten

Zusammenfassung

Diese Abhandlung beinhaltet die beiden Biographien von Seneca und Aurelius, eine kompakte und auch für junge Menschen griffige Darstellung der stoischen Philosophie anhand von sieben Themen und einen Abschnitt zur Praktik eines Stoikers. Wir alle glauben an irgendeinen Zweck, bewusst oder unbewusst, ansonsten hätten wir keinen Grund irgendetwas zu tun.9 Die einen glauben vielleicht, dass das Streben nach Lustgewinn und Schmerzvermeidung zu einer Glückseligkeit führe, die Stoiker dagegen glauben an den absoluten Wert von Tugendhaftigkeit.10 Sie wollen ein Leben führen, in dem sie anstreben, nur das zu tun, was tugendhaft, sittlich geboten, löblich oder weise genannt werden könnte.

Leseprobe

INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2.Biographien zweier Stoiker
2.1. Lucius Annaeus Seneca
2.2. Marcus Antonius Aurelius

3. Philosophie der Stoiker
3.1. Interpretationen
3.2. Wirkungsbereich
3.3. Akzeptanz
3.4. Tugendhaftigkeit
3.5. Perspektiven
3.6. Verbundenheit
3.7. Training

4. Praktik des Stoikers
4.1. Allgemeines
4.2. Praemeditatio Malorum

5. Zusammenfassung und Diskussion

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Übersetzungen:

Sekundärliteratur:

Weitere Literaturquellen:

Internet-Quellen:

Abbildungsverzeichnis

1.EINLEITUNG

Wenn ein Mensch nicht weiß, welchen Hafen er ansteuert, ist kein Wind, der richtige Wind.1 Die Stoa ist eine philosophische Schule der Antike. Wie viele antike Philosophen, bemühten sich auch die Stoiker darum, “die Natur der Dinge und insbesondere die Natur des Menschen in ihrem eigentlichen Wesen zu ergründen.”2 Aus ihren daraus erlangten Erkenntnissen zogen sie radikale und konsequente Schlüsse für ihre eigene Lebensführung. So haben praktizierende Stoiker eine klare Vorstellung von ihrem höchsten Ideal und ihren damit verbundenen Werten. Sie entwickeln bewusst eine Lebensphilosophie, nach der sie all ihr Sein ausrichten.

Vielleicht meinst du, Philosophie seie nur etwas für angestaubte und lebensferne Männer. Vielleicht stellst du dir unter einem Philosophen einen kleinlichen Menschen vor, der neben dem Lesen alter Bücher und dem Äußern von rätselhaften und grotesken Kommentaren nicht weiter auffällt. Vielleicht haben solche Vorurteile in einigen Fällen ihre Berechtigung. Trotzdem ist es nicht zu rechtfertigen, die Idee des Philosophierens, als wichtigste Fähigkeit jedes Menschen, zu verwerfen. Der Hauptgrund für die Beschäftigung mit Philosophie ist nämlich, dass der Philosophierende die bewusste Formulierung und Strukturierung eigener ausgereifter Gedanken und Ideen zu existenziellen Themen lernt. Das heißt, der Philosophierende lernt (reflektiertes) Denken. Denken ist äußerst wichtig, weil durchdachte Handlungen dazu tendieren, weniger schmerzhaft und deutlich effektiver zu sein, als Handlungen, die auf impulsivem, ignorantem und instinktgesteuertem “Denken” basieren. Wenn du eher ein Leben haben willst, das von Kompetenz, Sinnhaftig- keit, Originalität und Sicherheit geprägt ist, als eines, das jammervoll, bestialisch und kurz ist, dann musst du sorgfältig über existenziellen Themen nachdenken. Durch Schrift und Tat geben die Stoiker Hinweise zur praktischen Verwirklichung ihrer Ideen, die verschiedene Perspektivenwechsel anregen.

Für deine Motivation, Integrität und Glückseligkeit sind deine eigenen Ideale und Werte grundlegend.3 Sind diese allerdings, unterstützt durch ein illusionäres Verständnis anderer Menschen und deiner eigenen impulsiven, evolutionsbiologischen Instinkte, unbewusst konditioniert worden, dann wäre es nicht verwunderlich, wenn du dich hauptsächlich demotiviert, entfremdet4 und erbärmlich fühlst. Wenn du stattdessen bewusst stimmige und differenzierte Ziele, Prioritäten und Wertvorstellungen gebildet hast, dann kannst du auch dein ganzes Wesen auf das ausrichten, was dir wichtig ist. Das hat den Vorteil, (1) dass deine Gedanken, Worte und Taten eher in eine zu bevorzugende Richtung führen; (2) 2 dass du weißt, was du willst, und damit auch, was du nicht willst; und (3) dass du dadurch, deine kurze Zeit in diesem Leben zufriedenstellender investieren kannst.5

Dagegen begünstigen Unklarheit und willentliche Unwissenheit unnötigen Stress. Dieser Stress, also zum Beispiel eine Reaktion auf etwas eigentlich Triviales, kann zu übermäßigem Energieaufwand und schnellerem Altern (zusammen mit all den negativen gesundheitlichen Folgen des Alterns) führen.6 Der aus dem Philosophieren gewonnene Ethos und die damit verbundene klare Intention, kann daher auch zu einem geistig und körperlich gesünderem Leben führen.

Zugegebenermaßen ist es heutzutage durchaus schwierig, sich ethische Gedanken zu machen, da in seinem Fundament der eigene Ethos immer auf einem Glauben basieren muss. Es ist nämlich zu bemerken, dass Nichts sinnvoll ist oder sein kann, wenn man es objektiv betrachtet (und fünf-, sechsmal “warum” fragt). Das heißt jedoch nur, dass Fragen nach dem Wert einer Handlung nicht in der naturwissenschaftlich-empirischen Weltsicht zufriedenstellend beantwortet werden können, aber nicht, dass phänomenologisch7 betrachtet, die eigenen Handlungen keinen Wert haben. Das definitorische Ziel der Naturwissenschaften ist es ja, Erkenntnisse zu gewinnen, die objektiv, also frei von subjektiven Werturteilen, sind. Mit dem empirischen Denken haben wir das beste Werk­zeug entwickelt, um die Welt in der Hinsicht zu beschreiben, in der wir sie einvernehmlich begreifen können und um die effektivste Art und Weise festzulegen, einen bestimmten Zweck zu erreichen — einen bestimmten Zweck vorausgesetzt.8 Doch wie bestimmen wir diesen Zweck?

Wir alle glauben an irgendeinen Zweck, bewusst oder unbewusst, ansonsten hätten wir keinen Grund irgendetwas zu tun.9 Die einen glauben vielleicht, dass das Streben nach Lustgewinn und Schmerzvermeidung zu einer Glückseligkeit führe, die Stoiker dagegen glauben an den absoluten Wert von Tugendhaftigkeit.10 Sie wollen ein Leben führen, in dem sie anstreben, nur das zu tun, was tugendhaft, sittlich geboten, löblich oder weise genannt werden könnte.

Um zu verstehen, was das heißt und wie sie es begründen, bereisen wir zunächst einmal (2.) das Leben von zwei Stoikern. Danach betrachten wir (3.) einige der paradoxen Ideen und Antworten, die sie gefunden haben. Und zuletzt werfen wir einen Blick auf (4.) Gewohnheiten, die die Stoiker kultiviert haben, um gut zu leben. Abschließend folgt (5.) eine Zusammenfassung und eine nähere Betrachtung im Hinblick auf die persönliche Weiterentwicklung.

2. BIOGRAPHIEN ZWEIER STOIKER

Stoiker streben ein tugendhaftes Leben an. Dies manifestiert sich hauptsächlich in ihren Taten und weniger in ihren Worten. Viele der bewundernswertesten Stoiker haben im Laufe ihres Lebens nichts geschrieben, was zur Veröffentlichung bestimmt war. Sie haben in erster Linie Verantwortung für sich übernommen; für die Güte ihrer Taten, Worte und Gedanken.

2.1. Lucius Annaeus Seneca

Als Opfer von Intrigen, als Heuchler beschimpft und letzten Endes zum Tode verurteilt, scheint er kein einfaches Leben gehabt zu haben. Das heißt jedoch nicht, dass das Leben von Lucius Annaeus Seneca nicht gut war:

Um ca. 1 v. Chr. im spanischen Cordoba geboren, wächst Seneca in Rom auf. Früh entdeckt er seine Faszination zur Philosophie. Er beschäftigt sich jahrelang mit den Studien klassischer Texte und der Rhetorik. Mit 35 Jahren begann er seine politische Laufbahn in Rom. Durch verschiedene Intrigen wurde Seneca 41 n. Chr. von Kaiser Claudius nach Korsika verbannt. Hier stellt er sich unter anderem die rhetorische Frage, wo man wohl einen Ort finden könne, der dürftiger an Produkten, wilder an Menschen und unfreundlicher im Wetter sei.11 Während diesem Exil liest und schreibt er viel. Doch vor allem praktiziert er seine stoische Philosophie.

49 n. Chr. heiratet Kaiser Claudius Agrippina. Sie setzt die Rückkehr Senecas durch, damit dieser ihrem zwölfjährigen Sohn als Hauslehrer dienen kann. Claudius adoptiert ein Jahr später diesen Sohn, der uns heute unter dem Namen Nero geläufig ist. In den nächsten Jahren wird Seneca ein viel gelesener Autor von Tragödien und philosophischen Schriften. Zu der Zeit gilt er als Repräsentationsfigur für die stoischen Philosophie und als ein auffallend wohlhabender Politiker.12

Als Nero dann 54 n. Chr. Kaiser wird, ernennt er Seneca und den Prätorianerpräfekt13 Sextus Africanus Burrus zu innersten Beratern und Mit-Verwaltern. Fünf Jahre lang floriert das Römische Kaiserreich; ein Verdienst der beiden Berater, die sich zusammen unterstützen und ergänzen, sowie die zügellosen Vergnügungen Neros unterbinden.14 Auch Senecas Vermögen blüht auf. Sei es durch Zuwendungen des Kaisers, Aufmerksamkeiten von dankbaren Mitbürgern oder durch seine Fähigkeiten, ein umsichtiger Investor und Kreditgeber zu sein.15

59 n. Chr. findet Agrippina, durch ihren eigenen Sohn veranlasst, den Tod.16 Jener nimmt in der Folgezeit despotischere Züge an. Seneca und Burrus sind zwar noch Berater und 4 Verwalter bei Regierungsgeschäften, haben aber weit weniger Einfluss auf Nero als früher. Nachdem 62 auch Burrus verstirbt, sieht Seneca die Zeit gekommen, in den Ruhestand zu gehen. Nach einigen Auseinandersetzungen über die Bedingungen und schließlich einer Lobrede Nero's wird Seneca aus dem Staatsdienst entlassen.17

Den Rückzug aus dem vita activa (lat. für Tätiges Leben) sieht Seneca nicht im Gegensatz zu der zum-Handeln-aufrufenden stoischen Philosophie. So legt er in De Otio (lat. für Über die Muße) dar, dass es für einen Philosophen wichtig sei, den Menschen zu nützen: “Wenn es sich ermöglichen lässt, vielen; wenn nicht, wenigen; wenn nicht, den Nächsten; andernfalls sich selbst.”18 Da er nach seiner Einschätzung zu Folge mehr Nutzen erbringen kann, indem er sich in Kontemplationen und Studien begibt, sieht er seinen Ruhestand moralisch gerechtfertigt. Aus dieser Zeit stammen neben weiteren philosophischen Abhandlungen auch seine, als Hauptwerk bezeichneten, Epistulae morales ad Lucilium (lat. für Moralische Briefe an Lucilius).

Nach drei Jahren (65 n. Chr.) nimmt jedoch die Zeit seiner friedlichen Muße ein jähes Ende. Infolge eines Mordanschlags auf Kaiser Nero bricht eine Welle von Denunziationen aus. Opfer dieser wird auch Seneca. Nero befiehlt die Selbsttötung. Seneca nimmt dies mit Gelassenheit auf.19 Ob es nun gerecht und unmenschlich sei, wenn es von seinem Schicksal so gewollt ist, liebt er auch die letzte seiner Taten. Hier zeigt sich in ihm seine tief verwurzelte Philosophie. So wie Sokrates bei seiner Hinrichtung, gibt sich auch Seneca dem Urteil hin. Weil es ihm nicht mehr gestattet ist, ein Testament zu verfassen, hinterlässt er laut Tacitus nur das eine, was ihm wirklich eigen sei, das Bild seines Lebens, das wohl vortrefflicher und herrlicher als alles andere von ihm sei.20 Er tröstet noch seine Liebsten und schneidet sich dann die Arterien der Arme auf, öffnet auch die seiner Beine. Nur sein Blut fließt langsam. Er trinkt aus einem Schierlingsbecher.21 Dessen Gift wirkt ebenfalls nur sehr langsam. Schließlich erstickt er sich im Dampf eines Wasserbades.

Seneca war kein zurückgezogener Intellektueller, sondern ein aktiver und vielschichtiger Mann. Auch ohne die philosophischen Schriften, die erhalten geblieben sind, würde er uns noch aus mindestens drei anderen Gründen bekannt sein können. Als Dramatiker konnte er immer wieder seine Leser begeistern. Als Investor scheint er erfolgreich Projekte durchgeführt zu haben.22 Und als bekannter römischer Staatsmann und Berater des Kaiser Nero hat er einen beachtlichen Einfluss auf die Politik seiner Zeit gehabt. Auch Jahrhunderte später wird er wohl immer wieder z.B. mit Shakespeare, Platon oder gar Jesus in einem Satz genannt.23 Seine Schriften sind eine wunderbare und gut lesbare philosophische Lektüre zu fröhlichen, wie auch traurigen Zeiten.

Bevor wir unseren zweiten Stoiker näher kennenlernen, ist noch Epiktet zu erwähnen. Er galt wohl als einer der namhaftesten Philosophen des zweiten Jahrhundert n. Chr. bis zum Ende des römischen Kaiserreiches.24 Ganz im Gegensatz zu Seneca ist uns von ihm kein einziges geschriebenes Wort erhalten geblieben. Vermutlich, weil er auch keines zu Papier gebracht hat. Wie Sokrates Leben, ist uns auch das Leben des ehemaligen Sklaven und späteren stoischen Philosophen-Lehrers nicht durch eigene Werke bekannt. Die von ihm erhalten gebliebenen Lehren sind uns nur wegen Notizen zugänglich, die sein Schüler Arrian gemacht hat. Uns ist nur noch ein Teil dieser Aufzeichnungen überliefert worden. Doch im damaligen Rom waren persönliche Notizen von seinen Lehrstunden und Diskussionen ständig im Umlauf.25 Mit solchen Notizen und vielen anderen philosoph­ischen Texten vertraut, war auch unser zweiter Stoiker.

2.2. Marcus Antonius Aurelius

Sage zu dir morgens: Heute werde ich mit einem unbedachtsamen, undankbaren, unverschämten, betrügerischen, neidischen, ungeselligen Menschen zusammentreffen. Alle diese Fehler sind Folgen seiner Unwissenheit hinsichtlich des Guten und des Bösen.26 Wir würden erwarten, dass solch ein Ausspruch nur von jemanden kommen kann, der schlecht behandelt wird und wie ein Feldsklave tägliche Herabwürdigungen ertragen muss. Doch diese Worte schrieb der damals mächtigste Mann des Kaiserreiches: Marcus Antonius Aurelius, Kaiser von Rom.

Als Sohn einer reichen und politisch angesehenen Familie, wurde er 121 n. Chr. in Rom geboren.27 Wie damals üblich erhielt er von Privatlehrern in Latein und Griechisch Unterricht. Sein Philosophielehrer Diognetus inspirierte ihn schon mit zwölf Jahren, als Jugendlicher der Oberschicht, auf dem Boden zu schlafen und mit einem schlichten Umhang bekleidet zu sein. Es flammte in ihm eine frühe Begeisterung für den philosophisch, spartanischen Lebensstil auf.28

Auch der nachfolgende Philosophielehrer und spätere Staatsmann Junius Rusticus hat Aurelius wesentlich geprägt. Dieser stattete seinen Schüler unter anderem mit den eigenen persönlichen Notizen von Epiktets Lehrstunden aus. Aurelius lernte nun, dass es nicht darum gehe, auf dem Boden zu schlafen oder Dialoge zu schreiben, sondern einen guten Charakter zu entwickeln.29 Rusticus habe nicht nur viele stoische Tugenden gelebt, sondern ihm auch den Wert gezeigt, sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren.30 Sein ganzes Leben gibt Marcus Aurelius dann diesem langsamen und mühsamen Prozess hin. Einem Prozess, der sein Innerstes transformierte und ihn wohl zu dem Philosophen-Kaiser machte, den Platon sich einst ausgemalt hatte.31

Mit 16 Jahren (138 n. Chr.) wird er von seinem Onkel Antonius Pius adoptiert. Dieser wurde zuvor von Kaiser Hadrian adoptiert, der damit seine Nachfolge sichern wollte. Kurz danach stirbt Hadrian eines natürlichen Todes. Aurelius ist in der Regierungszeit seines Stiefvaters von unvergleichbarem Wert. Es ist bemerkenswert, schreibt Birley in seiner Aurelius-Biographie, dass es ihm möglich war, dreizehneinhalb Jahre lang die Rolle eines Vize-Kaisers auszufüllen, ohne den Verdacht zu erwecken, ungeduldig die eigene alleinige Herrschaft innehaben zu wollen.32

Nach dem Tod von Kaiser Antonius, wird Marcus Aurelius Kaiser von Rom. Anders als die relativ ruhige und unspektakuläre Herrschaft des Vorgängers, ist seine Regierungszeit von Ereignissen und Herausforderungen aller Art geprägt. Doch er zweifelt nicht an dem Wert von Seelenfrieden. Und wie für viele heutzutage war es auch damals alles andere als einfach diesen Frieden zu finden: Er litt an chronischen Krankheiten, vermutlich einem Geschwür. Sein Familienleben war ein stetiger Anreiz für Sorgen: Einige seiner Kinder starben. Es waren Gerüchte über die Untreue seiner Frau im Umlauf. Dann kommen noch die Sorgen hinzu, eines der größten Reiche der Menschheitsgeschichte zu regieren: So entwickelten sich an allen Ecken und Rändern zahlreiche Aufstände, Kriege, und eine Verschwörung. Zu dem kamen noch Seuchen aus fernen Länder, Hungersnöte und ein Erdbeben dazu.33 “Das übliche also”, würde Marcus Aurelius nach dieser Aufzählung sagen34 und dann darauf verweisen, wie viel Freude es mache, all diese scheinbar schrecklichen und zerstörerischen Eindrücke loszulassen und Frieden in dem Lauf der Dinge und in der eigenen Charakterstärke zu finden.35

Anfang 180, und nach Jahren der Herausforderungen, verschlimmerte sich eine seiner Krankheiten erheblich. Von diesem Zustand waren seine Soldaten zutiefst bewegt, schreibt Birley, denn sie liebten ihn wie keinen anderen Kaiser.36 Mit sanfter, aber bestimmter Hand soll er seine Armeen geführt haben. Weiter wird er als ein Kaiser beschrieben, der allen Menschen Güte entgegenbrachte. Mit ehrlicher Offenheit respektierte er die Gesetze, den Senat und die freie Meinungsäußerung aller Bürger.37 Durch den Verzicht auf Essen und Trinken beschleunigte er das Voranschreiten der Krankheit. Er starb am 17. März 180 nahe Wien.

Marcus Aurelius war wohl ein außergewöhnlich guter und außergewöhnlich einsamer Kaiser. In der ungewöhnlichen Position eines mächtigen Herrschers über Menschen, von denen nur die Wenigsten das gleiche wertschätzten wie er; in einer Welt von skrupellosem Macht- und blindem Geld-Streben; in einer Welt von unvorhersehbarem Leid und unfassbarer Gewalt, war es für ihn das höchste Gut nach Tugendhaftigkeit zu streben. Mit der Niederschrift seiner stoischen Selbstbetrachtungen hat er uns ein philosophisches, unvergleichlich persönliches und realistisch bestärkendes Werk hinterlassen.

3. PHILOSOPHIE DER STOIKER

Wie das Leben an sich, hat eine Philosophie des Lebens es an sich, dass alle Aspekte auf die ein oder andere Weise zusammenhängen und zusammenarbeiten. Somit wird es in den folgenden Ideen Überschneidungen und Beeinflussungen geben.

3.1. Interpretationen

Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.38 Die Stoiker unterscheiden also zwei Aspekte unserer Wahrnehmung der Welt. Der erste Aspekt umfasst die Realität der empirisch-messbaren und objektiv-beschreibbaren Dinge. Diesen Aspekt können wir Menschen lernen, von dem zweiten zu trennen. Der zweite ist die Realität der emotional-relevanten und subjektiv-motivationalen Erfahrungen von den Dingen. Ein Beispiel: Eine Schulstunde ist objektiv immer 45 Minuten lang. Diese Zeit kann jedoch subjektiv wie eine Ewigkeit erscheinen. In einem anderen Fall können 45 Minuten wie im Fluge vergehen. Anderes Beispiel: Angenommen wir können lesen. Dann bilden wir, grob gesehen, aus Farbpunkten Buchstaben, aus Buchstaben Wörter, und aus Wörter Sätze. Das können wir (weil wir lesen können) als eine objektive Realität beschreiben. Doch der Sinn und Zusammenhang der Sätze ist eine subjektive Realität. Ob wir uns für den Text nun interessieren, auf ihn fokussieren und wie wir ihn verstehen hängt entscheidend von unserer jeweiligen Motivation und von unseren Emotionen ab. Die wiederum werden von unseren individuell und sozial konstruierten Erfahrungen, unserem biologischen Zustand, sowie unseren Zielen beziehungsweise Werten beeinflusst.39 Die Welt ist einerseits einfach, was sie (objektiv) ist, und andererseits, was wir (subjektiv) aus ihr machen.

Um besser leben zu können, werden die Stoiker Schöpfer ihrer eigenen Welt. Auch wenn alles durch eine höhere Instanz vorbestimmt oder alles Zufall ist, liegt die subjektive Interpretation des Geschehenden trotzdem in unserer Hand.40 So weist Seneca beispielsweise darauf hin, dass es vielleicht nicht in unserer Macht lag, unsere Eltern zu wählen; dass es Schicksal oder Zufall war. Doch wir können entscheiden, wessen Kinder wir sein wollen.41 Das heißt, in welchen Umständen auch immer wir sind, wir wählen die Ideale, die wir anstreben. Mit unseren Gedanken formulieren und verändern wir unsere Perspektive auf die Welt und unsere Einstellung zu ihr. Von diesem selbstkreierten Kontext, dem motivatonalen Rahmen, also der Geschichte, die wir uns erzählen, hängen unsere Emotionen ab.42 Bekanntlich können wir Menschen vielerlei Geschichten erfinden. Vermutlich sind die meisten davon impulsiv, unbewusst oder gar von außen aufgedrückt in unsere Gedankenwelt gekommen. Es scheint also sinnvoll, uns bewusst eher unvoreingenommene und lebensbejahende Geschichten auszudenken und zu erzählen.43

3.2. Wirkungsbereich

Von den Dingen stehen die einen in unserer Gewalt, die anderen nicht. In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere Abneigung, kurz: alles, was von uns selbst kommt. Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äußere Stellung, mit einem Wort, alles, was nicht von uns selbst kommt. 44 Die Stoiker treffen eine weitere Unterscheidung. Es gibt Dinge, die stehen unter unserem Einfluss und Dinge, die nicht unter unserem Einfluss stehen. Wenn wir uns (bewusst oder unbewusst) dafür entscheiden, etwas zu begehren, dass nicht von uns abhängt, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir unseren inneren Frieden nicht finden können. Wenn wir nicht das bekommen, was wir wollen, regen wir uns auf; und wenn wir es bekommen, haben wir Angst es zu verlieren. Wir sollten aufhören solche Spielchen zu spielen.45

Der Satz “Nicht in unserer Gewalt [ist] [...] alles, was nicht von uns selbst kommt” kann zweideutig interpretiert werden. Einerseits gibt es Dinge, über die wir keinerlei Kontrolle haben, und andererseits Dinge, über die wir nur nicht komplette Kontrolle haben.46 Die Natur kümmert sich nicht einen Deut darum, wie wir auf ihren Regen reagieren. Wir können uns über Dinge außerhalb unserer Kontrolle beschweren und mit anderen Menschen gegen sie wüten. Wir können uns in unserem bemitleidenswerten Dasein mit anderen Menschen kurzzeitig erleichtert fühlen, doch ändert das alles nichts. Die Zeit, die wir mit Ärger, Trotz oder Verzweiflung verbringen, investieren wir gleichzeitig nicht in Dinge, die wir verbessern können. Also sollten wir so etwas wie den Regen einfach Regen sein lassen und einen Schirm einpacken.

Bei Dingen, über die wir nur zum Teil Kontrolle haben, empfehlen die Stoiker, die eigenen Ziele nach innen zu verlegen, in einen Bereich, den wir kontrollieren können.47 Angenommen du willst einen Marathon beenden, gewinnen und eine Medaille dafür bekommen. Das sind zwar schöne Ziele, sie zu erreichen, liegt jedoch nicht vollständig in deiner Hand. Bei der Hälfte fangen deine Beine oder dein Bauch an, sich zu beschweren. Am Ende wirst du doch noch überholt. Und weil du dann so wütend und unsportlich reagierst, bekommst du auch keine Medaille. Ein Stoiker dagegen will nicht am Ende des Weges ankommen, sondern den Weg gut gegangen sein. Er will etwas nicht mehr gewinnen, sondern es tugendhaft anstreben. Er will nicht haben, sondern sein. Nach den ersten beiden Ideen wird klar, dass nur wir allein dafür verantwortlich sind, wie wir fühlen, was wir denken oder glauben. Wir sind verantwortlich dafür, wie wir auf etwas reagieren und mit welcher Intention wir in eine Situation gehen. Doch was dann um uns herum passiert, liegt zum großen Teil nicht in unserer Macht. Es ist erst einmal erschreckend und erschütternd, dass niemand, nur wir selbst, für unser scheinbar bemitleidenswertes Dasein schuldig sein können. Doch dann ist es auch unfassbar bestärkend. Denn was auch immer passiert, es liegt in unserer Macht, ein gutes, großmütiges Leben zu führen.

[...]


1 Freie Übersetzung von “When a man does not know what harbour he is making for, no wind is the right wind.” [Seneca, Epist, LXXI, (2).]

2 Aus der Einleitung zu Cicero, finibus auf S. 6.

3 Beispielhaft hierzu vgl. Peterson (1999), S. 13 f.

4 Entfremdet fühlt sich beispielsweise jemand, den Ernest Becker, nach Søren Kierkegaard, zu den "unauthentischen Menschen [zählt]. Menschen, die es vermeiden, ihre eigene Einzigartigkeit zu entwickeln; die eine Art des unkritischen und gewohnten Lebens befolgen, zu der sie als Kinder konditioniert wurden. Sie sind unauthentisch, weil sie nicht zu sich selbst gehören, nicht ihre eigene Person sind, nicht von ihrem eigenen Innersten aus handeln, nicht ihre eigene Realität sehen; Sie sind die eindimensionalen Menschen, die völlig in die illusionären und fiktionalen Spiele eingetaucht sind, die in ihrer Gesellschaft gespielt werden, und die ihre sozialen Konditionierungen nicht überwinden können: die Businessleute im Westen, die Bürokraten im Osten, die Stammesleute, eingeschlossen in ihrer Tradition — alle Menschen, die nicht verstehen, was es bedeutet, für sich selbst zu denken, und die, würden sie es verstehen, bei der Vorstellung solcher Kühnheit und Entblößung zurückschrecken.” Freie Übersetzung von [Becker (1973), S. 73 f.]

5 So beobachtet Seneca, dass wir ohne ein erstrebenswertes Ideal unser Leben verschwenden.[Vgl. Seneca, Brevitate, (2).]

6 Beispielhaft hierzu vgl. Peters, McEwen, and Friston (2017), S. 184 f. oder vgl. Hirsh, Mar, and Peterson (2012), S. 315.

7 i.e. sich auf die Phänomenologie beziehend. Nach Husserl sollen dabei alle Dinge und Erscheinungen der Welt so erfasst und begriffen werden, wie sie sich dem Bewusstsein im Erleben originär zeigen, also ganzheitlich, geistig-intuitiv und sinnstiftend. Alle rationalen, theoretischen und historisch bedingten Zugänge sollen zunächst ausgespart bleiben. [vgl. ”phänomenologisch” beim Online-Wörterbuch wortbedeutung.info, https://www.wortbedeutung.info/phänomenologisch/, Abruf am 27.02.2019.]

8 Vgl. Peterson (1999), S. 9.

9 Zu was eine vollkommene rationale und komplett illusionsfreie (nihilistische) Weltsicht führen würde, zeigt Dostojewski in seinem außergewöhnlichen und revolutionären Werk “Notes from Underground” auf. Es wird klar, dass Vernunft eine vorzügliche Sache ist, aber auch nur ein Teil von dem, was uns Menschen und die ganze Natur ausmacht. [vgl. Dostoevsky (1864), Part 1, VIII.] Und weiter kommt Roy Baumeister zu dem Schluss, dass ein optimales psychologisches Funktionieren mit einer leichten bis mäßigen Verzerrung in der Wahrnehmung von sich selbst und der Welt verbunden sei. Das eigene Leiden als willkürlich und sinnlos wahrzunehmen, helfe nicht, damit zurechtzukommen, auch wenn das Leiden tatsächlich bedeutungslos und zufällig war. [Baumeister (1989), S. 184.]

10 zur Tugendhaftigkeit siehe Abschnitt 3.4.

11 Seneca, Helviam, VI, (4).

12 Vgl. Veyne (2003), S. 10.

13 Der Prätorianerpräfekt ist der Befehlshaber der “Garde des Kaisers” (Prätorianer)

14 Vgl. Tacitus, XIII, (3).

15 Vgl. Veyne (2003), S. 11 f.

16 Vgl. Tacitus, XIV, (8).

17 Vgl. Tacitus, XIV, (54).

18 Seneca, De Otio, III, (5).

19 Vgl. Tacitus, XV, (62-64).

20 Wörtliche Übersetzung von “imaginem vitae suae” [Vgl. Tacitus, XV. (62).] Hiermit meint er wohl die Erinnerungen und den Eindruck, den sein Charakter auf seine Mitmenschen gemacht hat.

21 Selbsttötung beziehungsweise Hinrichtung durch den Trank aus einem Schierlingsbecher war in ates beispielsweis ben.

22 Vgl. Tacitus, XIII, (42).

23 Aus der Einleitung zu Seneca, Letters, auf S. 25.

24 Vgl. Hadot (2001), S.59.

25 Vgl. Hadot (2001), S. 66

26 Freie Übersetzung von “When you wake up in the morning, tell yourself: The people I deal with today will be meddling, ungrateful, arrogant, dishonest, jealous, and surly. They are like this because they can’t tell good from evil.” [Aurelius, II, 1.]

27 Vgl. Hadot (2001), S. 1.

28 Vgl. Hadot (2001), S. 6 f.

29 Vgl. Hadot (2001), S. 10.

30 Vgl. Aurelius, I, 7.

31 Vgl. Irvine (2009), S. 57.

32 Vgl. Birley (2001), S. 104.

33 Vgl. Irvine (2009), S. 58 f.

34 Beispielhaft hierzu vgl. Aurelius, VII, 48; oder X, 27.

35 Beispielhaft hierzu vgl. Aurelius, V, 2; oder VIII, 43.

36 Vgl. Birley (2001), S. 209.

37 Vgl. Hadot (2001), S. 300 ff.

38 Epiktet, Handbüchlein, 5, (1).

39 Vgl. Peterson (1999), S. 13.

40 Vgl. Aurelius, IX, 28.

41 Freie Übersetzung von “We are wont to say that it was not in our power to choose the parents who fell to our lot, that they have been given to us by chance; yet we may be the sons of whomsoever we will.” [Seneca, Brevitate, (42).]

42 Vgl. Peterson (1999), S. 18.

43 Wie Donald Robertson in seinem Buch “The Philosophy of Cognitive-Behavioural Therapy” (2010) beschreibt, spielen diese Ideen eine entscheidende Rolle für die philosophische Grundlage der Kognitiven-Verhaltens-Therapie. [vgl. Robertson (2016)]

44 Epiktet, Handbüchlein, 1, (1).

45 Für Hinweise dazu, siehe Abschnitt 4.2.

46 Vgl. Irvine (2009), S. 87 ff.

47 Vgl. Irvine (2009), S. 96.

Details

Seiten
28
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783346706119
ISBN (Paperback)
9783346706126
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport (vormals H:G Hochschule für Gesundheit & Sport, Technik & Kunst)
Erscheinungsdatum
2022 (August)
Note
1,0
Schlagworte
philosophie praktik stoiker transformatives selbst-coaching antike selbstreflexion
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